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5.2.2 Probleme und Grenzen von klassischen Verfahren der Jahresabschlussanalyse

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Probleme der klassischen Jahresabschlussanalyse ergeben sich also aus der Notwendigkeit, Kennzahlen mehr oder weniger subjektiv auszuwählen, zu gewichten und zusammenzufassen: Bei der herkömmlichen Jahresabschlussanalyse ist die Auswahl der Kennzahlen als subjektiv zu bezeichnen, weil der Analyst gemäß seiner eigenen Erfahrung eine Auswahlentscheidung trifft. Dieses Problem lässt sich auch nicht durch die Anwendung eines allgemein bekannten Kennzahlensystems beheben, da sich der Analyst (auch) subjektiv zwischen vordefinierten subjektiv gebildeten Kennzahlenkatalogen entscheidet. Damit wird das Objektivierungsprinzip verletzt, weil bei der herkömmlichen Jahresabschlussanalyse keine objektiven Verfahren verwendet werden (können), um die für das Urteil relevanten Kennzahlen auszuwählen, zu gewichten und zusammenzufassen.

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Die üblichen Kennzahlen der klassischen Jahresabschlussanalyse sind nicht darauf angelegt, bilanzpolitische Maßnahmen zu neutralisieren; bei ihrer Verwendung geht der Bilanzanalytiker zumeist implizit davon aus, dass keine Bilanzpolitik vom Bilanzierenden gemacht wird.[113] Ein auf diese Weise gewonnenes Ergebnis der klassischen Jahresabschlussanalyse wäre indes durch bilanzpolitische Maßnahmen verfälscht, sofern das zu analysierende Unternehmen das Bild seiner wirtschaftlichen Lage durch bilanzielle Ansatz- und Bewertungswahlrechte, Ermessensspielräume sowie durch bilanzpolitisch motivierte Sachverhaltsgestaltungen (sog. financial engineering) geschönt oder auch verschlechtert hat.[114] Das Neutralisationsprinzip wird verletzt.

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Die mit der klassischen Jahresabschlussanalyse gewonnenen Teilurteile über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage können zudem widersprüchlich sein, wenn diese Teilurteile über ein und dasselbe Unternehmen teils eine bestimmte gute Teillage und teils eine andere bestimmte schlechte wirtschaftliche Teillage indizieren. Mit Hilfe einiger weniger ausgesuchter Kennzahlen kann der Bilanzanalytiker zwar auf einfache Weise ein subjektives Vor-Urteil bilden. Dabei ist indes nicht sichergestellt, dass alle für das Urteil relevanten Kennzahlen in seine Beurteilung einbezogen werden. Dem Ganzheitlichkeitsprinzip wird also nicht entsprochen. Somit ist nicht gewährleistet, dass sämtliche für eine Beurteilung der Existenzgefährdung des Unternehmens tatsächlich und empirisch relevanten Kennzahlen ausgewählt worden sind.[115]

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Der Jahresabschluss als Informationsbasis für die klassischen Verfahren der Jahresabschlussanalyse ist zumindest bei Kapitalgesellschaften leicht verfügbar, weil diese zur Offenlegung ihres Jahresabschlusses verpflichtet sind. Die Daten können indes nicht direkt aus dem Jahresabschluss für die Kennzahlenberechnung verwendet werden. Sie müssen zunächst aufbereitet werden (vgl. Rn. 161 f.). Der Aufwand für die Datenaufbereitung sollte mit dem Informationsnutzen aus der Analyse verglichen werden, um die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens zu wahren.

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Die klassische Jahresabschlussanalyse ist vergangenheitsorientiert, weil das Urteil mit den gesetzlich vorgeschriebenen vergangenheitsbezogenen Jahresabschlüssen gebildet wird. Die Aussagekraft der Jahresabschlussanalyse wird darüber hinaus geschmälert, wenn die Jahresabschlüsse – wie häufig in der Praxis – erst Monate nach dem Bilanzstichtag vorgelegt werden.[116] Vor diesem Hintergrund ist die Erfüllung des Frühzeitigkeitsprinzips in Frage zu stellen (vgl. Rn. 106).

