Handbuch Ius Publicum Europaeum

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bb) Die gegenwärtigen Regelungen

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Die abstrakte Normenkontrolle bezieht sich auf die Verfassungsmäßigkeit[68] von Gesetzen und sonstigen allgemeinen Akten der Legislative und der Exekutive auf staatlicher und lokaler Ebene sowie auf die Beachtung der Normenhierarchie. Oft wird auch die konkrete Prüfung, das heißt die Vorlage durch Fachgerichte, in die Kategorie der abstrakten Normenkontrolle eingeordnet.

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Außer in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, wo die internationale Gemeinschaft sehr aktiv auf die Verfassunggebung eingewirkt hat, stellt sich die abstrakte Normenkontrolle in den in diesem Beitrag besprochenen Staaten mehr oder weniger wie im alten Jugoslawien dar. Dies bedeutet zunächst, dass unzählige Akte vom Verfassungsgericht kontrolliert werden können, sodann, dass der Zugang zu verfassungsgerichtlicher Prüfung denkbar weit gefasst ist. Abgesehen von den autorisierten Antragstellern steht es jedermann zu, eine Verfassungskontrolle anzuregen oder „vorzuschlagen“,[69] über deren Behandlung dann das Gericht entscheidet. Abgesehen davon ist eine gerichtliche Selbstbefassung vorgesehen. Die Venedig-Kommission hat allerdings kürzlich dem montenegrinischen Gesetzgeber abgeraten, die Selbstbefassung beizubehalten, weil diese das Verfassungsgericht leicht unter Druck bringen könne.[70] Nur Slowenien hat sich etwas von diesem Modell distanziert, denn erstens kann hier das Gericht nicht ex officio tätig werden und zweitens ist der Zugang des Einzelnen zur abstrakten Normenkontrolle unter die Bedingung eines persönlichen rechtlichen Interesses gestellt.[71] Der Zugang des Einzelnen zum Verfassungsgericht ist also in den ehemals jugoslawischen Ländern, wie auch zum Beispiel in Belgien,[72] nicht auf die Verfassungsbeschwerde beschränkt, sondern erstreckt sich auf die abstrakte Normenkontrolle. Dies stellt oft nicht nur eine Konkurrenz zur Verfassungsbeschwerde dar, sondern wirkt sich auch nachteilig auf den Stil der Entscheidungsbegründung aus.[73]

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Dagegen haben Bosnien-Herzegowina und der Kosovo das jugoslawische Erbe abgelehnt. Im Kosovo erstreckt sich zwar die abstrakte Normenkontrolle ebenfalls auf alle allgemeinen Akte, doch schließt die begrenzte Liste von Antragsberechtigten[74] eine Individualklage sowie das selbstständige Tätigwerden durch das Verfassungsgericht aus. Ferner sieht die kosovarische Verfassung eine kurzfristig mögliche Gesetzesprüfung auf Antrag von zehn Abgeordneten sowie die Kompetenz zur obligatorischen ex ante Prüfung von Verfassungsrevisionen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen und den Grundrechten vor. Im Vergleich dazu erscheint die bosnische abstrakte Normenkontrolle begrenzt. Explizit erwähnt die Verfassung nur Streitigkeiten zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen oder innerhalb des Zentralstaats, die Prüfung der Entitätenverfassungen und -gesetze, fügt aber hinzu, dass diese Liste nicht abschließend sei. Daraus folgt, dass das Verfassungsgericht normalerweise nur Gesetze und Verfassungen der Entitäten kontrollieren kann und nicht, wie überall sonst in den ex-jugoslawischen Staaten, alle allgemeinen Akte. Gleichwohl hat das Gericht eine Ausnahme für diejenigen untergesetzlichen Akte gemacht, die Grundrechte betreffen bzw. verletzen. Ebenso ist bei der abstrakten Normenkontrolle der Zugang zum Gericht restriktiv konzipiert, d.h. den höchsten politischen Organen vorbehalten.[75]

