Magie am Hof der Herzöge von Burgund

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1.2.2. Der politische Prozess und das Majestätsverbrechen im späten Mittelalter

Politische Prozesse begegnen dem Historiker in der Regel als besonderes Aufsehen erregende und skandalöse Verfahren, bei denen die hervorgebrachten Vorwürfe oft den eigentlichen, politisch motivierten Hintergrund zu verschleiern scheinen.77 Für das Frankreich des späten Mittelalters denkt man dabei unweigerlich an den von Philipp dem Schönen gegen die Templer angestrengten Prozess, der schließlich zur Aufhebung dieses Ritterordens führte. Auch der Prozess gegen Johanna von Orléans, die 1430 festgenommen und in einem kirchlichen Verfahren wegen Vergehen gegen die majesté divine zum Tode verurteilt wurde, wird in der Forschung, aber auch bereits von den Zeitgenossen gemeinhin als politisch motivierter Prozess angesehen.78 Neben diesen beiden Beispielen können noch zahlreiche weitere Fälle aufgezählt werden.79 Dabei muss allerdings konstatiert werden, dass der Begriff »politischer Prozess« kein zeitgenössischer gewesen ist, dass es keine justice politique gegeben hat. Auch die Elemente, die einen solchen Prozess prägen, stimmen nicht in allen Fällen überein, obgleich man oft dem Vorwurf des Verrats, des Treuebruchs, der Rebellion, der Zauberei oder des Majestätsverbrechens begegnet. Dementsprechend können die gerichtlichen Formen der Verfolgung dieser Vorwürfe sehr unterschiedlich sein, sodass sich keine festgeschriebenen Regeln beobachten lassen.80 Allein der Hochverrat gegen den König bekam dabei im Laufe der Zeit die Bedeutung eines regelrechten Sakrilegs.81 Gemeinsam ist aber fast allen politischen Prozessen, dass sie oftmals in als krisenhaft beschriebenen Perioden in einer Herrschaft zustande kamen. Mit Friedrich Battenberg soll daher der »politische Prozess als dasjenige forensische Verfahren angesehen werden, das Konflikte um Grundlegung, Stabilisierung, Ausweitung und Verteidigung der Herrschaft lösen sollte.«82 Die Herrschaftssicherung, aber auch die Ausweitung von Macht oder die Eliminierung von potentiellen Gefahren finden sich in zahlreichen als politisch deklarierten Fällen wieder. Insbesondere zu Zeiten des Hundertjährigen Krieges und den sich anschließenden krisenhaften Jahren kam es daher im französischsprachigen Raum zu zahlreichen politischen Prozessen. Diese Prozesse sind dabei als zusätzliche Felder in einem erodierenden machtpolitischen Umfeldes zu begreifen, die sich durch innere Spannungen auf der einen und äußere Gefahren auf der anderen Seite aufbauten.

In einigen Fällen konnte daher das Verhalten einzelner Fürsten in kriegerischen Auseinandersetzungen direkt zu Anschuldigungen führen, wie beispielsweise im Falle der Konflikte um das Herzogtum Guyenne. Bis zum Ende des Hundertjährigen Krieges befand es sich noch in englischem Besitz, weswegen der französische König dem englischen König gegenüber den Lehnseid hätte schwören müssen. Karl V. weigerte sich allerdings, dies zu tun. In diesem Zusammenhang musste sich auch der (englische) Herzog von Guyenne Ende 1368/ Anfang 1369 vor Karl V. verschiedener Vorwürfe erwehren. In der Bretagne traten die französisch-englischen Konflikte offen zutage, als sich Jean IV., Herzog von Montfort, gegen den französischen König die Unterstützung Eduards III. sicherte und dafür auf französischer Seite der Rebellion und des Verrates angeklagt wurde.83 Die Register des Parlaments von Paris weisen zudem zahlreiche Prozesse aus, bei denen den Angeklagten – durchaus auch gesammelt – schwere Delikte vorgeworfen wurden. So soll es – folgt man Contamine – im Januar 1383 nach dem Einzug Karls VI. in Paris aufgrund der Aufstandsbewegung der Maillotins zu zahlreichen Festnahmen und auch Sammelexekutionen gekommen sein. Unter den Angeklagten befand sich auch der Advocat des Königs, Jean de Marès, der als einer der Anführer der Revolte verdächtigt und letztlich auch hingerichtet wurde.84 Einer der bedeutendsten Prozesse unter Ludwig XI. war der gegen den Grafen von Saint-Pol und connétable von Frankreich, Louis de Luxembourg, im Jahr 1475.85 Dieser gut situierte Graf hatte während des Hundertjährigen Kriegs zunächst die burgundische, dann auch die französische Seite unterstützt, bevor man ihn im Krieg gegen die Stadt Gent wieder auf burgundischer Seite fand. Auch in der Guerre du Bien Public kämpfte er auf burgundischer Seite und erhielt im Gegenzug die Unterstützung des Grafen von Charolais bei seiner Ernennung zum connétable von Frankreich 1465, einem Amt, das ihn wieder näher an den französischen König rückte.86 Wegen eines Komplottes im Jahr 1475, das er mit Herzog Karl geschmiedet haben soll, fiel Saint-Pol aber in Ungnade bei Ludwig XI. und wurde des crime de lèse-majesté, des Majestätsverbrechens, bezichtigt. Der Prozess gegen ihn endete mit dem Todesurteil.87 Dass dieser Prozess nicht der einzige war, den der französische König mit Bezug auf den Vorwurf eines Majestätsverbrechens angestrengt hat, zeigen die Beispiele Alençon, Armagnac und Nemours.88