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Um alle diese Mängel der herkömmlichen Jahresabschlussanalyse zu vermeiden, sind Analyseverfahren entwickelt worden, die mit einer sehr großen Zahl an Jahresabschlüssen von solventen und von später insolventen Unternehmen sowie mit bilanzpolitik-konterkarierenden Kennzahlen die Lage des Unternehmens an typischen Kennzahlenmustern von später insolvent werdenden Unternehmen beurteilen. Damit steht die sog. „moderne“ Jahresabschlussanalyse zur Verfügung, mit der aktuelle Jahresabschlüsse auf die derzeitige und künftige Bestandsfestigkeit des betreffenden Unternehmens geprüft werden können. In der Folge werden die modernen Verfahren der Bilanzanalyse vorgestellt. Zu prüfen ist, ob bei diesen Verfahren die in Rn. 102 ff. genannten Anforderungen erfüllt werden.

5.3 Moderne Verfahren der Jahresabschlussanalyse

5.3.1 Überblick

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Unter „modernen“ Verfahren der Jahresabschlussanalyse werden Bilanzratingsysteme verstanden, bei denen die Kennzahlen zur Beurteilung der (Bilanz-)Bonität von Unternehmen mit Hilfe von empirisch-statistischen Verfahren aus einem großen Katalog (auch von bilanzpolitik-neutralisierenden) Kennzahlen als die typischen Kennzeichen für Bestandsfestigkeit ausgewählt und gewichtet werden. Ziel dieser Verfahren ist es, die aktuelle wirtschaftliche Lage und auch die künftige wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens auf Basis einer Zeitreihe von dessen letzten Jahresabschlüssen zu beurteilen. Mit Hilfe der Verfahren soll eine Aussage zum Ausmaß der Existenzgefährdung eines jeden Unternehmens gemacht werden.[117]

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Da die im Jahresabschluss dargestellte wirtschaftliche Situation des Unternehmens durch bilanzpolitische Maßnahmen beeinträchtigt sein kann, ist generell zu versuchen, die genutzten Ansatz- und Bewertungswahlrechte, Sachverhaltsgestaltungen und Ermessensspielräume durch die Bildung sog. „intelligenter“ Kennzahlen zu neutralisieren. Die Kennzahlen werden hierzu nach dem Prinzip „Creative accounting needs creative analysing“[118] modifiziert, d.h. dass möglichst alle denkbaren bilanzpolitischen Maßnahmen konterkariert werden.[119]

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Als mathematisch-statistische Verfahren wurden zur Entwicklung der modernen Verfahren der Jahresabschlussanalyse u.a. die Multivariate Diskriminanzanalyse, die Künstliche Neuronale Netzanalyse und die Logistische Regression mit großem Erfolg eingesetzt. Im Gegensatz zur klassischen Jahresabschlussanalyse werden die Auswahl, die Gewichtung und die Zusammenfassung einzelner Kennzahlen zu einem Gesamturteil bei der modernen Jahresabschlussanalyse nicht subjektiv durch den Jahresabschlussanalytiker vorgenommen, sondern anhand der Auswertung tausender Jahresabschlüsse mit empirisch-statistischen Verfahren. Auf diese Weise lassen sich die typischen Kennzahlenmuster von mehr oder weniger bestandsgefährdeten Unternehmen schon Jahre vor einer Insolvenz aus dem Jahresabschluss des noch als solvent geltenden Unternehmens erkennen.

