Handbuch Ius Publicum Europaeum

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2. Unionsrecht (Art. 267 AEUV, Art. 47 GRC)

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Das Unionsrecht kennt in Gestalt des Art. 47 GRC parallele grundrechtliche Garantien, die auf die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Ausgestaltung Rückwirkungen haben. Art. 47 Abs. 1 GRC hat eine Entsprechung in Art. 13 EMRK, Art. 47 Abs. 2 entspricht Art. 6 EMRK und geht in seinem Schutzbereich noch über diesen hinaus.[137] Letzterer fordert gleich dem Art. 6 EMRK ein unabhängiges und unparteiliches Gericht.[138] Ohne die Schutzbereichsbeschränkungen des Art. 6 EMRK ist die Garantie auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit maßgeblich, soweit sie im Anwendungsbereich der Charta (Art. 51 GRC) entscheidet.

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Auch in prozessualer Hinsicht ist die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts von Bedeutung für das Unionsrecht. Für die Berechtigung eines Gerichts, ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV an den EuGH zu richten, ist Voraussetzung in organisatorischer Hinsicht, dass es unabhängig ist.[139] Zwar ist heute unbestritten, dass auch Verfassungsgerichte vorlageberechtigt (und auch vorlageverpflichtet) sein können.[140] Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Verfassungsgericht als Folge der Änderung der Rahmenbedingungen für seine Rechtsprechung, beginnend mit der Richterauswahl über die Ausgestaltung des Richteramtes bis hin zu seinem Verfahrens- und Organisationsrecht im Übrigen seine Unabhängigkeit verliert.

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Der EuGH hat beginnend mit einem Urteil zu Gehaltskürzungen (auch) für portugiesische Richter[141] eine auf Art. 19 EUV gestützte Rechtsprechung entwickelt.[142] Nach dieser Bestimmung schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Bei dieser Beurteilung bezieht der EuGH explizit auch die Werteklausel des Art. 2 EUV und insbesondere das Gebot der Rechtsstaatlichkeit mit ein.[143] In jüngerer Zeit wurde auf Basis der vorgenannten Rechtsprechung ein Teil der sogenannten „Justizreformen“ in Polen als unionsrechtswidrig erklärt[144] und auch in weiteren einschlägigen Verfahren dürfte ein Rückbindung an allgemeine, rechtsstaatliche Prinzipien beibehalten werden.[145]

3. Soft law aus der Praxis der Venedig-Kommission

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Jenseits vertraglicher Verpflichtungen gibt es insbesondere im Rahmen des Europarates mittlerweile einen größeren Bestand an soft law, insbesondere aus Gutachten der Venedig-Kommission „Democracy through Law“ zu Richterwahlen in konkreten Fällen einzelner Mitgliedstaaten.[146] So tritt die Venedig-Kommission regelmäßig dafür ein, dass Verfassungsgerichte ausgewogen zusammengesetzt sind. In diesem Zusammenhang empfiehlt sie die verfassungsgesetzliche Einführung einer Zwei-Drittel-Mehrheit für die Wahl der Verfassungsrichter, dies in Verbindung mit Maßnahmen gegen eine Blockierung des Verfassungsgerichts.[147] Ergänzend wurde konkret eine Wahl der Verfassungsrichter zu je einem Drittel durch das Parlament, den Staatspräsidenten und die Gerichtsbarkeit als mögliches Modell vorgeschlagen.[148]

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Auch zur Frage der Wahl des Gerichtspräsidenten äußert sich die Venedig-Kommission mit einer gewissen Präferenz dafür, dass der Präsident eines Verfassungsgerichtes von den Verfassungsrichtern selbst gewählt wird. Die Kommission räumt aber ein, dass in dieser Frage kein definitiver europäischer Standard besteht.[149]