Dieser Vorwurf war auffallend oft – nicht nur bei Ludwig XI. – Gegenstand von Verfahren, denen die Ausrichtung eines politischen Prozesses zugeschrieben werden kann. Seine Ursprünge wurzeln im römischen Recht, im Konzept des crimen maiestatis. Er wurde aber insbesondere durch den Kampf gegen die Häresie als Majestätsverbrechen an Gott in das kanonische Recht aufgenommen, mit dem man auf kirchlicher Seite später auch gegen die Zauberei vorging. Auch das spätmittelalterliche französische Recht bezog sich auf die römische Gesetzgebung hinsichtlich des Hochverrates. Die Vereinnahmung dieser Anklage von der weltlichen Gerichtsbarkeit ließ daher nicht lange auf sich warten, sodass spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Verknüpfung von Verrat und Majestätsverbrechen unbestritten war.89 Ähnlich wie der Begriff des politischen Prozesses weist der Vorwurf des Majestätsverbrechens – obgleich ein zeitgenössischer Begriff – keine eindeutig abgrenzbaren Elemente auf. Es können Übereinstimmungen zu und Assimilation von einer Reihe anderer Verbrechen festgestellt werden, etwa Verrat, Aufruhr, Rebellion, Mord, Verstöße gegen die Sicherheit, aber auch Zauberei, Häresie oder dem Handeln wider der Natur. Der Vorwurf eines Majestätsverbrechens konnte sowohl bei nur einem dieser Verbrechen als auch im Zusammenschluss mehrerer auftauchen. Es ist daher offensichtlich, wie einfach es für einen König im 14. und 15. Jahrhundert war, aus einer krisenhaften Situation heraus den Vorwurf des Majestätsverbrechens zu erheben.90 Cuttler grenzt zwar deutlich den Verrat oder Treuebruch eines Untertanen gegenüber seinem Fürsten zu dem Majestätsverbrechen gegenüber dem König ab,91 doch zeigt sich, dass der Vorwurf gerade auch von den burgundischen Herzögen erhoben wurde. Das prominenteste Beispiel ist hierbei die Ermordung Herzog Johanns Ohnefurcht. Sein Sohn Philipp der Gute erhob angesichts dieses Verbrechens den Vorwurf des Majestätsverbrechens – eine Anschuldigung, die von französischer Seite nicht geteilt wurde.92 Mercier sieht sogar im Zusammenhang mit den städtischen Unruhen der Jahre 1450 – 1458, die hauptsächlich Gent betrafen, Ansätze von Verschwörungen gegen den Fürsten, die sich als Majestätsverbrechen klassifizieren ließen.93 Auch unter Karl dem Kühnen lässt sich verschiedentlich die Äußerung dieses Vorwurfs feststellen,94 was wiederum auf das Selbstverständnis der burgundischen Herzöge des 15. Jahrhunderts als souveräne Herrscher schließen lässt.95 Der Vorwurf des Majestätsverbrechens diente als eine aus dem römischen Recht entlehnte Rechtsfigure, die als Argument herangezogen werden konnte, aber durchaus nicht immer musste. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass auch die burgundischen Herzöge sich dieser Figur bedienten – möglicherweise, aber nicht zwingend, auch, um ihre Stellung gegenüber dem Königtum zu unterstreichen.96 Andererseits ist – darauf hat Blanchard zurecht hingewiesen – die Idee herrschaftlicher Souveränität um die Mitte des 15. Jahrhunderts noch nicht so ausgeprägt, das mit einer juristisch auch nur einigermaßen zwingenden Argumentation zu rechnen wäre.97