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Eine große Zahl von Jahresabschlüssen von gesund gebliebenen Unternehmen und von kranken, d.h. von bis zu drei Jahren später insolvent gewordenen Unternehmen bildet die Datenbasis für die Verfahren der modernen Jahresabschlussanalyse. Aus der Datenbasis werden Kennzahlenfunktionen extrahiert, mit deren Hilfe krisenfrüherkennende Kennzahlenmuster die Existenzgefährdung eines Unternehmens frühzeitig, d.h. aus Jahresabschlüssen viele Jahre vor der Insolvenz, anzeigen. Die aus dieser Art der Analysen gewonnenen Kennzahlenfunktionen basieren auf der Identifikation jener Kennzahlenmuster, die später insolvent werdende Unternehmen kennzeichnen. Die auf diese Weise gewonnenen Kennzahlenfunktionen werden auf zur Analyse vorgelegte Jahresabschlüsse von Unternehmen angewandt. Mit der Kennzahlenfunktion wird geprüft, ob und wieweit bei ihnen solche die Insolvenzgefahr anzeigenden Kennzahlenmuster vorliegen. Die modernen Verfahren der Jahresabschlussanalyse weisen im Vergleich zur klassischen Jahresabschlussanalyse eine wesentlich geringere Fehlerwahrscheinlichkeit bei der Klassifikation in bestandsfeste und existenzgefährdete Unternehmen auf.[120]

5.3.2 Multivariate Diskriminanzanalyse

176

Die Multivariate Diskriminanzanalyse ist ein Verfahren zur Analyse von Gruppenunterschieden, also im hier interessierenden Fall von Unterschieden zwischen solventen und (von mehr oder weniger) insolvenzgefährdeten Unternehmen. Das Verfahren ermöglicht also, die solventen von den insolvenzgefährdeten Unternehmen anhand von mehreren Merkmalsvariablen, z.B. anhand von den ermittelten (und gewichteten) Jahresabschlusskennzahlen (multivariat) mit nur einem Trennwert (Diskriminanzwert als verdichteter Wert der zusammengefassten Merkmalsvariablen) zu unterscheiden. Ist mithilfe der Multivariaten Diskriminanzanalyse eine sog. Diskriminanzfunktion ermittelt worden, lassen sich Unternehmen, deren Jahresabschlüsse nicht bei der Diskriminanzanalyse verwendet worden sind, gut auf ihre Bestandsfestigkeit beurteilen. Mit dem ermittelten Trennwert der Diskriminanzfunktion können also bestandsfeste von existenzgefährdeten Unternehmen anhand der als relevant ermittelten Jahresabschlusskennzahlen separiert werden.[121]

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Die Entwicklung einer multivariaten Diskriminanzfunktion umfasst fünf Schritte:


1. Im ersten Schritt wird die Datenbasis, bestehend aus einer Vielzahl von Jahresabschlüssen gesunder und kranker (später insolventer) Unternehmen, per Zufallsauswahl auf zwei Stichproben, nämlich auf die Lernstichprobe und auf die Kontrollstichprobe, verteilt. Die Lernstichprobe dient der Ermittlung der Diskriminanzfunktion.
2. Daraufhin wird ein großer Kennzahlenkatalog (unter Einbeziehung der bilanzpolitik-konterkarierenden „intelligenten“ Kennzahlen) auf Basis der Jahresabschlussinformationen definiert.
3. Im dritten Schritt wird eine Diskriminanzfunktion ermittelt, d.h. mit der Diskriminanzanalyse wird identifiziert, welche Kennzahlen aus dem ursprünglichen sehr großen Kennzahlenkatalog in welcher Gewichtung die Unternehmen der Lernstichprobe am besten in solvente und insolvenzgefährdete trennen. D.h. mit der Multivariaten Diskriminanzanalyse werden die Kennzahlen ausgewählt, gewichtet und schließlich zu einer Diskriminanzfunktion zusammengefasst (vgl. Abb. 13).
4. Im vierten Schritt wird der kritische Trennwert (Cut-off) ermittelt, anhand dessen die Gruppen der solventen und der später insolventen Unternehmen voneinander getrennt werden können.
5.