b) Konkrete Normenkontrolle

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Die Spezifizität der konkreten Normenkontrolle als Verfahrensart hat sich in ex-Jugoslawien nur zögernd herausgebildet. Deshalb ist es vielleicht verfehlt, die Schwierigkeiten oder die Seltenheit dieses Verfahrens lediglich auf die – problematischen – Beziehungen zwischen Verfassungsgerichten und Fachgerichten in ex-Jugoslawien zurückzuführen. Heute legen alle Verfahrensordnungen den Fachgerichten nahe, ein Verfahren auszusetzen und das Verfassungsgericht anzurufen, wenn ein in diesem Verfahren anzuwendendes Gesetz verfassungswidrig erscheint. Allerdings steht es den mazedonischen Richtern zu, die Verfassung direkt anzuwenden und insofern ein Gesetz außer Acht zu lassen.[76] In Slowenien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ist die Unterscheidung der abstrakten und konkreten Normenkontrolle klar und eindeutig vollzogen. Jedoch hat die bosnische Verfassung das Aussetzen des Verfahrens nicht als Pflicht der Fachgerichte statuiert.

c) Die Verfassungsbeschwerde

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Die Verfassungsbeschwerde oder ähnliche Verfahren existieren in allen post-jugoslawischen Ländern. Der jugoslawischen Tradition entsprechend betrifft die Beschwerde allerdings – mit der Ausnahme des Kosovo – nie allgemeine, sondern nur individuelle Akte der öffentlichen Gewalt auf staatlicher oder lokaler Ebene. Voraussetzung ist die Verletzung eines der in der Verfassung gewährten Grundrechte, wobei sich die mazedonische Beschwerde als besonders restriktiv erweist, da nur drei der vierundzwanzig Grundrechte den Zugang zum Gericht eröffnen.[77] Die Beschwerde muss zudem in engem zeitlichen Abstand[78] zur angeblich grundrechtsbeeinträchtigenden Entscheidung eingelegt werden. In Serbien und Montenegro sowie in Bosnien-Herzegowina wird die Verfassungsbeschwerde als Rechtsmittel gegen endgültige Gerichtsentscheidungen verstanden. Das Prinzip der Subsidiarität von Verfassungsbeschwerden kennt Ausnahmen vor allem bei langwierigen Verfahren,[79] um die einschlägige Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.

d) Die anderen Verfahren

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Abgesehen von der Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde ist die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts in allen hier interessierenden Ländern ebenfalls für horizontale und vertikale Kompetenzkonflikte vorgesehen. In den meisten Staaten besteht auch eine Kompetenz der Verfassungsgerichte für Anklagen gegen den Staatspräsidenten oder Wahlstreitigkeiten, etwas seltener bezüglich der Verfassungsmäßigkeit und/oder des Verbots von politischen Parteien[80] sowie zur Überprüfung von Maßnahmen, die im Notstand oder Kriegszustand getroffen werden.[81] Im Ganzen spielen diese Verfahren eine unerhebliche Rolle. Beträchtliche Bedeutung hat hingegen in Slowenien und Kroatien die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Volksentscheiden erlangt, auf die noch zurückzukommen sein wird.[82] In Bosnien-Herzegowina gibt es die meisten dieser „anderen“ Verfahren gar nicht. Dafür ist das Verfassungsgericht aber zuständig, wenn eine der bosniakischen, serbischen oder kroatischen Volksgruppen gegen einen Gesetzesentwurf ein Veto wegen Verletzung ihrer vitalen Interessen einlegt und das Parlament über das Vorliegen eines „vitalen Interesses“ keine Einigung erreicht. In diesem Fall entscheidet das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens. Dieser Rechtsweg hatte längere Zeit einen gewissen Erfolg und hat zu einer sichtbaren Verminderung der Fälle beigetragen: Das Verfassungsgericht hat nämlich seine Prüfung nicht auf das Verfahren beschränkt, sondern auch auf das Vorliegen eines vitalen Interesses erstreckt, was eine abschreckende Wirkung entfaltet hat.

