Handbuch Ius Publicum Europaeum

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5. Subsidiarität des Organstreitverfahrens

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Die besondere Stellung des Kompetenzstreits unter den verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten wird ferner daran sichtbar, dass eine Reihe von Verfassungsgerichtsgesetzen die Durchführung eines besonderen Vorverfahrens verlangen, bevor eine Entscheidung des Verfassungsgerichts in der Sache zulässig ist. So muss in Spanien nach Art. 73 LOTC das Organ, das sich durch den Akt eines anderen Organs in seinen Kompetenzen verletzt fühlt, dieses förmlich von seinem Standpunkt in Kenntnis setzen und es auffordern, die angegriffene Maßnahme zurückzunehmen. Erst wenn das angegangene Organ die Rücknahme ablehnt oder innerhalb eines Monats nach Empfang der Notifikation nichts unternimmt, kann der Konflikt vor das Verfassungsgericht gebracht werden.

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Die Durchführung eines solchen Vorverfahrens ist auch im russischen Verfassungsprozessrecht vorgeschrieben.[120] Ferner ist sowohl in horizontalen wie in vertikalen Kompetenzstreitigkeiten die Möglichkeit der Durchführung eines Schlichtungsverfahrens vor dem Staatspräsidenten vorgesehen (Art. 85 Abs. 1 russische Verfassung). Ob diese Zuständigkeit des Präsidenten, die Ausfluss seiner konstitutionellen Rolle als Garant der Verfassung ist (Art. 80 Abs. 2 russische Verfassung), in Streitigkeiten zwischen den Organen der Zentralstaatsgewalt, bei denen er als Träger der Exekutivgewalt selbst zu den (potentiell) Betroffenen gehört, sinnvoll ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Um sicherzustellen, dass das Verfassungsgericht nicht ohne Not in politische Streitigkeiten verwickelt wird, enthält das Verfassungsgerichtsgesetz schließlich eine allgemeine Subsidiaritätsklausel, die einen Antrag auf Entscheidung im Kompetenzstreitverfahren für unzulässig erklärt, wenn der Konflikt auf andere Weise entschieden worden ist oder entschieden werden kann.[121]

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Eine vergleichbare Subsidiaritätsklausel enthält das italienische Verfassungsgerichtsgesetz zwar nicht, aber auch nach italienischem Recht sind die prozeduralen Hürden für die verfassungsgerichtliche Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten höher als in anderen Verfahrensarten. So gibt es nur im Kompetenzkonflikt zwischen den Staatsgewalten gemäß Art. 37 Abs. 3, 4 des italienischen VerfGG ein Vorverfahren, in dem die Corte costituzionale die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs prüft.[122] Etliche Klagen scheitern bereits in diesem Stadium.[123] Der Beschluss, mit dem das italienische Verfassungsgericht die Zulässigkeit des Antrags bestätigt, entfaltet allerdings keine Bindungswirkung für das spätere Verfahren in der Hauptsache.[124] Der Charakter des Organstreits als Parteiprozess zeigt sich darin, dass die Klage mit Zustimmung der anderen Verfahrensbeteiligten in jeder Lage des Verfahrens zurückgenommen werden kann.[125] Anders als im Kompetenzkonflikt zwischen Staat und Regionen,[126] hat der Gesetzgeber die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Organstreitverfahren nicht vorgesehen.

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Der praktische Stellenwert des Organstreitverfahrens hängt ferner davon ab, wie das Verhältnis zu anderen verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten, insbesondere zur Normenkontrolle, ausgestaltet ist. Da Übergriffe in den Kompetenz- und Funktionsbereich anderer Organe auch durch Setzung von Normen erfolgen können, die mit der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung nicht in Einklang stehen, wird der Organstreit eines wesentlichen Teils seiner Effektivität beraubt, wenn er nicht auch zur Korrektur solch tendenziell sehr weitreichender – weil nicht auf den Einzelfall beschränkter – Kompetenzverletzungen eingesetzt werden kann.