178

 

Abb. 13: Allgemeine Formel zur Berechnung des Diskriminanzwertes[123]


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179

Die an der Kontrollstichprobe getestete und für gut befundene Diskriminanzfunktion lässt sich dann nutzen, um Unternehmen anhand ihrer Jahresabschlüsse im Hinblick auf ihre Bonität zu beurteilen. Die Verwendung der Multivariaten Diskriminanzfunktion setzt eigentlich voraus, dass die Kennzahlen in der Diskriminanzfunktion normalverteilt, multivariat trennfähig und voneinander unabhängig sind. Ferner müssen die Varianz-Kovarianz-Matrizen der bestandsfesten und der existenzgefährdeten Unternehmen gleich sein.[124] In empirischen Studien von Niehaus, Feidicker und Hüls konnten indes auch dann sehr gute Trennergebnisse zwischen bestandssicheren und existenzgefährdeten Unternehmen erzielt werden, wenn nicht sämtliche dieser Voraussetzungen erfüllt waren.[125]

5.3.3 Logistische Regressionsanalyse

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Die Logistische Regressionsanalyse ist ein mathematisch-statistisches Verfahren zur Bestimmung von Gruppenzugehörigkeitswahrscheinlichkeiten. So kann mit der Logistischen Regressionsanalyse beispielsweise die Wahrscheinlichkeit für die Insolvenz eines Unternehmens in Abhängigkeit von verschiedenen Einflussgrößen (z.B. Jahresabschlusskennzahlen) berechnet werden. Sie ermöglicht – anders als die Multivariate Diskriminanzanalyse – nicht nur, die Einflussgrößen auf eine Unternehmensinsolvenz zu bestimmen und diese Einflussgrößen zu gewichten, vielmehr kann mit Hilfe der Logistischen Regressionsanalyse auch die Eintrittswahrscheinlichkeit für eine Insolvenz bestimmt werden.[126]

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Die Logistische Regressionsanalyse erfolgt in zwei Schritten:


1. Die latente Variable Z stellt den linearen Zusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen (den Kennzahlenwerten) her. Die latente Variable entsteht aus der Addition der gewichteten Kennzahlenwerte.
2.

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Abb. 14: Insolvenzwahrscheinlichkeit gemäß Logistischer Regressionsanalyse


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183

Im Vergleich zur Multivariaten Diskriminanzanalyse gilt die Logistische Regressionsanalyse als robuster, weil sie an weniger enge Voraussetzungen gebunden ist (Variablen müssen beispielsweise nicht normalverteilt sein), um gute Klassifikationsleistungen zu erzielen.[128] Weitere Vorteile der Logistischen Regressionsanalyse sind ihre hohe Transparenz und ihre einfache Interpretierbarkeit.[129]

5.3.4 Künstliche Neuronale Netzanalyse

184

Die Künstliche Neuronale Netzanalyse ist eine Technik der Künstlichen Intelligenz.[130] Mit der Künstlichen Neuronalen Netzanalyse können Muster in Datenmengen erkannt werden. Die Mustererkennung kann u.a. dazu eingesetzt werden, Kombinationen von Kennzahlen auf der Basis einer Vielzahl von Jahresabschlüssen von Unternehmen zu ermitteln, die eine Unterscheidung zwischen bestandsfesten und existenzgefährdeten Unternehmen erlauben.[131]

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Das Künstliche Neuronale Netz ist ein Abbild (Modell) des biologischen neuronalen Netzes. Ähnlich wie ein biologisches neuronales Netz besteht auch ein Künstliches Neuronales Netz aus Modellzellen (Neuronen), die in Schichten angeordnet miteinander verbunden sind. Die Verbindungen zwischen den Neuronen im biologischen Netz, die sog. Synapsen, werden im Künstlichen Neuronalen Netz durch Verbindungsgewichte dargestellt. Je stärker ein Verbindungsgewicht ist, desto bedeutender sind die Informationen, die zwischen den verbundenen Neuronen fließen. Abhängig von den vorzugebenden Lernregeln werden diese Gewichte während einer Lernphase durch die „gesammelten Erfahrungen“ beim Training des neuronalen Netzes mit den Kennzahlen von gesunden und kranken Unternehmen modifiziert. Die Lernregeln schreiben dem Netz vor, wie es lernen soll, aus einer bestimmten Eingabe die gewünschte Ausgabe zu erzeugen, z.B. zu ermitteln, ob es sich bei den verarbeiteten Jahresabschlusskennzahlen um solche eines gesunden oder eines kranken Unternehmens handelt.[132]