e) Die Praxis der Verfahrensarten

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Ähnlich wie auch in Westeuropa stellen Individualklagen bei weitem die häufigsten Verfahren vor den Verfassungsgerichten dar. Diese machen im Durchschnitt zwischen 80% und 97% aller Fälle der Verfassungsgerichte aus und haben, ebenfalls wie in Westeuropa, nur selten Erfolg. Im Unterschied zu den meisten westeuropäischen Ländern setzen sich jedoch diese Individualklagen sowohl aus Verfassungsbeschwerden als auch aus abstrakten Normenkontrollanträgen zusammen. Die Konkurrenz beider Verfahren und deren Koordinierung würde eigentlich einen Filtermechanismus erfordern, dessen Einführung aber die Ressourcen der Verfassungsgerichte oft übersteigen würde. Vor allem das serbische und das kroatische Verfassungsgericht werden jährlich von 10.000 bzw. 6.000 Beschwerden nahezu überrollt, doch selbst in Bosnien-Herzegowina, wo die Konkurrenz von Verfassungsbeschwerde und von durch Einzelne angestrengte abstrakte Normenkontrolle nicht existiert, wird das Gericht mit ungefähr 5.000 Fällen jährlich befasst.[83]

3. Die Entscheidungen und ihre Rechtsfolgen

a) Der historische Hintergrund

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Die Urteile des jugoslawischen Bundesverfassungsgerichts unterschieden sich, je nachdem ob es sich um die Überprüfung eines Gesetzes oder anderer allgemeiner Akte handelte. Um Eingriffe des Verfassungsgerichts in die Zuständigkeiten des Gesetzgebers zu vermeiden, beschränkte sich die verfassungsgerichtliche Kompetenz bei Gesetzen auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und das Setzen einer sechsmonatigen Frist, in der das Parlament den Gesetzestext mit der Verfassung in Einklang bringen konnte. Geschah dies, so wurde das Verfahren eingestellt. Geschah dies nicht, stellte das Gericht die Untätigkeit des Gesetzgebers und das Außerkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes fest. Dies wurde von der Lehre oft kritisiert.[84] In Bezug auf die anderen allgemeinen Akte konnte das Gericht den Akt aufheben (ex nunc) oder annullieren (ex tunc). Diese Urteile waren bindend und wirkten erga omnes.

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Das Verfassungsgericht spielte sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle im Verfassungsleben und im politischen System. Es wurde oft angerufen, wenn auch selten durch die Staatsorgane, und hat infolgedessen viele Entscheidungen im Arbeitsrecht und über soziale Rechte, aber auch im Bereich von Nationalisierung, Privatisierung und Entschädigungen bei Enteignungen getroffen.[85]

 

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Die Urteile waren meist kurzgehalten, ohne auf Gegenmeinungen in der Lehre einzugehen oder sich auf theoretische Überlegungen zu stützen. Sondervoten waren zugelassen, wurden aber nicht veröffentlicht. Dem jugoslawischen Bundesverfassungsgericht wurde manchmal vorgeworfen, es habe seine eigentliche Rolle als Hüter der Verfassung nie richtig verstanden und sich auf eine eher „mechanische Prüfung“ der Verfassungsmäßigkeit zurückgezogen.[86] Dies wird ihm insbesondere im Rahmen des Krisenmanagements in den letzten Jahren des Regimes von 1989 bis 1991 vorgehalten.[87] Dabei hat es zwar die Existenz eines Rechts auf Selbstbestimmung bestätigt, ohne jedoch klarzustellen, wem dieses Recht zusteht, und eine Verfassungsänderung mit der Zustimmung aller Republiken und Provinzen gefordert. Es war sicher weise, den Auflösungsprozess den politischen Akteuren zu überlassen; dennoch hätte man gern mehr Substanzielles über das Selbstbestimmungsrecht erfahren. Insofern scheint mir die Bewertung von Čobanov zutreffend, der zufolge das Gericht zwar eine gefestigte Stellung im politischen System einnahm, seine Entscheidungen jedoch keine grundlegenden Veränderungen des Systems zu bewirken vermochten.[88]