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Dennoch lassen Gesetzgebung und Rechtsprechungspraxis eine große Zurückhaltung gegenüber der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen im Wege des Kompetenz- bzw. Organstreits erkennen. Ausdrücklich festgeschrieben ist der Vorrang des Normenkontrollverfahrens in Art. 94 Abs. 2 des russischen VerfGG. Danach kann die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Normativakts, der Gegenstand eines Kompetenzkonflikts ist, im Hinblick auf den Inhalt der Norm, die Form, das Verfahren der Unterzeichnung des Normativakts, seines Erlasses, seiner Veröffentlichung oder seines Inkrafttretens nur auf der Grundlage einer gesonderten Vorlage und in Übereinstimmung mit dem Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normativakten erfolgen.

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Auch ohne Normierung einer solchen Vorrangregelung kann sich ein faktischer Vorrang der Normenkontrolle aus der großzügigen Ausgestaltung ihrer prozessualen Voraussetzungen ergeben. So steht das Antragsrecht im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle in vielen Ländern nicht mehr nur den obersten Staatsorganen, sondern auch parlamentarischen und politischen Minderheiten und zum Teil sogar Mitgliedern der Öffentlichkeit zu (siehe oben Rn. 19 ff.). Damit schwindet aber auch die Attraktivität des – überdies häufig restriktiv ausgestalteten – Organstreitverfahrens in Fällen, in denen die Kompetenzstreitigkeit auf einen Normativakt oder ein Rechtsinstrument zurückgeführt werden kann.[127]

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In den meisten Ländern hat der Gesetzgeber von einer Klärung des Verhältnisses zwischen Organstreit und Normenkontrolle abgesehen. Das spanische Tribunal constitucional hat zu der Frage, ob auch eine gesetzliche Regelung zum Gegenstand eines Kompetenzkonflikts gemacht werden kann, nicht abschließend Stellung genommen, jedoch darauf hingewiesen, dass die verfahrensrechtliche Ausgestaltung dieses Instruments seine praktische Eignung zur Abwehr von Kompetenzverletzungen durch Akte des Gesetzgebers als fraglich erscheinen lasse.[128]

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Nach der Rechtsprechung der italienischen Corte costituzionale kann der Erlass eines Gesetzes oder einer Vorschrift mit Gesetzeskraft grundsätzlich nicht zum Gegenstand eines Kompetenzkonflikts gemacht werden, weil darin eine Abkehr von dem für das italienische System des Verfassungsgerichtsschutzes prägenden Grundsatz der inzidenten Normenkontrolle liege.[129] Eine Ausnahme soll im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nur in Fällen gelten, in denen sich die Durchführung einer inzidenten Normenkontrolle als schwierig oder unmöglich erweist oder zu spät kommen würde, um eine irreversible Beeinträchtigung des antragstellenden Organs zu verhindern.[130]

6. Entscheidungswirkungen

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Bei der Regelung der Entscheidungsbefugnisse des Verfassungsgerichts im Organstreitverfahren stellt sich vor allem die Frage, ob diese Befugnisse auch die Kompetenz zu kassatorischer Entscheidung umfassen oder auf eine reine Feststellungsentscheidung beschränkt sein sollen. Für die Zuerkennung kassatorischer Befugnisse spricht, dass auch ein Akt, der „bloß“ in die verfassungsmäßigen Kompetenzen eines anderen Staatsorgans eingreift, einen verfassungswidrigen Akt darstellt, der aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit aus der Welt geschafft werden muss. Andererseits könnte die Autorität des Verfassungsgerichts, die durch seine Einschaltung in politischen Konflikten – und um solche wird es sich bei Verfassungsstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen häufig handeln – bereits auf die Probe gestellt wird, einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt werden, wenn es durch die Aufhebung der kompetenzwidrigen Maßnahme in einen unmittelbaren Gegensatz zu dem obersten Staatsorgan gebracht wird, das Urheber der fraglichen Maßnahme ist. Hier ließe sich argumentieren, dass diese zusätzliche Belastung unnötig ist, da sich aus der Feststellungsentscheidung in Verbindung mit dem Rechtsstaat ohnehin die verfassungsrechtliche Verpflichtung des unter Überschreitung seiner Kompetenzen handelnden Organs ergibt, die verfassungswidrige Maßnahme zurückzunehmen bzw. nicht an ihr festzuhalten.