VII. Auswahl und Bestellung der Richter des EuGH und des EGMR als Spiegel nationaler Anforderungen

1. Auswahl der Richter des EuGH

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Gleich vielen Verfassungen enthält auch das Unionsrecht Regelungen über die Qualifikation der Richter des EuGH und das Verfahren ihrer Auswahl. Nach Art. 253 AEUV sind zu Richtern und Generalanwälten des Gerichtshofs Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr der Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind. Damit werden materielle Kriterien festgelegt,[150] die naturgemäß nicht an bestimmte nationale Kategorien anknüpfen, aber doch die beiden Berufsgruppen der Richter und Professoren nahelegen, ohne eine Beschränkung auf diese zu enthalten, wie auch die Praxis der Richterwahl zeigt; insbesondere die Kategorie ehemaliger Beamter ist stark vertreten.[151] Das Schwergewicht der Betrachtung liegt hier weniger bei den materiellen Kriterien als beim Auswahlverfahren. Hier ist zum einen die Ernennung von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen, zum anderen die Anhörung des Ausschusses nach Art. 255 AEUV zu nennen. Gerade dieser Ausschuss hat bereits in den ersten Jahren erheblich zur Qualitätssicherung in der Richterauswahl beigetragen.[152]

2. Auswahl der Richter des EGMR

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Die EMRK enthält ähnliche Kriterien wie der AEUV für die Qualifikation der Richter. Nach Art. 21 EMRK müssen die Richter hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein (Abs. 1).[153] Während ihrer Amtszeit dürfen sie keine Tätigkeit ausüben, die mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Unparteilichkeit oder mit den Erfordernissen der Vollbeschäftigung in diesem Amt unvereinbar ist (Abs. 3). Anders als nach dem Unionsrecht haben die Regierungen der Mitgliedstaaten Dreier-Vorschläge zu erstatten, aus denen die Parlamentarische Versammlung einen Kandidaten auswählt. Die Kandidaten haben sich einer Anhörung vor einem ständigen 20-köpfigen Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung zu unterziehen.

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Nach dem Vorbild des Ausschusses nach Art. 255 AEUV wurde auch für den EGMR ein Beratender Ausschuss zur Prüfung der Dreier-Vorschläge geschaffen, der jedoch nicht die Parlamentarische Versammlung berät, sondern seine Stellungnahme nur den Regierungen gegenüber abgibt, bevor sie ihren Vorschlag erstatten.[154] Die Parlamentarische Versammlung ist an das Votum des Ausschusses – so sie von ihm überhaupt offiziell erfährt – nicht gebunden.

3. Schlussfolgerungen für die Betrachtung der nationalen Gerichte

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Versucht man aus der Rechtslage und Praxis auf der europäischen Ebene Schlussfolgerungen für die mitgliedstaatliche Ebene zu ziehen, so ist Vorsicht geboten. Zu unterschiedlich sind die Rahmenbedingungen, was Transparenz des Auswahlprozesses, mediale und öffentliche Kontrolle und damit zusammenhängend die Qualität der Auswahlorgane und des Verfahrens betrifft. Ansätze sachverständiger Mitwirkung bei der Auswahl finden wir in einigen Mitgliedstaaten. Wichtige Sicherungen der Qualität und Unabhängigkeit der Richter liegen jedoch auf nationaler Ebene stärker in Elementen der demokratischen Legitimation und Gewaltenteilung, welche die Verfassungen jedoch in ganz unterschiedlichen Ausprägungen garantieren.

VIII. Ziele und Prinzipien in der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Richterbestellung

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Betrachtet man die Regelungen über die materiellen Voraussetzungen und über das Bestellungsverfahren im Vergleich, so werden den einzelnen Verfassungsordnungen gemeinsame Ziele und Prinzipien der Ausgestaltung der Richterbestellung deutlich. Diese Ziele lassen sich auf zwei Abstraktionsstufen festmachen. Auf einer niedrigeren Stufe können in den verfassungsrechtlichen Regelungen und in den Ausführungsvorschriften die Elemente Erfahrung, Sachverstand, Pluralismus, und Distanz zu politischen Entscheidungsträgern genannt werden. Auf der höheren, abstrakteren Ebene sind jene Verfassungsprinzipien zu nennen, die gemeinhin mit staatlichen Organen an der Spitze der richterlichen Gewalt im Allgemeinen und mit der Verfassungsgerichtsbarkeit im Besonderen in Verbindung gebracht werden: Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung.