b) Die gegenwärtigen Ausgestaltungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen

aa) Das Zustandekommen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen

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Grundsätzlich durchläuft das Verfahren der Verfassungskontrolle zwei Phasen, diejenige der Zulassung und der Entscheidung.[89] Dies gilt jedoch nur für die Länder, in denen nach jugoslawischem Vorbild der Zugang zum Gericht weit gefasst ist und deswegen zwischen Klagen von Antragsberechtigten und „Vorschlägen“ oder Anregungen von Nicht-Antragsberechtigten unterschieden wird.[90] Die Gerichte, die nur im Wege von Klagen durch berechtigte Antragsteller befasst werden können, entscheiden meist in einem einzigen Arbeitsgang. Handelt es sich dagegen um einen „Vorschlag“, so muss das Gericht in der ersten Phase entscheiden, ob es ihn zulässt oder verwirft. In diesem Zusammenhang zeichnet sich das mazedonische Gericht durch eine äußerst restriktive Praxis aus. Auch in der Phase der Entscheidungsfindung gelingt es diesem Verfassungsgericht oft, einem Rechtsakt seine Allgemeinheit abzusprechen und daher auch seine Zuständigkeit zu verneinen.[91]

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In beiden Varianten spielt der berichterstattende Richter bzw. die berichterstattende Richterin eine wichtige Rolle, da er oder sie den Fall besonders gut kennt und Zugang zu allen erheblichen Akten hat. Diese Rolle erscheint noch bedeutsamer, wenn ihm bzw. ihr auch die Formulierung des Entscheidungsentwurfs obliegt und nicht der Kanzlei überlassen ist. Er oder sie wird entweder von dem bzw. der Gerichtsvorsitzenden oder häufiger durch alphabetische Reihenfolge bestellt. In der Regel stehen ihm keine persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung; wenn der Entscheidungsentwurf in der Kanzlei ausgearbeitet wird, hat er oder sie im Allgemeinen keinen Einfluss auf die Wahl der Person, die den Entwurf ausformuliert. Gleichwohl steht es ihr bzw. ihm zu, den Entwurf zu kritisieren oder ändern zu lassen.

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Die Entscheidung kommt üblicherweise durch eine einfache Mehrheit – manchmal mit Quorumsauflagen – zustande. Doch hat es die Überlastung der Verfassungsgerichte mit sich gebracht, dass nunmehr häufig Kammern oder Panels anstatt des Plenums entscheiden. In diesem Fall werden meist qualifizierte Mehrheiten oder Einstimmigkeit gefordert.

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Die Mehrzahl der Verfassungsgerichtsgesetze oder Geschäftsordnungen lassen Sondervoten, seien sie zustimmend oder abweichend, zu und sehen deren Veröffentlichung mit dem Text der Mehrheit vor. Die Praxis der dissenting opinions ist allerdings sehr unterschiedlich. In Mazedonien sind Sondervoten fast unbekannt, in Serbien und Kroatien außergewöhnlich, im Kosovo, in Slowenien und Bosnien-Herzegowina finden sie häufigere Verwendung, ohne jedoch systematisch eingesetzt zu werden. In den multiethnischen Gerichten wirft die Entscheidung, Sondervoten zuzulassen oder nicht, ein nahezu unüberwindliches Problem auf: die Wahl eines kollegialen Modells kann auf eine Art von Diktatur der numerischen Mehrheit ohne Rücksicht auf die Gegenmeinung hinauslaufen, wenn es wegen der ethnischen Spaltung an einer „verständigungsorientierten Beratungskultur“ fehlt. Die Entscheidung für ein pluralistisches Modell lässt zwar der Minderheit mehr Ausdrucksfreiheit und damit eine Chance, andere zu überzeugen, plant aber von vornherein den Konflikt in die Gerichtsberatungen ein und trägt ihn auch nach außen, so dass die gespaltene Gesellschaft noch mehr zerrissen zu werden droht.