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Die Verfassungsgerichtsgesetze sehen hier unterschiedliche Lösungen vor. So stellt das spanische Verfassungsgericht nach Art. 75 LOTC fest, welchem Organ die umstrittene Kompetenz zusteht, und erklärt zugleich alle Akte, die auf der Grundlage der verfassungswidrigen Kompetenzanmaßung vorgenommen wurden, für nichtig. Ganz ähnlich besteht auch in Italien die stattgebende verfassungsgerichtliche Entscheidung im Organstreitverfahren aus zwei Teilen: der Feststellung, welches Organ Träger der bestrittenen Zuständigkeit ist, und der Aufhebung des angegriffenen Aktes.[131]

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Die Entscheidungsbefugnis des BVerfG im verfassungsrechtlichen Organstreitverfahren ist demgegenüber schon nach dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG auf eine Feststellungsentscheidung beschränkt. Das Gericht entscheidet danach im Organstreitverfahren über die Auslegung des Grundgesetzes, auch wenn diese Auslegung nicht abstrakt, sondern immer nur im Hinblick auf die Besonderheiten des konkreten Streitfalles erfolgen kann. § 67 Satz 1 BVerfGG hält sich daher durchaus im Rahmen der grundgesetzlichen Vorgaben, wenn er anordnet, dass das BVerfG in seiner Entscheidung feststellt, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt.[132] Die Entscheidung hat dagegen keine wie auch immer geartete rechtsgestaltende Wirkung. Das Gericht kann weder die vom Antragsteller angegriffene Maßnahme aufheben noch ihre Nichtigkeit feststellen.[133] Ebenso wenig kann es den Antragsgegner zur Vornahme oder zur Unterlassung einer Maßnahme verurteilen.[134] Vielmehr geht der Gesetzgeber im Hinblick auf die Bindung aller Staatsorgane an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) davon aus, dass der Antragsgegner auch ohne Vollstreckungsdruck die notwendigen Konsequenzen aus der verfassungsgerichtlichen Feststellung der Grundgesetzwidrigkeit seines Verhaltens ziehen wird.[135]

 
IV. Individualbeschwerde: die Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit?

1. Verfassungsrechtliche Individualbeschwerde als Herzstück des Individualrechtsschutzes

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Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist heute in der öffentlichen Wahrnehmung eng mit ihren Funktionen im Bereich des Schutzes der von der Verfassung garantierten Grund- und Menschenrechte verknüpft. Die normative Bindungswirkung der verfassungsrechtlich geschützten Grund- und Menschenrechte als unmittelbar anwendbares Recht und damit ihre Heranziehung als Prüfungsmaßstab bei der Wahrnehmung der den Verfassungsgerichten zugewiesenen Kontrollbefugnisse ist jedenfalls im europäischen Rechtsraum, nicht zuletzt unter dem Einfluss der EMRK, Allgemeingut. Sie nehmen daher mittlerweile als Prüfungsmaßstab auch in den objektivrechtlich konzipierten verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten wie namentlich der (abstrakten und konkreten) Normenkontrolle einen herausragenden Platz ein, wie das französische Beispiel in besonders spektakulärer, aber keineswegs singulärer Weise belegt (siehe oben Rn. 14).

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Dennoch entspricht der Idee des Grundrechtsschutzes in besonderer Weise eine Ausgestaltung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens, welche die durch eine behauptete verfassungswidrige Maßnahme in ihren Grundrechten betroffenen Personen berechtigt, eine Überprüfung des fraglichen Aktes selbst herbeizuführen und als Partei im verfassungsgerichtlichen Verfahren aufzutreten. Dementsprechend werden unter dem Begriff „Individualbeschwerde“ im Folgenden alle verfassungsgerichtlichen Verfahren zusammengefasst, die von den Grundrechtsträgern selbst initiiert werden können und primär den Schutz ihrer durch die Verfassung geschützten Grund- und Menschenrechte vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt zum Ziel haben.