Die Tendenz von Fürsten im Spätmittelalter, Prozesse zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren, hatte zugleich Einfluss auf die Bedeutung dieser Prozesse. Zum einen wirkten sie sich auf die Ausformung der fürstlichen Souveränität aus, denn ein Angriff auf ebendiese Souveränität hätte Konsequenzen auf der Ebene der öffentlichen Ordnung nach sich ziehen können.98 Zum anderen wurde die Öffentlichkeit gerade bei Verbrechen gegen hohe Fürsten instrumentalisiert, um vor eben dieser Verfahren zu begründen oder zu rechtfertigen und um die Vergehen des Angeklagten bekannt zu machen, wie dies auch bei einigen Fällen zu zeigen sein wird, die den burgundischen Erben und späteren Herzog Karl den Kühnen betreffen.99 Die Bedeutung eines politischen Prozesses wuchs dabei proportional zu dem Interesse, das dem Fall in der Öffentlichkeit zukam. Ein Verfahren etwa, das den Vorwurf des Majestätsverbrechens aufgrund der Ausübung von Zauberei gegen den König beinhaltete, konnte sich dabei eines öffentlichen Interesses nicht entziehen, wie die zahlreichen in der Chronistik überlieferten Fälle zeigen. Dazu gehören beispielsweise aus dem Umfeld König Philipps des Schönen (1285 – 1314) die Zaubereivorwürfe gegen Guichard, den Bischof von Troyes, dem der Umgang mit einer Zauberin und die Anwendung von Wachsfigurenmagie und Teufelsanrufung zur Schädigung der Königin nach deren plötzlichem Tod vorgeworfen wurden.100 Dem Vorwurf des Majestätsverbrechens folgte häufig die Verhängung der Todesstrafe. Der prominente Fall des Herzogs Jean d’Alençon zeigt aber, dass diese durchaus auch in Begnadigungen oder in Haftstrafen umgewandelt werden konnten. Jean d’Alençon sah sich durch den Vertrag von Arras 1435 um seine Ziele und Verdienste gebracht und begab sich in Opposition zu Karl VII. Er wurde mehrfach, sowohl unter Karl VII. als auch Ludwig XI., des Majestätsverbrechens beschuldigt und zum Tode verurteilt. Die Gründe für die harten Strafen lagen in der schwankenden Loyalität des Herzogs. Jean kollaborierte mit den Engländern und wurde 1456 von König Karl VII. eingekerkert. Die Todesurteile gegen ihn wurden aber nicht vollstreckt; unter Ludwig XI. wurde er sogar begnadigt. Gegen diesen paktierte Jean 1467 allerdings wiederum mit den Herzögen von Burgund und der Bretagne, entfernte sich aber aufgrund von Geldzahlungen des Königs von der Ligue du Bien Public. 1473 wurden eine weitere Verschwörung mit dem Herzog der Bretagne und Edward IV. aufgedeckt und er wurde ein weiteres Mal, diesmal von Ludwig XI., zum Tode verurteilt. Erneut wurde Jean d’Alençon begnadigt und seine Strafe in lebenslange Haft umgewandelt, in der er 1476 starb.101

 

