Handbuch Ius Publicum Europaeum

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bb) Was tragen die Verfassungsgerichte selbst zu ihrer Legitimation bei?

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Selbst die Verfassungsgerichte, die von sich behaupten, Kommunikationspolitik zu betreiben, erweisen sich auf dem Gebiet der öffentlichen Kommunikation als eher unprofessionell. Die Entscheidungen werden außer in Serbien zwar gewöhnlich auf den Webseiten der Gerichte veröffentlicht; auch findet man die wichtigsten Entscheidungen oft in englischer Übersetzung.[182] Sobald man jedoch Näheres über das jeweilige Gericht wissen möchte, zum Beispiel die Zahl der verschiedenen Verfahren oder Informationen zur Umsetzung der Entscheidungen, sind die Webseiten mehr oder weniger stumm. Auch Jahresberichte werden nicht systematisch veröffentlicht.

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Dazu kommen im Allgemeinen schlechte Beziehungen zur Presse. Einerseits sind die Journalisten oft schlecht ausgebildet und arbeiten für Medien, die mächtigen Eliten mit ihren eigenen Interessen gehören, andererseits verfügen die meisten Verfassungsgerichte über keinen Pressesprecher, veranstalten nur selten Pressekonferenzen und haben zum Teil die Presse ganz aus den Gerichtssitzungen ausgeschlossen.[183] Häufig hängt die konkrete Kommunikationsstrategie vom jeweiligen Gerichtsvorsitzenden ab, ist also selbst innerhalb eines Gerichts recht unterschiedlich und meistens unzureichend, da nicht vorausgedacht und -geplant.

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Das Fazit ist also recht bescheiden. In solch einem Kontext erscheint es kompliziert, sich einen Ruf als neutraler Dritter, als Hüter, Schiedsrichter oder gar Gründer einer neuen Ordnung zu machen. Schneiden hier Slowenien und der Kosovo am besten ab, so ist dennoch festzuhalten, dass auch das bosnisch-herzegowinische und in einem geringeren Umfang das kroatische Verfassungsgericht versucht haben, das politische Umfeld zur Transformation, zur Demokratisierung und zum Aufbau eines Rechtsstaates anzuhalten. Doch bleibt zu fragen, in welchem Maße sich dieses politische Verhalten auf die rechtlichen Instrumente niederschlägt und inwieweit es diesen Verfassungsgerichten gelingt, sich im europäischen Rechtsraum zu engagieren.

2. Die Rolle der Verfassungsgerichte im europäischen Rechtsverbund

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Was von den Verfassungsgerichten im Allgemeinen und insbesondere im Transformationsprozess erwartet wird, ist ein „weises“ Abwägen von Situationen und Rechten, die Umsetzung der Politik in juristische Argumentation.[184] Dies erweist sich zuweilen als ein schwieriges Unterfangen, da manche Verfassungsgerichte gar nicht daran gewöhnt sind zu argumentieren. Es ist daher erforderlich, nunmehr der Frage nach dem Wandel der Rechtskultur nachzugehen (a) sowie zu prüfen, ob und wie sich das Verhältnis zum Völkerrecht, vor allem aber zur EMRK und der EU geändert hat (b).

a) Auslegungsmethoden und juristisches Denken: zum Wandel der Rechtskultur

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Zwei eher formelle Aspekte, die aber eng mit dem substanziellen juristischen Denken zusammenhängen,[185] sollen hier als Anhaltspunkte dienen: Zunächst sind dies Art, Stil und Methoden der Auslegung, wobei es ferner interessant sein mag, zwischen der Selbstdarstellung der Arbeitsmethoden durch die Verfassungsgerichte und einer externen Beobachtung zu unterscheiden (aa). Sodann soll auch der Urteilsstil ins Auge gefasst werden, seine allgemeine Form, aber auch, wie Fakten dargestellt und inwieweit Lehrmeinungen oder Rechtsprechung anderer Gerichte zitiert werden (bb).

aa) Art, Stil und Methoden der Auslegung

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Eine dem europäischen Rechtsraum adäquate Auslegung würde erfordern, dass sich die Verfassungsgerichte nicht nur auf eine Auslegung nach dem Wortlaut beschränken, sondern auch systemische und teleologische Betrachtungen anstellen. Vor allem letztere stellen eine Brücke dar, die die Übersetzung von nichtrechtlichen Überlegungen in rechtliche fördert.[186] Teleologische Argumente erlauben die nötige Flexibilität, um neuen gesellschaftlichen Herausforderungen ohne Verfassungsänderung zu begegnen; sie sind insbesondere in der Verhältnismäßigkeitsprüfung sozusagen impliziert, denn wie kann sonst die zwingende „Notwendigkeit“ in einer demokratischen Gesellschaft beurteilt werden.