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Die wachsende Bedeutung der Individualbeschwerde als verfassungsgerichtliche Verfahrensart hat unmittelbare Auswirkungen auf das Verhältnis der (spezialisierten) Verfassungsgerichtsbarkeit zu den Fachgerichten. Denn der Schutz der Rechte des einzelnen ist ein zentraler Bestandteil der Rechtsschutzfunktion der Fachgerichte, unabhängig davon, ob diese Rechte aus der Verfassung oder aus einfachem Gesetz abgeleitet werden. Der Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Schutz der individuellen Rechte ist zum Teil in den nationalen Verfassungen ausdrücklich als Grundrecht verankert.[136] Wird dieser Rechtsschutz ergänzt und verstärkt durch ein besonderes Verfahren zum Schutz individueller Rechte vor dem Verfassungsgericht, so stellt sich die Frage nach der Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, die in anderen Verfahrensarten, in denen das Verfassungsgericht über ausschließliche Zuständigkeiten verfügt, wie im Organstreitverfahren oder im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Sie hat unmittelbare Bedeutung für die Ausgestaltung des Verfahrens der Individualbeschwerde (vgl. unten 5.).

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Der Schutz individueller Rechte durch die ordentlichen Gerichte hat in vielen Ländern eine lange Tradition, die der Entstehung einer spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit oft vorausliegt und zum Teil dazu beigetragen hat, die Schaffung einer solchen Institution als überflüssig erscheinen zu lassen. Der Individualrechtsschutz spielte bereits bei der Etablierung der US-amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit eine zentrale Rolle. Formal wird die strikt subjektivrechtliche Interpretation des Rechtsschutzauftrags der amerikanischen Gerichte auf das „case or controversy“ Erfordernis in Art. III der Bundesverfassung gestützt, das nach ständiger Rechtsprechung die Zuständigkeit der Gerichte auf die Entscheidung konkreter Rechtsstreitigkeiten im kontradiktorischen Verfahren einschränkt. Die Klagebefugnis setzt daher nach der Rechtsprechung voraus, dass die klagende Person eine persönliche, individuelle und unmittelbare Rechtsverletzung geltend macht.[137] In der Begründetheitsprüfung wird dann geprüft und entschieden, ob die angegriffene Maßnahme unzulässigerweise in die geltend gemachten individuellen Rechte eingreift. Im Falle der Feststellung eines Verfassungsverstoßes gewähren die Gerichte im Rahmen ihrer gesetzlichen und gewohnheitsrechtlichen Befugnisse Abhilfe, wie z.B. durch Erlass eines Feststellungsurteils (declaratory relief), die gerichtliche Anordnung, ein grundrechtsbeeinträchtigendes Verhalten zu unterlassen (injunctive relief), oder durch Zuspruch von Schadensersatz (damages). Erst im Laufe der Zeit haben zunächst der Gesetzgeber[138] und später auch der US Supreme Court selbst[139] spezielle constitutional remedies entwickelt.[140]

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Auch in Lateinamerika hat der Grundrechtsschutz als Kernkompetenz der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine lange Tradition. Hier stellt das amparo-Verfahren in vielen Ländern das traditionelle Verfahren zum Schutz der wichtigsten Individualrechte einschließlich der verfassungsrechtlichen Grundrechte dar und war als solches schon vor der Einführung spezialisierter Verfassungsgerichte nach dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil des prozessualen Instrumentariums der ordentlichen Gerichte.[141] Die Zuständigkeit zum Schutz der Grundrechte im amparo-Verfahren haben die ordentlichen Gerichte auch dort behalten, wo in den letzten Jahrzehnten eine stärkere Zentralisierung verfassungsgerichtlicher Funktionen erfolgt ist, wie etwa in Mexiko[142] oder Kolumbien.[143] Die Entscheidungen im amparo-Verfahren unterliegen der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof im allgemeinen oder spezialgesetzlich vorgeschriebenen Rechtsbehelfsverfahren.[144]