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Schließlich sei hinzugefügt, dass sich viele Gerichte der Region an den eingebrachten Antrag gebunden fühlen, was ihre Freiheit für eine Rechtsfortbildung erheblich einschränkt. Insofern ist die slowenische Regelung zu begrüßen, der zufolge das Verfassungsgericht nicht an den Antrag gebunden ist.[92]

bb) Die rechtlichen Wirkungen

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Im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hebt das Verfassungsgericht, wenn es der Klage stattgibt, die gerügte Entscheidung auf und verweist sie an ihren Autor zurück. Dieses Urteil wirkt also nur inter partes.

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Dagegen haben Entscheidungen, die im abstrakten Normkontrollverfahren ergehen und eine Verfassungswidrigkeit feststellen, erga omnes Wirkung, die alle Behörden verpflichtet. Die meisten post-jugoslawischen Länder ziehen eine Aufhebung (ex nunc) derjenigen einer Annullierung (ex tunc) vor. Dies ist in Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo die Regel. Sie gilt sowohl für Gesetze als auch für andere allgemeine Akte. Rückwirkende Nichtigkeit kommt vor allem in Betracht, wenn entweder der verfassungswidrige Akt beträchtlichen Schaden verursacht oder eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt. Dagegen besteht in Slowenien und Kroatien die Wahl nur im Hinblick auf allgemeine Akte, während Gesetze lediglich aufgehoben werden können, wobei das slowenische Gericht das Gesetz entweder sofort aufheben oder eine aufschiebende Wirkung vorsehen kann, um dem Gesetzgeber eine Nachbesserung zu erlauben.[93] Individualakte, die auf der Basis der aufgehobenen oder annullierten Regelung ergangen sind und ihrerseits Rechte verletzen oder Schaden verursachen, werden mit der Hauptentscheidung ungültig oder können, jedenfalls eine Zeit lang, in einem besonderen Verfahren aufgehoben werden. Inhaltlich sind natürlich vor allem Entscheidungen mit aufschiebender Wirkung interessant, da diese den Verfassungsgerichten Gelegenheit bieten, entweder selbst vorläufige Maßnahmen zu erlassen oder dem Gesetzgeber bestimmte Regelungen zu empfehlen oder sogar vorzuschreiben. Dies geschieht insbesondere in Slowenien sowie in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo.[94]

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Die Urteile der Verfassungsgerichte sind endgültig, verbindlich und vollstreckbar. Die Hauptverantwortlichkeit für die Durchsetzung wird unterschiedlich verteilt. Sie liegt teilweise bei der Regierung, teils bei der Staatsanwaltschaft oder der Institution, welche die aufgehobene Bestimmung erlassen hat. Vermutlich bleibt jedoch eine ganze Reihe von Entscheidungen unausgeführt. Die Gutachten und Empfehlungen, welche die serbischen und kroatischen Verfassungsgerichte an das Parlament bzw. die Regierung richten, um auf nicht erfolgte Durchsetzungen oder verfassungswidrige Gesetzeslücken hinzuweisen,[95] deuten darauf hin.