186

Wird die Künstliche Neuronale Netzanalyse zur Ermittlung von Jahresabschlusskennzahlen-Symptom-Mustern zur Erkennung von Unternehmenskrisen eingesetzt, besteht die Netzeingabe aus Kennzahlenausprägungen jener Unternehmen, deren Jahresabschlüsse als Trainings- bzw. als Lern-Stichprobe zufällig ausgewählt wurden. Die Netzausgabe (N-Wert) ist in diesem Fall ein Bonitätsindex. Welche Kennzahlen in den N-Wert mit welchem Gewicht eingehen, lernt das Künstliche Neuronale Netz anhand einer großen Zahl von Jahresabschlussdaten der solventen sowie der später insolvent gewordenen Unternehmen, die in das Netz immer wieder zum Training eingegeben werden. Analysen im Bereich der Früherkennung von Unternehmenskrisen mithilfe von Jahresabschlusskennzahlen haben ergeben, dass Drei-Schichten-Netze mit einer Eingabeschicht, einer versteckten Schicht und einer Ausgabeschicht bei der empirisch-statistischen Jahresabschlussanalyse die besten Klassifikationsergebnisse liefern.[133] Die Neuronen in der Eingabeschicht nehmen die Informationen auf und geben sie weiter. In der versteckten Schicht werden die Informationen verarbeitet und an die Ausgabeschicht weitergeleitet, welche das Ergebnis der Informationsverarbeitung ausgibt (vgl. Abb. 15).

187

Abb. 15: Aufbau eines dreischichtigen Künstlichen Neuronalen Netzes[134]


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Der Entwicklungs-Datenbestand an Jahresabschlüssen der Unternehmen wird zur Analyse mittels Künstlicher Neuronaler Netzanalyse in die Trainings-, die Test- und die Validierungsstichprobe aufgeteilt. Anhand der Kennzahlen aus den Jahresabschlüssen der Trainingsstichprobe lernt das Künstliche Neuronale Netz, die relevanten Kennzahlen auszuwählen und zu gewichten. Die Klassifikationsleistung, welche durch die richtige Klassifikation von bestandsfesten bzw. existenzgefährdeten Unternehmen definiert ist, wird an der Teststichprobe überprüft. Die Kennzahlen werden dem Künstlichen Neuronalen Netz so häufig zum Lernen präsentiert, bis sich die Klassifikationsleistung nicht mehr verbessern lässt. Die mit Hilfe der Künstlichen Neuronalen Netzanalyse gefundene und gewichtete Kennzahlenkombination wird an einer dritten Stichprobe, der Validierungsstichprobe, endgültig überprüft.[135]

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Die Künstliche Neuronale Netzanalyse setzt – wie alle mathematisch-statistischen Verfahren – voraus, dass ein umfangreicher Bestand an Jahresabschlüssen gesunder und kranker Unternehmen zur Verfügung steht. Im Vergleich zur Multivariaten Diskriminanzanalyse hat die Künstliche Neuronale Netzanalyse den Vorteil wesentlich schwächerer Anwendungsvoraussetzungen (z.B. müssen die Kennzahlenausprägungen nicht normalverteilt sein). Auch kann mit der Künstlichen Neuronalen Netzanalyse – wie mit der nicht-linearen Diskriminanzanalyse – eine nicht-lineare Trennfunktion ermittelt werden.[136] Ein weiterer Vorteil der Künstlichen Neuronalen Netzanalyse ist, dass neben den quantitativen Daten der Jahreskennzahlen auch qualitative Daten leicht simultan verarbeitet werden können.[137]