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In Europa gehörten Österreich-Ungarn und die Schweiz zu den Staaten, welche die verfassungsrechtliche Individualbeschwerde der Sache nach bereits im 19. Jahrhundert kannten. So gehörte zu den Zuständigkeiten des Reichsgerichts in der Habsburgermonarchie neben der Entscheidung über Kompetenzkonflikte und über Ansprüche im Verhältnis der Glieder des Reichs zum Reich und untereinander auch die Entscheidung über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte.[145] In der Schweiz wurde mit der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 die Möglichkeit geschaffen, das Schweizerische Bundesgericht direkt mit Beschwerden betreffend die Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger zu befassen. Diese verfassungsrechtliche Neuerung führte zur Schaffung eines spezifischen Rechtsbehelfs, der „staatsrechtlichen Beschwerde“ (recours de droit public), die es den Betroffenen ermöglichte, vor dem Bundesgericht die Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte geltend zu machen. Diese frühe Form der Individualbeschwerde zeichnete sich zum einen durch ihren weiten Anwendungsbereich und zum anderen durch die großzügige Regelung der dem Bundesgericht in diesem Verfahren zur Verfügung stehenden Abhilfemöglichkeiten aus. Mit ihr konnten nicht nur Einzelakte der Verwaltung und Gerichtsurteile, sondern auch generell-abstrakte Rechtsakte unter Einschluss der Gesetze angegriffen werden. Gelangte das Bundesgericht zum Ergebnis, dass der fragliche Akt die verfassungsmäßigen Rechte verletzte, war er nicht auf eine deklaratorische Entscheidung beschränkt, sondern konnte den angefochtenen Einzelakt oder (kantonalen) Gesetzgebungsakt aufheben.[146]

2. Hauptformen der Individualbeschwerde im europäischen Rechtsraum

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In den verschiedenen Systemen der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie sich in Europa im 20. Jahrhundert entwickelten, stand der Individualrechtsschutz hingegen zunächst nicht im Vordergrund. Die Zuständigkeit des Reichsgerichts zur Entscheidung über Individualbeschwerden wegen Verletzung verfassungsgemäßer politischer Rechte wurde gerade nicht in die Liste der Kompetenzen des 1920 neu geschaffenen österreichischen Verfassungsgerichtshofs übernommen. Vielmehr lag, dem normtheoretischen Ansatz der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung entsprechend, der Schwerpunkt der Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofs auf der Normenkontrolle. Mit diesem Ansatz wäre eine Individualbeschwerde gegen Normen zwar durchaus vereinbar gewesen. Der ursprünglich geringe Stellenwert des Individualrechtsschutzes in diesem stark objektivrechtlich ausgerichteten System der Verfassungskontrolle zeigte sich aber darin, dass es über ein halbes Jahrhundert dauern sollte, bis tatsächlich die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze in das Spektrum der verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten aufgenommen wurde.[147]

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Auch in den (west-)europäischen Ländern, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit, teils in Anlehnung an das österreichische Modell, einführten, spielte die Individualbeschwerde als spezifische verfassungsgerichtliche Verfahrensart zum Schutz der Grundrechte zunächst eine untergeordnete Rolle. In Italien ist die Individualbeschwerde bis heute weder in der Verfassung noch in den gesetzlichen Regelungen zum Verfassungsgerichtshof vorgesehen. Nur über das Verfahren der konkreten Normenkontrolle hat der Einzelne die Möglichkeit, die Überprüfung einer möglicherweise verfassungswidrigen Norm durch den Gerichtshof zu erreichen. Er bleibt dabei aber immer darauf angewiesen, eine Richterin oder einen Richter zu finden, der gewillt ist, die Norm vorzulegen.[148]