Bei politisch motivierten Zaubereiprozessen standen dabei die religiösen Vorwürfe nicht selten stellvertretend für die eigentlichen politischen Motive.102 Für die auch bei den Zeitgenossen als außergewöhnlich eingestuften politischen Prozesse lassen sich einige wiederkehrende – allerdings nicht zu verallgemeinernde – Verfahrenselemente nennen, mit denen die Fürsten versuchten, den Anschuldigungen nachzugehen. Die Beschuldigten wurden in der Regel vor ein Gericht geführt, wo die Anschuldigungen gegen sie untersucht wurden. Hier kamen sowohl geistliche als auch weltliche Gerichte in Frage. Nicht selten wurden spezielle Kommissionen durch den Fürsten eingesetzt, deren Mitglieder Personen juristischer, königlicher oder fürstlicher Einrichtungen sein konnten. Dabei musste es sich nicht ausnahmslos um Kleriker handeln; auch vertrauenswürdige Adelige waren an solchen Kommissionen beteiligt.103 Der des Verrates an Karl VI. angeklagte königliche Advokat Jean de Marès beispielsweise wurde zunächst von einer königlichen Kommission befragt, bevor er dem Bischof von Paris überstellt wurde, damit dessen Offizial über ihn richte. Aus Sorge vor einem langwierigen Prozess mit womöglich unsicherem Ausgang veranlassten die Herzöge von Berry und von Burgund aber den Vogt von Paris, den beschuldigten Advokaten zurückzuholen und zu exekutieren.104 Die politischen Prozesse und die Prozesse mit dem Vorwurf des Majestätsverbrechens wurden oft in Form eines Inquisitionsprozesses geführt, bei denen die Folter ein regelmäßig angewendetes Verfahrensmittel war.105 Diese wurde dabei nicht nur gegen den Angeklagten selbst, sondern auch gegen dessen Diener oder Helfer eingesetzt. Die Vorwürfe bei den politischen Prozessen – Rebellion, Plünderung, Vergewaltigung, Mord, Zauberei oder Majestätsverbrechen – genügten, um die schwersten Strafen aufzuerlegen. Die Verfahren endeten daher häufig mit einem Todesurteil, das allerdings – wie gezeigt – nicht immer vollstreckt wurde.106

Einer der bekanntesten Fälle im Burgund des 15. Jahrhunderts war der des herzoglichen Kammerdieners Jean Coustain, der wegen eines versuchten Giftmordanschlags auf Karl von Burgund hingerichtet wurde.107 Dieses Komplott ist nur eines von mehreren Anschlägen oder Verschwörungen, die der Graf von Charolais während der Regierungszeit seines Vaters gegen sich vermutete.108 Auch gegen den Vetter des Herzogs von Burgund, Johann, Graf von Étampes, wurden – wie es in der Chronistik mehrfach angedeutet wird – schwere Vorwürfe kolportiert. Johann soll mithilfe von Wachsfiguren ein Komplott gegen den Grafen von Charolais geplant haben und sei daher in die Ungnade des Hauses Burgund gefallen. Das neue Aktenmaterial des Processus contra dominum de Stampis – die Prozessakten gegen Jean de Bruyère, einen Bediensteten des Grafen von Étampes und sein Mitverschwörer, – ermöglicht es, die Umstände dieser Vorwürfe und ihre Folgen wesentlicher genauer beurteilen zu können, als dies mit den wenigen Erwähnungen in der Chronistik bisher möglich gewesen ist. Für die Forschung können daraus insbesondere für die burgundische Krisenzeit der 1460er Jahre und die Rolle des Grafen von Étampes bei der Zuspitzung dieser Ereignisse tiefergehende Erkenntnisse gewonnen werden. Es ist daher an der Zeit, den Grafen von Étampes etwas näher vorzustellen.

1.2.3. Der Graf von Étampes (1415 – 1491) und der burgundische Hof

Der Graf von Étampes wird durch die Prozessakten des Processus contra dominum de Stampis belastet, ein Komplott gegen Karl von Burgund, Graf von Charolais, geplant und ausgeführt zu haben. Dieser Vorwurf deutet auf eine konfliktbehaftete Vergangenheit der beiden Grafen hin, die Johann von Burgund dazu veranlasste, Anschlagspläne gegen den Grafen von Charolais zu schmieden. Unser Augenmerk soll daher insbesondere auf die Position des Grafen von Étampes am burgundischen Hof gelegt werden.