5.3.5 Baetge-Bilanz-Rating als modernes Verfahren der Jahresabschlussanalyse

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Ein konkretes Bsp. für ein Künstliches Neuronales Netz ist das Backpropagation-Netz[138] BP-14, welches später in Baetge-Bilanz-Rating (BBR) umbenannt wurde. Das BBR wurde mit Hilfe der künstlichen neuronalen Netzanalyse entwickelt. Für die Entwicklung des BBR standen 11 427 Jahresabschlüsse[139] zur Verfügung, wovon 10 515 Jahresabschlüsse von solventen und 912 Jahresabschlüsse von später insolvent gewordenen Unternehmen stammten.[140] Der Entwicklung des Baetge-Bilanz-Rating lag in der Ausgangssituation ein Kennzahlenkatalog mit 259 teilweise Bilanzpolitik neutralisierenden (kreativen) Kennzahlen zugrunde. Nachdem bei Voranalysen 50 Kennzahlen aufgrund von Hypothesenverstößen eliminiert werden konnten, wurden durch zahlreiche Lern-, Test- und Validierungsphasen und durch den Einsatz diverser Pruning-Methoden jene Kennzahlenkombinationen identifiziert und kombiniert, die eine stabile und sehr wenig fehleranfällige Klassifikation der Unternehmen erlaubt.[141]

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Aus den verbliebenen 209 Kennzahlen hat sich durch das Lernen des Künstlichen Neuronalen Netzes eine Kennzahlenkombination von 14 Kennzahlen als besonders trennfähig erwiesen (vgl. Tab. 1). Durch diese 14 Kennzahlen wurden im Verlaufe des Lernens des Künstlichen Neuronalen Netzes acht Informationsbereiche[142] abgedeckt, welche sich einer der drei Teillagen (Vermögens-, Finanz- und Ertragslage) der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens zuordnen lassen. Die 14 Kennzahlen werden gewichtet und zu einer einzigen Kennzahl, dem N-Wert, aggregiert. Der N-Wert ist ein Maß für die Existenzgefährdung eines Unternehmens.[143]

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Tab. 1: Kennzahlen des BBR[144]
Bezeichnung Informationsbereich Teillage Definition
Kapitalbindungsdauer1 Kapitalbindungsdauer Vermögenslage ((Akzepte + Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen) × 360) / Gesamtleistung
Kapitalbindungsdauer2 ((Akzepte + Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen) × 360) / Umsatz
Kapitalbindung Kapitalbindung (Kfr. Bankverbindlichkeiten + kfr. Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen + Akzepte + kfr. Sonstige Verbindlichkeiten) / Umsatz
Fremdkapitalquote Verschuldung (Kfr. Fremdkapital – erhaltene Anzahlungen) / Bilanzsumme
Fremdkapitalstruktur (Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen + Akzepte + Bankverbindlichkeiten) / (Fremdkapital – erhaltene Anzahlungen)
Eigenkapitalquote1 Kapitalstruktur (Wirtschaftliches Eigenkapital – immaterielle Vermögensgegenstände) / (Bilanzsumme – immaterielle Vermögensgegenstände – flüssige Mittel – Grundstücke und Bauten)
Eigenkapitalquote2 (Wirtschaftliches Eigenkapital + Rückstellungen) / (Bilanzsumme – flüssige Mittel – Grundstücke und Bauten)
Finanzkraft1 Finanzkraft Finanzlage Ertragswirt. Cashflow / (Fremdkapital – erhaltene Anzahlungen)
Finanzkraft2 Ertragswirt. Cashflow / (Kfr. Fremdkapital – mfr. Fremdkapital – erhaltene Anzahlungen)
Anlagendeckung Deckungsstruktur Wirtschaftliches Eigenkapital / (Sachanlagevermögen – Grundstücke und Bauten)
Umsatzrentabilität Rentabilität Ertragslage Ordentliches Betriebsergebnis / Umsatz
Cashflow1-ROI Ertragswirt. Cashflow / Bilanzsumme
Cashflow2-ROI (Ertragswirt. Cashflow + Zuführungen zu den Pensionsrückstellungen) / Bilanzsumme
Personalaufwandsquote Aufwandsstruktur Personalaufwand / Gesamtleistung