1. Konkrete Ziele

a) Erfahrung der Richter

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Unter den konkreten Zielen ist jenes der Erfahrung der Richter zu nennen. Die Verfassungen bringen in verschiedenen materiellen und prozessualen Voraussetzungen zum Ausdruck, dass der Verfassungsrichter um ein größeres Maß an Lebenserfahrung und Berufserfahrung verfügen soll. Im Besonderen machen dies Vorschriften über ein Mindestalter der Richter, das in der Regel von tatsächlich neu bestellten Richtern noch deutlich übertroffen wird. Im Mindestalter kombiniert mit dem Erfordernis juristischer Ausbildung und/oder juristischer Berufstätigkeit wird gleichzeitig ein größeres Maß auch an juristischer Erfahrung mit gewährleistet.

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Zu einem ähnlichen Ergebnis führen Regelungen, die nicht ein Mindestalter, sondern eine Mindestdauer juristischer Berufstätigkeit zur Voraussetzung machen. Ein deutlicher Reflex dieses Zieles zeigt sich im Übrigen im Erfordernis der Wählbarkeit für hohe bzw. höchste juristische Ämter in Art. 21 EMRK und Art. 253 Abs. 1 AEUV.

b) Rechtlicher Sachverstand

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Verfassungen und Verfassungspraxis der einzelnen Staaten machen deutlich, dass für die Tätigkeit am Verfassungsgericht ein deutlich über den Durchschnitt hinausgehender juristischer Sachverstand oder wenigstens eine Spezialisierung in den Bereichen der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts gefordert wird. Vereinzelt wird dies ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, vielfach werden aber an die Berufung von Universitätsprofessoren im Schnitt implizit Erwartungen eines weit überdurchschnittlichen Sachverstandes geknüpft. Dies führt in der Praxis zur Absicht der zur Wahl befugten Organe, die Vertretung einer bestimmten Expertise im Richterkollegium sicher zu stellen, vor allem für spezielle Bereiche wie etwa das Steuerrecht,[155] das Sozialrecht oder das Ausländerrecht.

 

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Indirekt wird der Sachverstand auch durch die Wahl von Vertretern verschiedener Berufsgruppen befördert, weil damit die Erwartung verbunden ist, dass das von diesen repräsentierte – mitunter besondere – Wissen (bzw. die Erfahrung) für das Gericht gewonnen wird.

c) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit

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Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wird zuvörderst durch die Ausgestaltung des Richteramts sowie durch die Garantien für die bereits im Amt befindlichen Richter gewährleistet. Aber auch durch das Bestellungsverfahren werden die Ziele der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit angestrebt und erreicht. Auch hier ist die Tatsache der Berufung von Professoren und Richtern, die kraft der Wissenschaftsfreiheit bzw. ihrer Stellung im bisherigen richterlichen Amt regelmäßig über ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verfügen können, ein erster Garant für ein bestimmtes Maß an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verteilung der Befugnisse zur Bestellung auf mehrere Organe ist zudem Garant für einen Ausgleich verschiedener, insbesondere weltanschaulicher Positionen, die das richterliche Vorverständnis prägen könnten.

d) Pluralismus

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Ein weiteres Ziel, das in vielen Verfassungen mittelbar oder unmittelbar zum Ausdruck kommt, ist jenes des Pluralismus. Einzelne Verfassungen enthalten ausdrückliche Anordnungen über einen Proporz der Zugehörigkeit zu bestimmten Teilen der Bevölkerung (z.B. Belgien). In anderen Staaten wird der Pluralismus auf verschiedenen Ebenen indirekt herbeigeführt und befördert. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit zwingt in vielerlei Hinsicht zu Absprachen und Kompromissen. Während zu ideologischen Ansichten naturgemäß keine bindenden Vorgaben gemacht werden können, zeigt sich ein Pluralismus auf der Ebene der juristischen Berufsgruppen. Eine jüngere Entwicklung der letzten zwanzig Jahre ist es, dass der Frauenanteil in den Verfassungsgerichten sukzessive gestiegen ist, wenngleich er in vielen Staaten noch mehr oder weniger deutlich von der Hälfte der Richter entfernt ist.

e) Distanz zu politischen Entscheidungsträgern

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Auch die Wahrung der Distanz zu politischen Entscheidungsträgern kommt in Regelungen einzelner Verfassungen zum Ausdruck, etwa in den Unvereinbarkeitsvorschriften, in Weisungsfreistellungen und negativen Voraussetzungen für die Wahl. In der Praxis ist hier sehr stark die politische und rechtsstaatliche Kultur des jeweiligen Staates maßgeblich. Der Vergleich zeigt, dass es Staaten gibt, in denen ehemalige Politiker stärker vertreten sind, während dies bei anderen Staaten – trotz vergleichbarer Kriterien in der Verfassung – kaum der Fall ist.