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In den post-jugoslawischen Staaten findet man dazu zahlreiche, oft widersprüchliche Äußerungen. Um mit der Selbstdarstellung zu beginnen, so sind in diesem Zusammenhang in erster Linie die Berichte zur 14.[187] und 17.[188] Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte von Interesse, von denen erstere gesetzgeberische Lücken und letztere verfassungsrechtliche Grundsätze behandeln. Daraus ergibt sich, was Gesetzeslücken betrifft, ein deutlich formalistisch-positivistisches Bild der mazedonischen, serbischen, montenegrinischen und kroatischen Gerichte, da sie im Prinzip davon ausgehen, dass allein der Gesetzgeber solche Lücken füllen kann und soll und dass sie selbst weder berufen sind, das Vorliegen einer Lücke als verfassungswidrig anzusehen noch Lücken zu füllen. Das bosnisch-herzegowinische und das slowenische Verfassungsgericht geben offener zu, dass sie manchmal solche Lücken prüfen. Vor allem wenn es zu verfassungswidrigen Konsequenzen kommt, heben sie entweder das besagte Gesetz auf oder erklären es für verfassungswidrig unter Festlegung einer Frist zur Nachbesserung.[189] Sei es weil diese Konferenz aktueller war oder weil Fortschritte für erforderlich gehalten wurden, nähert sich die Selbstdarstellung im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze jedenfalls den europäischen Standards. Alle Gerichte beteuern, dass solche Grundsätze, insbesondere Verhältnismäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Gewaltenteilung, wichtig sind und angewendet werden. Allerdings gibt es auch da Nuancen: für manche sind die Grundsätze nur eine Interpretationshilfe,[190] für andere normative Bestimmungen.[191] Das kroatische Gericht geht sogar so weit, sich als Ziel den Ausgleich zwischen den normativ vorgegebenen Werten und den positivgesetzlichen Regeln zu setzen und von einer „unvollkommenen“ Rechtsordnung zu sprechen.[192]

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Von außen betrachtet können drei Gruppen ausgemacht werden: die erste hält noch heute überwiegend an „textualistischen“ Methoden fest; die zweite zeigt eine beträchtliche Wandlung in Richtung des europäischen Rechtsraums und die dritte bewegt sich schon länger, allerdings nicht ohne Rückschläge, innerhalb dieses Raums. Zur ersten Gruppe gehören, was wenig überraschen mag, Mazedonien und Montenegro. Es ist bezeichnend, dass die Verfassungsgerichte dieser Länder die verfassungskonforme Interpretation nicht kennen. Im Übergang zur zweiten Gruppe befindet sich Serbien, wo zwar das Verfassungsgericht noch immer die textgebundene Interpretation bevorzugt, aber doch Anfänge eines Wandels zu bemerken sind: die Betonung von Grundsätzen und Werten, eine gewisse Berücksichtigung von soft law und sogar des acquis communautaire.[193] In die zweite Gruppe gehört Kroatien. Hier ist seit 2000 und noch deutlicher seit 2008 eine beträchtliche Veränderung eingetreten. Vorher scheute sich das Verfassungsgericht, die Passivität des Gesetzgebers zu rügen und sich damit in die Kompetenzen des Gesetzgebers einzumischen. Inzwischen hat sich der allgemeine Stil der Auslegung von einer „mikroskopischen“ zu einer holistischen Betrachtungsweise gewandelt: verfassungsrechtliche Grundsätze werden aufgewertet, vielleicht sogar überbewertet, die Beachtung des substanziellen Verfassungsrechts mit einem Verfassungskern sowie einer verfassungsrechtlichen Identität werden zu einem wesentlichen Anliegen des Verfassungsgerichts.[194] Zur dritten Gruppe gehören Slowenien, der Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Hier stellt der Rückgriff auf Grundsätze und Werte sowie die Betonung des substanziellen und nicht nur des formellen Verfassungsrechts schon fast eine Tradition dar, auch wenn regelmäßig Rückfälle zu verzeichnen sind und auch wenn die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu wünschen übriglässt. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass das slowenische Verfassungsgericht sich lange gesträubt hat, extra-legale Gesichtspunkte in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen,[195] dann aber doch unter dem Druck der Finanzkrise und der Drohung schwindender Regierungsstabilität zuerst akzeptierte, die Dringlichkeit einer Reform und dann auch die Glaubwürdigkeit des Staates in seine Bewertung einzuschließen.[196] Es scheut sich jedoch noch immer zu prüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen notwendig und geeignet sind. Dies kann umso mehr verwundern, als das Verfassungsgericht anderweitig die grundsätzliche Pflicht des Gesetzgebers zur Anpassung an die sozialen Verhältnisse statuiert.[197]