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Welches Bild ergibt diese Zusammenschau und wie kann es bewertet werden? Zunächst ist zu beobachten, dass Slowenien und Kroatien, die einzigen EU-Mitgliedstaaten, sich nicht durch besonders spezifische oder progressive rechtliche Regelungen auszeichnen, was wieder bestätigt, dass Normen allein nicht die Qualität eines Rechtssystems ausmachen. Sodann ist noch einmal auf das Gewicht des historischen Erbes hinzuweisen. Zum Ersten stammen viele Bestimmungen aus den alten Verfassungen; zum Zweiten ist auch die Ähnlichkeit – sowohl im Aufbau als auch in der Formulierung – zwischen den verschiedenen Texten, vor allem der Verfassungsgerichtsgesetze oder -geschäftsordnungen, verblüffend. Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, dass hier vor allem Bosnien-Herzegowina und der Kosovo „aus der Reihe tanzen“, da ihre Verfassungen unter Mitwirkung der internationalen Gemeinschaft zustande kamen.

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Schließlich sollte sowohl die Anzahl und Varietät der prüfbaren Normen als auch der Antragsteller betont werden: die post-jugoslawischen Regelungen haben sich hier weit von der kelsenianischen Idee einer auf die Gesetzgebung konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit entfernt. Diese Wahl ist wohl eher dem jugoslawischen Erbe zuzuschreiben als dem Ziel, den Übergang zu einem demokratischen System zu erleichtern. Gleichwohl wird den Verfassungsgerichten damit ein wichtiges Instrument an die Hand gegeben, um ihre Rolle und ihre Funktionen effizient wahrzunehmen und ihre Rechtsordnungen effektiv in den europäischen Rechtsraum einzubeziehen.

IV. Umfang und Grenzen des Verbunds im europäischen Rechtsraum

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Was können die ehemaligen jugoslawischen Verfassungsgerichte zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beitragen? Maßgeblich davon hängt ihre Einfügung in den europäischen Verfassungsgerichtsverbund ab. Die zunächst so schnell und scheinbar erfolgreich durchgeführte Transformation in Mittel- und Osteuropa hat sich in den letzten Jahren als ausgesprochen prekär entpuppt. In Ungarn hielt der Populismus mithilfe einer verfassungsrechtlichen Revolution Einzug, in Rumänien und Bulgarien gab die andauernde Korruption Anlass zu einem rechtsstaatlichen Monitoring durch die europäische Kommission, sodann wurde in Polen das Verfassungsgericht entmachtet und allgemein die richterliche Unabhängigkeit in Frage gestellt: dies sind die durch die Medien einer breiten Öffentlichkeit bekannten Nachrichten.[96]

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Viel weniger bekannt sind die Berichte über die wirtschaftliche und demokratische Krise in Slowenien, Kroatien und Serbien, den jugoslawischen „Lokomotiven“, ganz zu schweigen von den übrigen vier Ländern, deren demokratische Leistungen schon länger zu Skepsis veranlassen. Im Gegensatz zu Ungarn und Polen sind es nicht gesetzliche Änderungen, durch die in den zuletzt genannten drei Ländern die Krise in Erscheinung tritt. Sie manifestiert sich vielmehr leise, durch informelle Netzwerke und Verfahren, welche die offizielle Rechtsanwendung umgehen,[97] und durch die von den früheren Eliten vollbrachte Vereinnahmung des Staats[98] – ein ganz ähnlicher Vorgang wie in Putins Russland und in der Ukraine.

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Gerade deshalb sind die Verfassungsgerichte wichtige Akteure. Jedoch bleibt zu prüfen, inwiefern sie selbst von der Krise betroffen und demnach im Stande sind, eine eigenständige konstruktive Rolle wahrzunehmen. Gelingt es ihnen, sind sie willens und wenn ja, wie weit, sich für die Einbeziehung ihres Landes in den europäischen Rechtsraum einzusetzen? Und wie wirken sich solche Bemühungen auf die anderen Staatsgewalten sowie die Zivilgesellschaft aus? Diese Fragen sollen zunächst im Lichte des nationalen politischen Kräftespiels (1.), dann im weiteren Umfeld des europäischen Rechtsverbunds (2.) näher erläutert werden.