Aufgrund der besonderen Überlieferungsgeschichte des Aktenmaterials ist die Forschung speziell für diesen Fall – abgesehen von einigen Erwähnungen in der Chronistik – quasi nicht existent. Zum Grafen von Étampes hingegen existieren bereits einige Untersuchungen, die für diese Studie herangezogen werden konnten. Eine frühe und ausführliche Einordnung des Grafen in die Erbfolge der burgundischen Besitztümer bietet Bernard de Mandrot mit einem Aufsatz über Johann von Burgund, Herzog von Brabant, und seine Nachfolge.109 Maurice Hurbain hingegen thematisiert in einem Aufsatz die Konsequenzen des Vertrags von Péronne für den Grafen von Étampes/Nevers.110 In der Forschung vollständig unbekannt sind die beiden Werke Lucien Cremieux’, der sich in seiner ungedruckten Dissertationsschrift aus dem Jahre 1940 an der Universität Clermont mit »Jean de Clamecy – Comte de Nevers (1415 – 1491)« beschäftigt. Eine zweite, ebenfalls ungedruckte Studie desselben Autors behandelt die Regierungszeit Johanns von Burgund als Graf von Nevers.111 Beide Arbeiten stützen sich auf größtenteils noch vorhandene Quellen sowie die burgundische Chronistik; sie zeichnen sich allerdings durch einen zum Teil stark positivistischen, zum Teil spekulativen Anteil aus, der eine tiefere analytische Schärfe vermissen lässt. Zudem konzentrierte sich Cremieux an einigen Stellen so ausführlich auf die Schilderungen der politischen Umstände, dass die Rolle Johanns von Burgund blass bleiben musste. Beide Werke sind in den Archives départementales de la Nièvre zu finden. Eine Kopie des ersten Werkes findet sich zudem in der Bibliothèque nationale de France. Einblicke in die Nachfolgeregelungen des Hauses Burgund bietet die Untersuchung von C.A.J. Armstrong, der hinsichtlich des Grafen von Étampes dessen Ringen um die ihm von Philipp dem Guten zugesprochene Grafschaft Auxerre schildert.112 Wie bereits erwähnt ist die einzig neuere Arbeit über Johann von Burgund der Aufsatz Marié-Thérèse Carons aus dem Jahre 1999.113

Die Verbindungen des Grafen von Étampes zum burgundischen Hof, dies belegen die Quellen, waren anfangs und noch lange sehr eng. Tatsächlich befand sich der im Oktober 1415 in Clamecy geborene Johann mit seinem älteren Bruder Karl bereits seit dem Jahre 1424 am Hof des Herzogs von Burgund. Ihre Mutter Bonne d’Artois wurde 1415 durch den Tod ihres Mannes Philipp von Burgund, Graf von Nevers – eines Bruders des damaligen Herzogs von Burgund, Johann Ohnefurcht –, in der Schlacht von Azincourt zur Witwe.114 Einige Jahre später heiratete Philipp der Gute Bonne in zweiter Ehe, sodass ihre Söhne Karl und Johann am herzoglichen Hof erzogen wurden.115 Der Herzog – einziger Sohn Johanns Ohnefurcht, aber Bruder einiger Schwestern – nahm viele seiner Neffen und Nichten schon im Kindesalter am Hof auf. Während die Mädchen in der Regel den Hof durch die Heirat mit einem geeigneten – und für den Herzog diplomatisch nützlichen – Kandidaten wieder verließen, verblieben die Neffen oft im Dienst des Herzogs an dessen Hof.116 Die beiden Vettern117 Philipps des Guten kamen mit zehn und neun Jahren an den Hof und blieben dort über den Tod ihrer Mutter im Jahre 1426118 hinaus. Dort erwarben sie schnell Ansehen, wie sich besonders bei Johann noch zeigen wird. Als seine Verwandten tauchen die beiden Brüder bereits in einem Testament des Herzogs aus dem Jahre 1425 auf.119 Karl von Nevers trat mit der Übernahme der Grafschaften Nevers und Rethel bald sein Erbe als ältester Sohn Philipps, Graf von Nevers, an und wurde ein Verbündeter König Karls VII., dem er gegen die Engländer in der Normandie half. Zudem soll er vom König eine ansehnliche Pension bekommen haben. Offenbar gab es aber auf französischer Seite erhebliche Differenzen zwischen den Anhängern des königlichen Vaters und denen des Dauphins. Mit der Erhebung Ludwigs XI. zum französischen König findet man Karl von Nevers wieder in der Gefolgschaft des Herzogs von Burgund. Im Jahre 1463 soll er sogar mit dem Grafen von Charolais über die Abtretung der Grafschaft Rethel verhandelt haben, was ihm der neue König zum Vorwurf machte.120

Johann von Burgund hingegen hielt sich nach dem Tod Bonnes d’Artois sehr oft am Hofe des Herzogs, durchaus aber auch bei der neuen Herzogin Isabella von Portugal und deren Sohn Karl auf. Die Écroes des Fürstenpaares der 1430er bis 1450er Jahre belegen die häufige Anwesenheit Johanns am Hof des Herzogs oder der Herzogin.121 Der im Jahre 1434 zum Grafen von Étampes erhobene Johann122 heiratet 1435 in Brüssel durch die Vermählung mit Jacqueline d’Ailly, Dame von Ingelmunster und Tochter des Vidame Raoul d’Amiens, in eine der reichsten Familien der Picardie ein.123 Dieser ersten Ehe124 entsprangen zwei Kinder, Elisabeth125 und Philipp. Der kränkelnde Sohn verstarb allerdings bereits im Jahre 1452. Jacqueline, Gräfin von Étampes, in den Écroes als mademoiselle d’Estampes nachweisbar, wurde eine der bevorzugten Hofdamen Isabellas von Portugal und verbrachte die meiste Zeit an deren Seite. Auch ihre Tochter Elisabeth wuchs am herzoglichen Hof auf.126 Sie wurde später von Herzog Philipp in eine äußerste vorteilhafte Verbindung mit dem Herzog von Kleve gegeben.127