bb) Urteilsstil

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Alle hier behandelten Gerichte verfassen ihre Urteile in einem narrativen Stil und nicht, wie etwa in Frankreich, in der Form eines summarischen Syllogismus. Das dem Urteil zugrundeliegende Verfahren sowie die verschiedenen von den Parteien oder in öffentlichen Anhörungen vorgebrachten Argumente werden manchmal extrem zusammengefasst dargestellt, vor allem dort, wo der Zugang zum Verfassungsgericht für alle auf „Anregung“ offensteht.[198] Die Entscheidung ähnelt dann eher einem Gutachten. Sie lässt fast immer Hinweise auf Lehrmeinungen oder gar Rechtstheorie vermissen. Die Argumente erscheinen in der an der traditionellen jugoslawischen Rechtskultur festhaltenden Ländergruppe oft überraschend oder dürftig.[199] Dagegen berufen sich die kroatischen Entscheidungen zunehmend auf verfassungsrechtliche Werte, auf die Lehre oder sogar auf vergleichende Argumente. In den Ländern, in denen der Gerichtszugang strenger geregelt ist und die Rechtskultur begonnen hat, sich zu verändern,[200] fallen die Entscheidungen wesentlich ausführlicher aus. Sowohl das Verfahren als die in den Antrag eingebrachten Argumente werden im Einzelnen dargestellt; das Gericht selbst bringt schlüssigere Argumente vor, wenn auch oft ohne dogmatisch vertiefte Analyse. Das Schrifttum wird manchmal und ausländische Entscheidungen vereinzelt erwähnt.

 

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Demnach ist festzuhalten, dass die mehr oder weniger weite Öffnung des gerichtlichen Zugangs eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Mutet zwar ein weiter Zugang, der nicht nur Anträge, sondern auch „Anregungen“ vorsieht, demokratischer an, so entbindet er gleichwohl das Gericht von dem Zwang, auf die vorgebrachten Argumente detailliert einzugehen und eine überzeugende Begründung abzugeben. Dagegen nähern sich der Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien dem europäischen Rechtsraum an, indem sie Denkmuster und Standards verwenden, die im europäischen Rechtsraum gebräuchlich sind. Ist bisher keine entsprechende Entwicklung von Mazedonien, Montenegro und Serbien zu verzeichnen, so könnte sich dies jedoch unter dem Einfluss der EMRK und der EU ändern. Diese Frage soll nun untersucht werden.

b) Das Verhältnis zum Völker- und Europarecht: Umsetzungs- und Übersetzungsfunktionen[201]

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Fast alle der untersuchten Rechtsordnungen betrachten sich als monistisch,[202] sehen also das Völkerrecht als Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung an und ordnen meistens die betreffenden Normen unter der Verfassung, aber über den Gesetzen ein.[203] Die Verfassungsgerichte sind in Slowenien, Serbien und Montenegro ausdrücklich ermächtigt, die Übereinstimmung der Gesetze mit ordnungsgemäß ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen zu überprüfen, während dies in Kroatien, im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina und in Mazedonien aus der Rechtsprechung folgt. Eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Verträge ist ex ante in Slowenien und Kroatien, ex post in Serbien vorgesehen.