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Auch in der Bundesrepublik Deutschland, in der die Verfassungsbeschwerde im Verlauf der kommenden Jahrzehnte eine herausragende Bedeutung erlangen sollte, war sie ursprünglich im GG gar nicht vorgesehen, sondern wurde zunächst als „weitere Zuständigkeit“ im Sinne des Art. 93 Abs. 2 GG lediglich im BVerfGG verankert. Verfassungsrang erhielt sie erst zwei Jahrzehnte später, als Gegengewicht zur Notstandsverfassung, die in der Bevölkerung Ängste vor einer Rückkehr zu „Weimarer Verhältnissen“ auslöste.[149]

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Seit den siebziger Jahren gewann die Individualbeschwerde als verfassungsgerichtliche Verfahrensart langsam an Bedeutung. Mitte der siebziger Jahre wurde in Österreich[150] die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze eingeführt, und wenige Jahre später wurde eine an das deutsche Vorbild angelehnte Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo) in die neue spanische Verfassung aufgenommen.[151] Aber erst mit dem Ende des Kalten Krieges konnte sich die Individualbeschwerde fest im Arsenal der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit verankern. Im Zuge der Transformation der mittel- und osteuropäischen Staaten und unter dem Einfluss der EMRK wurde sie zu einem wichtigen Instrument der neu entstehenden Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Dieser Prozess setzte sich auch nach der Jahrhundertwende fort: 2010 wurde das Recht auf Verfassungsbeschwerde in die Verfassung der Türkei aufgenommen,[152] 2012 führte der verfassungsändernde Gesetzgeber in Österreich die Individualbeschwerde gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen ein. Häufig waren die entsprechenden Reformen vom Ziel getragen, den Anforderungen der EMRK an einen effektiven innerstaatlichen gerichtlichen Rechtsschutz der Konventionsrechte besser Rechnung zu tragen und künftige Verurteilungen in Straßburg zu vermeiden.[153] Der Einfluss der EMRK zeigt sich dabei nicht nur in der Grundsatzentscheidung für die Einführung des Rechtsbehelfs der Individualbeschwerde, sondern auch in der Ausgestaltung des Verfahrens (Verfahrensgegenstand, Beschwerdebefugnis, Prüfungsmaßstab, Rechtswegerschöpfung).

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Nicht alle europäischen Länder wurden von dieser Reformbewegung in gleicher Weise erfasst. Die Einführung einer verfassungsgerichtlichen Individualbeschwerde war nur ein, wenn auch besonders wichtiger Weg, um die Stellung des Einzelnen im System des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes zu stärken. Ein alternativer Weg war der Ausbau der konkreten Normenkontrolle durch die Stärkung der Rechte der Parteien des Ausgangsrechtsstreits im Vorlageverfahren bzw. die Ausgestaltung dieses Verfahrens als Beschwerdeverfahren. Dieser Weg wurde in Portugal beschritten. Art. 280 der portugiesischen Verfassung sieht eine Beschwerdemöglichkeit in zwei Fallgestaltungen vor. Wenn ein einfaches Gericht eine Norm aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit im konkreten Fall nicht anwendet, kann neben der Staatsanwaltschaft auch die im Rechtsstreit unterlegene Partei Beschwerde einlegen (Art. 280 Abs. 1 lit. a)). Gleiches gilt, wenn eine Norm angewendet wurde, obwohl ihre Verfassungswidrigkeit in dem Verfahren vor dem einfachen Gericht angegriffen wurde (Art. 280 Abs. 1 lit. b)). Die Beschwerdebefugnis der unterlegenen Partei hängt hier davon ab, dass sie bereits im einfachgerichtlichen Verfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm ordnungsgemäß gerügt hat (§ 72 Abs. 2 des portugiesischen VerfGG). Ferner ist die Beschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig (§ 70 Abs. 2 des portugiesischen VerfGG). In der Literatur wird hervorgehoben, dass durch diese prozessuale Ausgestaltung das ursprünglich objektive Normenkontrollverfahren stark auf den subjektiven Rechtsschutz hin ausgerichtet worden ist.[154]

 