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Anhand des N-Wertes lässt sich nicht nur zweiwertig herleiten, ob ein Unternehmen existenzgefährdet ist oder nicht. Es sind auch differenzierte Aussagen über die Bestandsfestigkeit des betrachteten Unternehmens möglich. Der N-Wert kann auf einer Skala Werte zwischen -10 (sehr hohe Existenzbedrohung) und +10 (ausgezeichnete Bestandssicherheit) annehmen. Die Skala ist in sechs Güteklassen und vier Risikoklassen unterteilt. Letztere geben den Grad der Existenzgefährdung eines Unternehmens an. Je kleiner der N-Wert, desto gefährdeter ist die Existenz des Unternehmens. Durch eine Beobachtung der N-Wert-Entwicklung eines Unternehmens im Zeitablauf können auch allmählich sich entwickelnde Existenzgefahren identifiziert werden.[145] Wenn also der N-Wert eines Unternehmens im Intervall von -2 bis -10 liegt, ist von einer zunehmend drohenden Unternehmenskrise auszugehen (vgl. Tab. 2).[146]


Tab. 2: N-Wert und Grad der Bestandssicherheit/Existenzgefährdung[147]
N-Wert Klasse Grad der Bestandssicherheit/Existenzgefährdung
10 – 8 Güteklasse Ausgezeichnete Bestandssicherheit
8 – 6 Sehr gute Bestandssicherheit
6 – 4 Gute Bestandssicherheit
4 – 2 Befriedigende Bestandssicherheit
2 – 0 Ausreichende Bestandssicherheit
0 bis -2 Kaum ausreichende Bestandssicherheit
-2 bis -4 Risikoklasse Leichte Existenzgefährdung
-4 bis -6 Mittlere Existenzgefährdung
-6 bis -8 Hohe Existenzgefährdung
-8 bis -10 Sehr hohe Existenzgefährdung

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Wie treffsicher die modernen Verfahren der Bilanzbonitätsanalyse und der Krisenfrüherkennung sind, zeigt die folgende Tab. 3. Am Institut für Revisionswesen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster konnte nachgewiesen werden, dass das BBR in der Lage ist, existenzgefährdete Unternehmen zuverlässig und frühzeitig (d.h. Jahre vor der Insolvenz) zu identifizieren.[148] Beispielsweise wurde das BBR in den 1990er Jahren dazu verwendet, die Jahresabschlüsse der umsatzstärksten Unternehmen aus den Wirtschaftszweigen Industrie, Handel und Dienstleistung auf deren Bestandsfestigkeit zu untersuchen. Die Leistungsfähigkeit bezüglich der Frühwarnung vor Krisen durch das BBR ist bereits im Jahr 1996 in einem DB-Artikel dokumentiert.[149] Tab. 3 umfasst einige der auf der Grundlage des BBR frühzeitig erkannten Unternehmenskrisen. Beispielsweise konnte mit Hilfe des BBR bereits 1995 erkannt werden, dass die Existenz des Philipp Holzmann Konzerns stark gefährdet war, obwohl dieser erst im Jahre 1999 endgültig insolvent wurde.[150]

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Tab. 3: Frühzeitig mit dem BBR erkannte Unternehmenskrisen[151]
Unternehmen Jahresabschluss N-Wert (Manifeste) Krise Veröffentlichung
Philipp Holzmann 1995 -3,30 November 1999 Der Betrieb August 1996
Pittler 1992 -4,30 Januar 1997
Traub 1992 -8,20 Oktober 1996
KHD 1993 -1,80 Mai 1996
Gebr. März 1994 -1,90 Februar 1996

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Das BBR erlaubt nicht nur, das Bestandrisiko eines Unternehmens als Ganzes in einem Top-down-Ansatz zu ermitteln, sondern mithilfe der speziell für das BBR entwickelten sog. Fragengeleiteten Ursachenanalyse und der Individuellen Sensitivitätsanalyse ist auch ein Rückschluss auf die möglichen Krisenursachen eines Unternehmens möglich. Die Ursachenanalyse lässt sich mit Hilfe einer Fragenpyramide darstellen (vgl. Abb. 16).

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