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Jedoch sagt dies nicht viel über die konkrete Anwendung der völkerrechtlichen Normen durch die Gerichte, namentlich die Verfassungsgerichte, aus. In dieser Hinsicht ist sowohl der Wille zur Anwendung als auch die Kenntnis der entsprechenden Normen entscheidend. Noch heute ist die Ausbildung der Richterinnen und Richter im internationalen, EMRK- und EU Recht eher spärlich.[204] Die Anwendung der EMRK rangiert weit vor der des allgemeinen Völkerrechts und sogar des EU-Rechts.

aa) Die EMRK

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Im Kosovo[205] und in Bosnien-Herzegowina[206] ist die Konvention direkt anwendbar und steht in Verfassungsrang. In beiden Verfassungen wurde dies unabhängig von der Ratifizierung der EMRK vorgesehen. In Bosnien-Herzegowina wurde außerdem zunächst eine Menschenrechtskammer[207] gebildet, die eine Art von regionalem Menschenrechtsgerichtshof darstellte und in den vielen Jahre bis zu ihrer Integration in das Verfassungsgericht zahlreiche Streitigkeiten entschieden hat. Die meisten Verfassungsbeschwerden in Bosnien-Herzegowina betreffen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK, was zur Folge hat, dass das Gericht durch zahlreiche Klagen, oft von nur geringem verfassungsrechtlichem Belang, überschwemmt wird. Viele andere Konventionsrechte, namentlich Art. 8 und 13 EMRK oder Art. 3 des 1. ZP zur EMRK, kommen ebenfalls zum Zug. Die Berufung auf das Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK hat es dem Verfassungsgericht mehrmals erlaubt, eine Beschwerde anzunehmen, obwohl der nationale Instanzenweg noch nicht erschöpft war. Dies ereignete sich insbesondere in Bezug auf die individuellen Entscheidungen des die internationale Gemeinschaft und die EU vertretenden Hohen Repräsentanten,[208] für die das Gericht zwar seine Unzuständigkeit erklärte, aber eine positive Pflicht des Staates statuierte, eine solche Prüfung zu veranlassen.[209]

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Obwohl dies nicht so in den Texten steht, prüfen auch das slowenische und das kroatische Verfassungsgericht Konventions- als Verfassungsverletzungen, so dass die EMRK dort eine quasi-verfassungsrechtliche Stellung einnimmt. All diese Gerichte beziehen sich sehr häufig auf den Text der EMRK, während die Rechtsprechung des EGMR vor allem in Kroatien noch immer Gegenstand einer „selektiven Lektüre“[210] ist. In Montenegro, Serbien[211] und insbesondere in Mazedonien[212] dominieren Zufälligkeit und Widersprüchlichkeit im Umgang mit der Rechtsprechung des EGMR. So hat beispielsweise das serbische Verfassungsgericht[213] bei dem Verbot von rassistischen Vereinen einmal die Kriterien des EGMR genau befolgt und sie ein andermal völlig außer Acht gelassen.[214] Dieses Bild wird auch von den EMRK-Statistiken bestätigt: sowohl absolut als auch in Bezug auf die Bevölkerungszahl sind und vor allem waren Klagen gegen Serbien und Kroatien zahlreicher als gegen die anderen post-jugoslawischen Staaten.[215] Was den Inhalt dieser Rechtsprechung angeht, so betreffen die Klagen, wie in den meisten anderen Staaten auch, vor allem Art. 6 und dabei insbesondere die Dauer des Verfahrens. Aber auch das Recht auf Leben gemäß Art. 2 und das Verbot der Folter nach Art. 3 EMRK, namentlich in ihren verfahrensrechtlichen Aspekten, sowie der Schutz des Eigentums nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls werden regelmäßig vor dem EGMR geltend gemacht.