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Noch spektakulärer ist die Entwicklung der (konkreten) Normenkontrolle zu einem Instrument des Individualrechtsschutzes in Frankeich verlaufen. Der Schutz der Grundrechte spielte im System der Verfassungskontrolle, das die französische Verfassung von 1958 errichtete, zunächst praktisch keine Rolle. Die Grundrechte waren nicht einmal Prüfungsmaßstab im Verfahren der (präventiven) Normenkontrolle. Erst durch die Entscheidung „Liberté d’association“ von 1971 bezog der Conseil constitutionnel in einem kühnen Akt der Rechtsfortbildung,[155] in der gleichzeitig auch ein Akt der eigenmächtigen Kompetenzerweiterung lag, die in der Präambel der Verfassung von 1958 in Bezug genommenen Rechteerklärung – die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789 und die Präambel der Verfassung von 1946 – in den „bloc de constitutionnalité“ ein, an dessen Maßstab er die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überprüft.[156] Ein Recht des Einzelnen, ein Verfahren der Normenkontrolle zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit in Gang zu setzen, war damit nicht verbunden. Ein solches Recht konnte nur durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschaffen werden. Eine solche Reform wurde aus Anlass des 200. Jahrestages der großen Erklärung von 1789, der vor dem Hintergrund einer epochalen Zeitenwende in Europa stattfand, die erstmals ganz Europa im Zeichen der revolutionären Ideale von 1789 zu vereinen schien, zwar intensiv diskutiert, aber letztlich doch nicht umgesetzt.[157] Es mussten fast weitere zwei Jahrzehnte vergehen, ehe der verfassungsändernde Gesetzgeber 2008 die Reformvorschläge wieder aufgriff und die Kompetenzen des Conseil constitutionnel um die Zuständigkeit zur konkreten Normenkontrolle in Gestalt der question prioritaire de constitutionnalité erweiterte.

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Die besondere Finalität dieses Verfahrens ist schon im Wortlaut des neuen Art. 61-1 französische Verfassung angedeutet, demzufolge die konkrete Normenkontrolle durch die im Rahmen eines anhängigen Rechtsstreits aufgestellte Behauptung, dass eine gesetzliche Bestimmung die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten verletzt, in Gang gesetzt wird. Es soll in diesem Verfahren, anders als bei der präventiven Normenkontrolle, nicht um die Frage der Verfassungsmäßigkeit im allgemeinen, sondern (nur) um die Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf diejenigen Verfassungsbestimmungen gehen, die „Rechte und Freiheiten“ schützen. Diese grundrechtsschützende Stoßrichtung der „question prioritaire de constitutionnalité“ wird durch die §§ 23-1 bis 23-12 des französischen VerfGG, welche die Modalitäten der Durchführung der konkreten Normenkontrolle regeln, weiter konkretisiert. Danach obliegt es den Parteien des Ausgangsrechtsstreits bzw. der beschuldigten Person im Strafverfahren, die Unvereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit den Grundrechten im Wege der Berufung oder Beschwerde gegen eine erstinstanzliche Gerichtsentscheidung gelten zu machen, in der die fragliche Bestimmung angewendet worden ist. § 23-1 des französischen VerfGG verbietet dem Berufungs- bzw. Beschwerdegericht ausdrücklich, die Frage der Grundrechtswidrigkeit eines Gesetzes von Amts wegen aufzuwerfen. Die Kontrolle über die Einleitung des Normenkontrollverfahrens liegt also allein bei den Parteien des Ausgangsrechtsstreits, nicht bei den Gerichten.[158]