 

Johann von Burgund scheint bei Philipp dem Guten in hohem Ansehen gestanden zu haben. Der Herzog übertrug dem Grafen mehrere Male in seiner Abwesenheit die Regentschaft für Teile seiner Länder128 oder stellte ihn dem Grafen von Charolais als Berater zur Seite. So empfahl der Herzog seinem Sohn vor seiner Reise zu einem Treffen mit Kaiser Friedrich III. in Regensburg sowohl die Meinung des grand conseil einzuholen als auch diejenigen des Grafen von Étampes, Adolphs von Kleve und Johanns von Coimbra.129

Ausgezeichnet hat sich Graf Johann von Étampes am herzoglichen Hof besonders durch seine militärischen Aktivitäten. Wir finden ihn beispielsweise bereits 1434 bei der Eroberung der Stadt Saint-Valéry,130 1438 im Kampf Burgunds gegen die Engländer bei Calais, mit Anton, Bastard von Burgund, in Holland131 oder beim Kampf des Herzogs von Burgund gegen Luxemburg, wo er auch in beratender Funktion beim Herzog erwähnt wird.132 Besonders aber scheint sich der Graf im Kampf gegen die Genter (1451/52) ausgezeichnet zu haben, wie die Chronisten in ihren Werken hervorheben.133 Während des in diesen Konflikt fallenden Kampfes um Oudenarde wurde der Graf, der die picardischen Kämpfer anführte, laut Olivier de la Marche durch den Bastard von Saint-Pol zum Ritter geschlagen.134 Bei diesem Chronisten wird Johann von Burgund oft in Kampfsituationen beschrieben, wohingegen Mathieu d’Escouchy den Grafen als einen wohlüberlegten Mann darstellt, der sich in neuen Situationen mit seinen Begleitern berät. Trotzdem scheint auch bei letzterem der militärische Ehrgeiz des Grafen durch. So beschreibt d’Escouchy, dass Johann unzufrieden mit der Vergabe der Vorhut an den Grafen von Saint-Pol gewesen sei.135 Aus dieser Situation sei eine Abneigung der Fürsten gegeneinander erwachsen, die – wie d’Escouchy an anderer Stelle erwähnt – den Grafen von Étampes in eine Opposition gegen den Grafen von Saint-Pol trieb, die sich auch auf den Herzog von Burgund zu übertragen schien.136

Die Wertschätzung, die der Herzog von Burgund für die Fähigkeiten des Grafen empfand, zeigten sich besonders in der Ernennung Johanns zum lieutenant, gouverneur général des pays de par deça en l’absence de mondit seigneur, also zum Statthalter in den burgundischen Niederlanden zwischen Mai 1434 und Mai 1435.137 Der Herzog zeigte weiterhin sein Vertrauen in Johann, als er nach dem Vertrag von Arras 1435 den Grafen als lieutenant et capitaine général138 der überaus wichtigen Somme-Städte einsetzte.139 Bereits im Vorfeld des Vertragsabschlusses wurde der Graf von Étampes vom Herzog zu Treffen mit französischen Gesandten geschickt und befand sich auch im weiteren Verhandlungszeitraum in der Gefolgschaft Philipps.140 Mit der Benennung als lieutenant et capitaine général des Herzogs in der Picardie oblag dem Grafen damit die Verantwortung über Ländereien, die während des Hundertjährigen Krieges ein stark umkämpftes Gebiet waren, die aber auch direkt an der fragilen Grenze zwischen Frankreich und Burgund lagen und in den folgenden Jahren immer wieder für Konflikte zwischen diesen beiden Parteien sorgten.141 Auch ein reger schriftlicher Kontakt zwischen Herzog Philipp und Johann über die Belange dieser Ländereien, den Marie-Thérèse Caron konstatiert,142 schmälert den Eindruck einer vertrauensvollen Überantwortung der Gebiete an den Grafen nicht. Bereits in dem Schreiben des Herzogs an die Stände, in dem er die Einsetzung des Grafen damit begründet, dass er selbst nicht immer in der Region sein könne, diese aber gegen die Engländer verteidigt werden müsse143, spricht er dem Grafen von Étampes mit folgenden Worten gegenüber den Ständen sein Vertrauen aus:

»Aufgrund der Zuneigung zu jenem selbst, für den Verstand, Diskretion, Umsicht und die hohen und edlen Tugenden, die, wie wir wissen, in der Person unseres Neffen, dem Grafen von Étampes, vereint sind, und durch das volle und ungeschmälerte Vertrauen, das wir in ihn, der ein naher Verwandter unserer Linie und unseres Blutes ist […], haben, hat er eine sehr große und außergewöhnliche Neigung, sich einzusetzen.«144

Auch militärisch waren die Gebiete sowohl dem Herzog als auch dem Grafen eine willkommene Unterstützung. Von den Chronisten besonders hervorgehoben wurden in diesem Zusammenhang die picardischen Bogenschützen, die auch im Kampf gegen Gent eine wichtige Rolle spielten.145

Im Anschluss an ebendiese Revolte von Gent hielt Herzog Philipp 1454 in Lille das Banquet du vœu de Faisan ab, auf dem der Wille des Herzogs, einen Kreuzzug zu führen, durch den Schwur auf einen Fasan eindrucksvoll bekräftigt wurde.146 Als Familienmitglied gehörte der Graf von Étampes zu einer Vœuder ersten Personen, die nach dem Herzog und dessen Sohn schwören durften.147 Bemerkenswert an den Fasanenschwüren ist, dass einige Teilnehmer nicht nur dem Herzog ihre Gefolgschaft schworen, sondern versprachen »dass, wenn es geschieht, dass die Angelegenheiten meines sehr hochverehrten Herrn so sind, dass er nicht auf die genannte heilige Reise gehen kann, und mein sehr hochverehrter Herr, der Herr von Charolais, oder mein sehr hochverehrter Herr, mein Herr der Graf von Étampes dorthin gehen, werde ich ihnen auf vergleichbare Weise auf der genannten heiligen Reise mit meinem Körper und meinem Vermögen dienen.«148 Diese Formulierungen findet man zwar vereinzelt auch bei Schwüren für andere Fürsten,149 allerdings ist die Nennung des Grafen von Étampes mit Abstand die häufigste in den von Mathieu d’Escouchy aufgeführten Schwüren. Zudem finden sich hier auch Formulierungen, in denen die Herren den Grafen von Étampes erwähnen und ihm ihre Begleitung antragen.150 Diese Bindung nicht nur an den Herzog oder dessen Sohn, sondern auch an Johann von Burgund, kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass es sich bei den Schwörenden, die den Grafen von Étampes mit einbezogen, vielfach um dessen Bedienstete handelte.151 Aber auch das Verhalten des Grafen während des Genter Aufstandes, der erst kurz vor dem Fest zu Ende gegangen war, und seine dort präsentierten Fähigkeiten auf und außerhalb des Schlachtfeldes, scheinen den Grafen als fähig ausgezeichnet haben, auch einen Kreuzzug anzuführen. Solcherlei Überlegungen mögen in die Schwüre mit eingeflossen sein. Der Graf von Étampes wurde also neben dem Grafen von Charolais als einer der wahrscheinlichsten Männer angesehen, die den Herzog bei einer möglichen Verhinderung auf dem Kreuzzug ersetzt hätten. Während der Feierlichkeiten legte der Herzog zudem fest, dass in seiner Abwesenheit während des Kreuzzuges sein Sohn Karl die Regentschaft übertragen bekommen sollte. Ihm zur Seite wurde allerdings ein bewährtes Ratsgremium gestellt, zu dem auch der Graf von Étampes gehörte.152

Die skizzierten Auszeichnungen des Grafen von Étampes durch den Herzog fanden ihren Höhepunkt in der Ernennung zum Ordensritter vom Goldenen Vlies auf dem neunten Kapitel 1456 in Den Haag. Johann von Burgund wurde dort neben mehreren anderen Mitgliedern der Familie zum Ordensritter ernannt.153 Dieses Ordenskapitel war das erste offizielle nach dem Fasanenfest. Die Ereignisse eines späteren Kapitels in Brügge 1468, auf dem der Graf von Étampes aus dem Orden ausgestoßen wurde, werden zu einem späteren Zeitpunkt noch Gegenstand der Betrachtungen sein.154