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Daher ist wohl festzuhalten, dass die Umsetzungs- und Übersetzungsfunktion durch die Verfassungsgerichte im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina und Slowenien vorbildlich wahrgenommen werden, auch wenn sie nicht immer so erfolgreich sind, wie man es sich wünschen würde. Sie dienen offensichtlich dem Ansehen des EGMR, der oft mehr geschätzt wird als das nationale Verfassungsgericht. In Slowenien kam dies besonders deutlich in der Allianz zwischen dem Verfassungsgericht und dem EGMR bei der Frage der überlangen Dauer der Verfahren zum Ausdruck. Hier haben beide Gerichte erfolgreich Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt, um diesem systemischen Mangel abzuhelfen,[216] während es dem kroatischen Gericht zwar gelungen ist, die Verhältnismäßigkeitskontrolle und das Recht auf ein Verfahren in einem angemessenen Zeitraum in der Verfassung zu verankern,[217] aber davon weder eigenes Ansehen noch einen größeren Einfluss auf die Fachgerichte gewonnen hat. Insofern erscheint es auch fraglich, inwieweit die Funktionen der Rechtsschutzlückenfüllung, um europäischen Standards zur Durchsetzung zu verhelfen, und der Kontrolle durch das Konstruieren einer eigenen Verfassungsidentität und einer möglichen ultra-vires-Prüfung erfüllt werden.[218] Für die Übernahme der europäischen Standards in das innerstaatliche Rechtssystem reicht offensichtlich verfassungsgerichtlicher Aktivismus nicht aus, sondern muss durch bessere Ausbildung und Veränderungen des Rechtsverständnisses, des Rechtsbewusstseins sowie der Arbeitsbedingungen ergänzt werden. Insbesondere wäre es wichtig – und das betrifft alle hier untersuchten Länder – die Kultur der Informalität aufzugeben oder wenigstens abzuschwächen.

bb) Das EU-Recht

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Der Beitritt zur EU und die Anwendung des entsprechenden Rechts folgen einer mehr oder weniger langen Übergangsphase. In dieser Übergangsphase befinden sich alle hier untersuchten Länder außer Slowenien und Kroatien, die bereits beigetreten sind. Das wichtigste Instrument zum Zweck der Annäherung und des Beitritts sind die verschiedenen Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen.[219] Bisher sind die konkreten Auswirkungen auf die Verfassungsgerichte gering. Gleichwohl ist anzumerken, dass das Ziel der europäischen Integration den Gerichten Serbiens, des Kosovo und Bosnien-Herzegowinas besonders wichtig erscheint und manche Entscheidung motiviert. So hat beispielsweise das bosnische Verfassungsgericht ein Gesetz aufgehoben, welches die Freihandelszone im Rahmen des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens CEFTA untergraben hätte; auch hat es die Nichtdiskriminierungsgrundsätze des EuGH als geltende internationale Standards angewendet.[220]

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Es ist noch zu früh, die Auswirkungen des kroatischen EU-Beitritts von 2013 zu beurteilen, jedoch kann man feststellen, dass weder in Slowenien noch in Kroatien das Unionsrecht vor dem Beitritt – wie 2004 im Falle von Polen und der Tschechischen Republik[221] – angewendet wurde, auch wenn in beiden Ländern eine eher europafreundliche Rechtsprechung vorherrschte. Der Wandel der Rechtskultur wurde demnach nicht als so dringlich empfunden, dass man ihn hätte vorwegnehmen müssen. Im Gegenteil, das slowenische Verfassungsgericht hat sich bisweilen recht formalistisch gegen eine „voreilige“ Anwendung des Unionsrechts gewandt[222] und sich im Übergangsstadium auf eine bescheidene Rolle beschränkt, während sich das kroatische Verfassungsgericht immerhin auf eine Auslegung des nationalen Rechts im Lichte des Unionsrechts eingelassen hat.[223]