2. Allgemeine Verfassungsprinzipien

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Die vorgenannten Ziele stehen weder isoliert nebeneinander, noch sind sie Selbstzweck. Sie gehen vielmehr auf in verschiedenen Verfassungsprinzipien, zu denen die Verfassungsgerichtsbarkeit nach vorherrschender Meinung einen wesentlichen Beitrag leistet.

a) Rechtsstaatlichkeit

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An der Spitze der Verfassungsprinzipien ist jenes der Rechtsstaatlichkeit zu nennen. Je nach Umfang und nationalen Ausprägungen eines Rechtsstaatsprinzips ist der Bezug durch die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Kompetenzen gegeben. Auch die Qualität des Verfahrens und die Wirkungen seiner Entscheidungen sind für die Rechtsstaatlichkeit einer Verfassungsordnung unmittelbar von Bedeutung.

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Darüber hinaus sind aber auch die Zusammensetzung und die Organisationsgarantien eines Verfassungsgerichts, genauer die Qualifikation und die Unabhängigkeit seiner Richter entscheidend für das Maß an Rechtsstaatlichkeit. Die Aufgliederung in konkretere Ziele macht den Beitrag einer nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten hoch entwickelten Verfassungsgerichtsbarkeit für den Rechtsstaat insgesamt deutlich. Langjährige Erfahrung in qualifizierter juristischer Berufstätigkeit trägt zur Qualität des Gerichts bei. Kriterien sind dabei die Dauer der Tätigkeit, der Bezug zu den juristischen Fragestellungen eines Verfassungsgerichts, die Vielfalt der Tätigkeit, bei Berufsrichtern der Aufstieg in den Gerichtsinstanzen oder der Wechsel des Gerichtszweiges. Dabei ist nicht nur die Qualifikation des einzelnen Richters isoliert in den Blick zu nehmen, sondern die Zusammensetzung des Gerichts bzw. seiner Gliederungen. Ein Spruchkörper (Kammer, Senat), der überwiegend mit Beschwerden von Einzelpersonen in Grundrechtsfragen befasst ist, gewinnt an Qualität, wenn ihm neben Experten des Verfassungsrechts auch Richter oder Professoren mit strafrechtlicher, polizeirechtlicher, familienrechtlicher oder ausländerrechtlicher Spezialisierung oder wenigstens entsprechender vertiefter Erfahrung angehören. Ein Spruchkörper, der für Fragen des Steuerrechts, der Finanzverfassung, des Unions- und Völkerrechts zuständig ist, kann von Mitgliedern mit besonderer Expertise in diesem Bereich profitieren.

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Schließlich ist die Unabhängigkeit der Richter in der Perspektive entscheidend. Dazu tragen zuvörderst die Regelungen über die Ausgestaltung des Amtes bei, an zweiter Stelle das Verfahren der Auswahl. Wahlverfahren dürfen keine Abhängigkeiten schaffen, Möglichkeiten der Wiederwahl sind hier von vorneherein schädlich. Eine Rückwirkung auf die Unabhängigkeit einzelner Richter kann es auch haben, wenn diese auf Grund der Begrenzung der Amtsdauer und eines geringeren Alters, in dem sie zum Richter geworden sind, wesentlich vor dem gewöhnlichen Rentenalter aus dem Gericht ausscheiden und nicht automatisch in einen Beruf zurückkehren können, der ihnen in materieller und persönlicher Hinsicht Unabhängigkeit verschafft.