Auch auf finanzieller Ebene kümmerte sich der Herzog von Burgund um seinen Neffen. So erhielt dieser anlässlich seiner Heirat mit Jacqueline d’Ailly am 22. Januar 1436 eine jährliche Rente von 6000 livres, die ein Jahr später durch die Einkünfte der Grafschaft Auxerre ersetzt wurde. Diese Grafschaft, die direkt an die später geerbte Grafschaft Nevers angrenzte, war aber zumindest zu Beginn ein für den Grafen unglücklicher Tausch, da die nötige Einwilligung des französischen Königs für diese Übertragung lange Zeit ausblieb.155 Zurückgehend auf das Erbe Philipps des Kühnen hielt der Graf von Étampes neben den Rechten an der Grafschaft Étampes auch diejenigen über die Herrschaften von Dourdan und Gié.156 Im Jahr 1438 wurden ihm aus der Hand des Herzogs Einkünfte der picardischen châtellenies von Péronne, Roye und Montdidier übertragen, die er für sich und seine Erben beanspruchen durfte. Bereits seit 1435 war der Graf von Étampes lieutenant et capitaine général der Picardie. Laut Armstrong erhielt er die Einkünfte der genannten Städte als Ausgleich für die Schwierigkeiten mit der Grafschaft Auxerre und der Einbehaltung der Mitgift Jacquelines d’Ailly.157 Ähnliche Rechte erhielt er auch auf die Gebiete von Ronssoy in der Picardie und Ingelmunster in Flandern.158 Im Jahre 1465 musste Johann allerdings diejenigen Ländereien, die er seitens des Herzogs erhalten hatte, zurückgeben.159 Zu dieser Zeit – seit dem Tod seines Bruders Karl im Jahre 1464 – konnte er sich allerdings bereits Graf von Nevers und Rethel nennen, was ihm namentlich durch die Grafschaft Nevers eine größere Machtbasis verschaffte.160

Während seiner Zeit am burgundischen Hof war er, wie Marie-Thérèse Caron urteilt, un homme de relations publiques.161 Bei seinen Reisen, die er sowohl mit als auch ohne sein Gefolge unternahm, kreuzte er häufig die Wege des Herzogs. Seine Frau und seine Tochter, die sich oft bei der Herzogin von Burgund aufhielten, waren wesentlich seltener unterwegs. Die erhaltenen Rechnungen aus den 1430/40er Jahren, aber auch die Schilderungen der Chronisten weisen für den Grafen von Étampes zudem zahlreiche Kontakte zu weiteren Adeligen sowohl am herzoglichen Hof als auch außerhalb auf. Herzog Philipp setzte ihn zudem schon früh als Gesandten und Vermittler in Streitfällen ein. So sollte Johann von Burgund beispielsweise 1433 im Streit um die Besetzung des frei gewordenen Bischofsstuhls von Tournai den Konflikt der beiden Kandidaten zugunsten des von Philipp favorisierten Jehan Chevrot lösen.162 Auch bei der Vauderie d’Arras war Johann von Burgund als herzoglicher Vertreter zumindest temporär involviert.163 Seine Schenkungen – sowohl an Adelige als auch an Bedienstete und kirchliche Einrichtungen, – seine Aktivitäten und sein Kleidungsstil weisen einen in seinen Möglichkeiten dem herzoglichen Hof entsprechenden Lebensstil des Grafen und seiner Familie aus.164 Offenbar wusste er diese Haltung auch durch entsprechend prunkvolle Festivitäten zu unterstreichen. So setzte der Graf sich auf dem höfischen Parkett vor dem Fasanenfest mit Feierlichkeiten in Szene, die von MANDROT als »außergewöhnlich prächtig« beschrieben werden und zeigen, dass er sich der oft beschriebenen burgundischen Gepflogenheit der großen Prachtentfaltung anzupassen wusste.165 Auch seine Frau und seine Tochter sind immer wieder als Gäste herzoglicher Bankette oder Veranstaltungen zu finden.166 Zudem gab er, in bester Tradition des burgundischen Hofes, eine besonders aufwändige Handschrift des in dieser Zeit sehr beliebten Alexander-Romans von Jean Wauquelin167 mit mehreren prachtvollen, ganzseitigen Miniaturen in Auftrag, wenngleich man Johann nach heutigem Stand der Forschung nicht zu den bibliophilen Personen des burgundischen Hofes zählen kann.168