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Die verfassungsrechtliche Grundlage der Mitgliedschaft in der EU geht in Slowenien auf eine 2003 in die Verfassung eingefügte Europa-Klausel zurück, die Kompetenzübertragungen auf internationale Organisationen gestattet, sofern diese Menschenrechte, Demokratie und rechtsstaatliche Grundsätze beachten.[224] Diese Öffnung der Verfassung kann auch als verfassungsrechtlicher Vorbehalt gelesen werden. Die Kompetenzübertragung und somit der Beitritt zur EU erfolgt durch einen mit Zweidrittelmehrheit angenommenen Parlamentsbeschluss nach einem zwar fakultativen, aber bindenden Volksentscheid, in dem die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreicht. Der entsprechende Volksentscheid fand am 23. März 2003 statt und wurde von 89,61 % der gültigen Stimmen befürwortet. Die Rechtsakte und Entscheidungen völkerrechtlicher Organisationen werden in Slowenien gemäß der Rechtsordnung dieser Organisationen angewendet. Sie können also nicht durch innerstaatliche Bestimmungen geändert werden. Schließlich sieht Art. 3a der Verfassung vor, dass die Regierung die Nationalversammlung über die entsprechenden Rechtsakte oder Entscheidungen informiert und die diesbezüglichen Stellungnahmen beachtet. Das Nähere soll ein mit Zweidrittelmehrheit angenommenes Gesetz regeln. Dieses Gesetz wurde vom Nationalrat, der zweiten Kammer des Parlaments, angefochten, da es dem Nationalrat keine eigene Rolle bei der Subsidiaritätskontrolle einräumt. Das Verfassungsgericht hat diese Klage mit dem Hinweis auf Art. 3a der Verfassung, der nur die Nationalversammlung erwähnt, und auf die innerstaatliche Zuständigkeit in diesem Bereich abgewiesen.[225]

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In Kroatien wurde die rechtliche Grundlage der EU-Mitgliedschaft ausführlicher und spezifischer geregelt. Gemäß Titel VIIa der kroatischen Verfassung[226] ergeben sich die Modalitäten des Beitrittsverfahrens aus den Bestimmungen über Assoziierungen mit anderen Staaten. Sie verlangen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und einen obligatorischen Volksentscheid, bei dem die einfache Mehrheit genügt. Dieser Volksentscheid fand am 22. Januar 2012 statt und wurde von 66,3 % der gültigen Stimmen befürwortet. Die Mitgliedschaft von Kroatien in der EU soll insbesondere der Einheit Europas, einem andauernden Frieden, der Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt dienen, wobei die Grundprinzipien und -werte der Union zu beachten sind. Unter diesen Voraussetzungen – so kann man es auch hier interpretieren – überträgt Kroatien den EU-Institutionen die dafür notwendigen Kompetenzen. Art. 141b) der Verfassung ist sodann der Mitwirkung der kroatischen Bürger und Institutionen in der EU gewidmet und Art. 141c) bekräftigt die allgemeine Anwendung des acquis communautaire in Kroatien. Art. 141d) – und dies stellt eine Seltenheit dar – handelt von der Unionsbürgerschaft, indem er zunächst die daraus resultierenden Rechte den kroatischen und am Schluss auch allen anderen EU-Bürgern zusichert.

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In Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit stellen sich insbesondere Fragen zum Vorrang des EU-Rechts und/oder zum Grundrechtsschutz sowie zu einer möglichen Vorlage an den EuGH. Dazu ist insgesamt anzumerken, dass die Verfassungsgerichte in beiden Ländern keine allgemeine Dogmatik ihrer Beziehungen zur EU entwickelt haben; ihr Verhalten erscheint bislang eher reaktiv.[227]

 

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In Slowenien wird bereits seit Längerem über den Vorrang des EU-Rechts gegenüber der Verfassung diskutiert. Anscheinend stimmen die herrschende Lehre und das Verfassungsgericht heute überein, dass trotz des in Art. 3a) der slowenischen Verfassung gemachten Vorbehalts das EU-Recht Vorrang auch vor der Verfassung hat.[228] In Kroatien hat sich zwar das Verfassungsgericht seit dem Beitritt nicht zu diesem Thema geäußert, hat jedoch davor erklärt, dass die Verfassung über dem EU-Recht stehe.[229]

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Direkt damit verbunden ist das Problem des Grundrechtsschutzes. Einerseits folgt nämlich die EU-Grundrechtecharta dem Prinzip des maximalen Schutzes, demzufolge die Rechtsordnung, die den höchsten Schutz gewährt, zur Anwendung kommt. Andererseits ist aber der Anwendungsbereich der Charta in Bezug auf das Handeln der Mitgliedstaaten umstritten.[230] Das slowenische Verfassungsgericht ist davon besonders betroffen, weil auch die slowenische Verfassung den Grundsatz des maximalen Grundrechtsschutzes verankert. In seiner sogenannten JATA-Entscheidung[231] hat es eine Prüfung der Äquivalenz der betroffenen Rechte angestellt. Daraus können jedoch unterschiedliche Folgerungen gezogen werden, die bis heute nicht geklärt sind. So könnte diese Prüfung auf der einen Seite als eine Äquivalenz-Vermutung angesehen werden, die auf längere Sicht eine gewisse Prüfungsabstinenz bedeutet, auf der anderen Seite aber wäre es genauso gut denkbar, dass das Verfassungsgericht sich damit ein Fenster zu einer Identitäts- oder einer ultra vires-Kontrolle geöffnet hat.