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In jedem Fall aber ist wesentlich, dass das Wahlverfahren so ausgestaltet ist, dass nicht Personen mit Nähe zu den Organen gewählt werden, deren Akte kontrolliert werden, ohne dass es Vorkehrungen für hinreichende Distanz gibt. Regelungen dieser Art bestehen in Vorgaben einer Mindestzahl von Richtern und Professoren, weil deren Unabhängigkeit in ihrem ursprünglichen Beruf institutionell und verfassungsrechtlich abgesichert ist. Soweit Verwaltungsbeamte in das Gericht berufen werden, sind Weisungs- und dauerhafte Dienstfreistellung unbedingte Voraussetzung der rechtsstaatlichen Unabhängigkeit. Einen Fremdkörper, der im Grunde nicht zur Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit passt und mit einer rechtsstaatlich geprägten Unabhängigkeit der Richter in einem Spannungsverhältnis steht, bildet (ungeachtet von Unvereinbarkeitsbestimmungen in Bezug auf Wahlämter) die ex-lege-Mitgliedschaft ehemaliger Staatspräsidenten im französischen Conseil constitutionnel.

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Im Übrigen kommt es auch hier auf das Zusammenwirken effektiver Verfassungsregeln und einer auf diese achtenden bzw. im Einzelfall auch über diese hinausgehenden Verfassungskultur an. Eine Verfassungspraxis, welche die oft aus anderen Zeiten stammenden Regeln bis an die Grenzen ausreizt, kann das verfassungsrechtliche Ziel der Sicherung des Rechtsstaates durchaus verfehlen.

b) Demokratische Legitimation

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Die demokratische Legitimation ist ein verfassungsrechtlicher Grundsatz, der in den Zuständigkeiten zur Richterwahl unmittelbar deutlich wird. Abweichend von der Ernennung der Richter der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in der weit überwiegenden Zahl der Fälle das Parlament zur Wahl entweder ausschließlich oder für die Mehrheit Richter zuständig. Auch dort, wo Regierungen Einfluss auf die Richterbestellung haben, ist eine mittelbare demokratische Legitimation gegeben. Am stärksten verdünnt ist die (personelle) demokratische Legitimation in den (allerdings den Ausnahmefall bildenden) Fällen der Selbstergänzung des Gerichts und der ex-lege-Mitgliedschaft ehemaliger Staatspräsidenten, wurden letztere zwar vom Volk gewählt, aber nicht für die Mitgliedschaft eines judizierenden Verfassungsorgans gewählt, die überdies nicht zeitlich begrenzt ist und daher (auch in der Praxis) über Jahrzehnte währen kann.

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Hinsichtlich Ausmaß und Art der demokratischen Legitimation gibt es Stufungen. Zum ersten sind sie im erwähnten Ausmaß parlamentarischer Beteiligung zu finden. Zum zweiten finden sich unterschiedliche Quoren für die Wahlen. Qualifizierte Mehrheiten von drei Fünfteln bis hin zu zwei Dritteln stellen in vielen Fällen sicher, dass nicht Parteigänger einer einfachen Regierungsmehrheit in das Gericht gewählt werden, sondern sichern der Opposition ein Mitspracherecht zu und zwingen zum Kompromiss.

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Schließlich hat die Amtsdauer Einfluss auf die demokratische Legitimation. Kürzere Amtszeiten erhöhen zwar die demokratische Legitimation, verringern aber die rechtsstaatlich gebotene Unabhängigkeit. Insoweit erscheint es vorzugswürdig, dem rechtsstaatlichen Ziel der Unabhängigkeit den Vorrang vor der (allzu) regelmäßigen Erneuerung der demokratischen Rückbindung zu geben.

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Ambivalent ist in dieser Perspektive die Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten zu betrachten. In den europäischen Gerichtshöfen werden diese, ebenso wie die Kammerpräsidenten, durch die Richter des Gerichts gewählt. Dieses Vorgehen ist bei einem internationalen oder supranationalen Gericht wohl alternativlos, jedenfalls aber offensichtlich die angemessenste Lösung, zumal Aspekte demokratischer Legitimation in verfassungsrechtlichem Sinn ohnehin in den Hintergrund treten.[156] Auf verfassungsrechtlicher Ebene vermittelt die Wahl durch das Richterkollegium jedenfalls nicht ein höheres Maß an demokratischer Legitimation, möglicherweise aber an richterlicher Unabhängigkeit für das Kollegium insgesamt. Innergerichtlich gilt es zu differenzieren und wird es von konkreten personellen Konstellationen abhängen, inwieweit die Wahl durch das Richterkollegium (in regelmäßig kürzeren Abständen) andere Abhängigkeiten befördert oder abbaut.