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Diese üben vielmehr eine (freilich wichtige) Filterfunktion aus, indem sie prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Vorlage an den Conseil constitutionnel erfüllt sind: die angegriffene gesetzliche Bestimmung muss in dem anhängigen Rechtsstreit anwendbar sein bzw. die Grundlage des laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bilden, sie darf nicht bereits im Wege der präventiven Normenkontrolle oder in einem anderen konkreten Normenkontrollverfahren vom Verfassungsrat formell (d.h. im Tenor und nicht nur in den Gründen der Entscheidung) für verfassungsgemäß erklärt worden sein, und ihre Verfassungsmäßigkeit muss erhebliche Fragen aufwerfen. Der Filtermechanismus ist zweistufig ausgestaltet: sofern nicht die Frage der Verfassungsmäßigkeit erstmals im Revisionsverfahren vor der Cour de Cassation bzw. dem Conseil d’État aufgeworfen wird, muss das Berufungs- bzw. Beschwerdegericht entscheiden, ob die genannten Voraussetzungen vorliegen, und die Frage bejahendenfalls in einem begründeten Beschluss an das höchste Gericht seiner Gerichtsbarkeit verweisen. Die Cour de Cassation bzw. der Conseil d’État prüft dann abschließend, ob die Frage an den Conseil constitutionnel vorzulegen ist. Die Kriterien für diese Prüfung sind dieselben, die das überweisende Gericht angewendet hat, mit einer Modifikation: es kann die Frage der Verfassungsmäßigkeit dem Verfassungsrat auch dann vorlegen, wenn die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmungen zwar keine erheblichen (schwierigen) Fragen, wohl aber neue, noch nicht geklärte Fragen aufwirft (§ 23-4 des französischen VerfGG). Eine Berufungs- oder Beschwerdemöglichkeit gegen die Ablehnung der Vorlage durch die Cour de Cassation bzw. den Conseil d’État ist nicht gegeben.

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Wird hingegen vorgelegt, so rückt die Partei des Ausgangsrechtsstreits, welche die Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmung aufgeworfen hat, auch im Rahmen des Vorlageverfahrens vor dem Conseil constitutionnel in eine Parteistellung ein. Dieses Verfahren ist kontradiktorisch ausgestaltet und wird zwischen der Prozesspartei, welche die Frage der Verfassungsmäßigkeit im Ausgangsverfahren aufgeworfen hat, und dem von der Regierung zur Verteidigung der Verfassungsmäßigkeit der gerügten Gesetzesbestimmung bestellten Vertreter ausgetragen. § 23-10 des französischen VerfGG sieht vor, dass der Prozesspartei die Gelegenheit gegeben werden soll, im Rahmen einer mündlichen Anhörung vor dem Conseil constitutionnel die Argumente, die aus ihrer Sicht für den Grundrechtsverstoß der gerügten Bestimmung sprechen, vorzutragen. Erstmals haben damit auch die Grundrechtsberechtigten die Möglichkeit, in einem Verfahren vor dem Conseil constitutionnel aufzutreten bzw. sich dort anwaltlich vertreten zu lassen.[159] Im Hinblick auf diese klägerfreundliche Ausgestaltung des Vorlageverfahrens erscheint es durchaus gerechtfertigt, von einer Kombination von Gesetzesverfassungsbeschwerde und konkreter Normenkontrolle bzw. von einer Gesetzesverfassungsbeschwerde im Gewande der konkreten Normenkontrolle zu sprechen.

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Diese neue Verfahrensart hat in Frankreich einen geradezu spektakulären Aufschwung genommen. In den ersten zwei Jahren nach Inkrafttreten der Ausführungsregelungen vom 1. März 2010 bis zum 1. November 2012 ergingen bereits 287 Entscheidungen des Conseil constitutionnel in der neuen Verfahrensart. In einem Viertel der vorgelegten Fälle stellte der Conseil constitutionnel die partielle oder vollständige Verfassungswidrigkeit der angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen fest, in weiteren 14 Prozent wurde die Verfassungsmäßigkeit nur unter dem Vorbehalt der verfassungskonformen Auslegung („conformité sous réserve“) festgestellt.[160] Die Einführung der subjektivrechtlich ausgerichteten Normenkontrolle in Frankreich hat ferner rasch Beachtung im Ausland gefunden, insbesondere in den Ländern im Maghreb und im Nahen Osten, die sich im Gefolge des arabischen Frühlings um die Verbesserung des Rechtsschutzes der Bürgerinnen und Bürger durch die Einführung oder Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit bemühten.[161]