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Was Vorlagen dieser Gerichte an den EuGH angeht, hat Slowenien das Vorlageverfahren bereits genutzt, während auch kroatische Gerichte dem Verfahren prinzipiell offen gegenüber stehen.[232] Im Zug der Finanzkrise, der Überwachung des übermäßigen slowenischen Defizits und der Umstrukturierung des Banksystems hat das slowenische Verfassungsgericht den EuGH mit interessanten Fragen im Hinblick auf die Bindungswirkung von soft law befasst.[233] Der slowenische Gesetzgeber hat nämlich in seinem Gesetz über das Bankwesen die sogenannte Bankenmitteilung der europäischen Kommission in innerstaatliches Recht umgesetzt und damit dieses soft law gehärtet. Als die Zentralbank von Slowenien dieses Gesetz anwenden und die Gläubiger verschiedener Banken verpflichten wollte, einen Teil der Schulden mitzutragen, wurde das Gesetz vor dem Verfassungsgericht angefochten. Das Parlament und die Regierung brachten vor, der Staat könne den Banken nur dann helfen, wenn dies unionsrechtlich zulässig sei, das heißt, wenn die Bankenmitteilung der Kommission befolgt würde. Das slowenische Verfassungsgericht stellte dem EuGH zunächst die Frage nach der Bindungswirkung der Bankenmitteilung gegenüber den Mitgliedstaaten, um dann Fragen nach der Unionsrechtskonformität der Bankenmitteilung, ihrem Verhältnis zum EU-Sekundärrecht, den Zuständigkeiten der Kommission und möglichen Verletzungen des Vertrauensgrundsatzes sowie des Rechts auf Eigentum anzuschließen. In seinem Urteil[234] hat der EuGH eine Bindungswirkung gegenüber den Mitgliedstaaten mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Bankenmitteilung nur als Selbstbeschränkung der Kommission bei der Ausübung ihres Ermessens zu verstehen sei. Auch hat er die Gültigkeit und Grundrechtskonformität der Mitteilung bejaht. Das slowenische Verfassungsgericht hat dieses Urteil umgehend umgesetzt,[235] aber zwei Bestimmungen des Gesetzes über das Bankwesen wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufgehoben, weil sie den Gläubigern keinen effektiven Rechtsschutz gewährten. Den Argumenten des EuGH ist das Verfassungsgericht, insbesondere hinsichtlich des Vertrauensschutzes und des Eigentumsrechts, gefolgt. Es geht sogar so weit, zu erklären, dass „das grundsätzliche Verhältnis zwischen nationalem Recht und EU-Recht zugleich ein mit Verfassungsrang bindendes verfassungsrechtliches Prinzip darstellt.“[236]

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Hat sich also die slowenische Rechtsprechung bereits mit mehreren europarechtlich relevanten Fällen auseinandergesetzt, so erweist sich das Verfassungsgericht trotzdem nicht als besonders eifriger Übersetzer und Umsetzer europäischer Standards. Im Ganzen gesehen macht seine Rechtsprechung einen eher zurückhaltenden, vielleicht sogar schüchternen Eindruck, jedenfalls was die Dogmatik anbelangt. Demgegenüber scheinen im Bereich des Unionsrechts das Sozial- und das Verwaltungsgericht proaktiver zu sein.[237]

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Kann man also zahlreiche mitunter tiefgreifende Veränderungen feststellen, so hat sich dennoch die Rechtskultur nicht entscheidend gewandelt. Die rege horizontale regionale Kooperation der Verfassungsgerichte[238] hilft hier kaum weiter; viel eher noch die intensive Zusammenarbeit mit der Venedig-Kommission und vielleicht auch die Konferenzen der europäischen Verfassungsgerichte.