Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Der unheimliche Fahrstuhl

„Frühstück“, ruft die Mutter, der Duft von Toastbrot macht sich in der Wohnung breit. Henriette vergisst Tschibi im Bad und geht in die Stube. Dort sitzen ihre Mutter und ihre Schwester Susanne bereits am Tisch.

„Komm, du bist schon spät dran, wir wollen anfangen.“ Immer dasselbe, denkt Henriette, fügt sich jedoch. Dann knabbert sie gelangweilt an ihrem Marmeladentoast. Das verzweifelte Kreischen des kleinen Vogels unterbricht das Frühstück, ein kleiner Körper klatscht von innen gegen die Badezimmertür und fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Henriette lässt das Toastbrot auf den Teller fallen und rennt durch den Flur.

„Ganz langsam die Tür öffnen, sonst zerquetschst du ihn“, ruft die Mutter ihr hinterher. Henriette versucht vorsichtig, die Tür zu schieben, mit der Hand tastet sie sich um die Tür herum und nimmt den kleinen Körper des Vogels vorsichtig in ihre Hand. Sie geht in ihr Zimmer und wartet mit Tschibi auf ihrem Teppich sitzend. Es ist ganz still. Ein Luftzug bewegt den hellen Vorhang, die Mutter hat die Fenster geöffnet. Der kleine Vogel kommt langsam zu sich, bleibt aber noch ein bisschen länger in ihrer Hand liegen als nötig und schaut Henriette aus seinen kleinen lustigen Augen aufmerksam an. Dann berappelt er sich, kommt auf seinen zwei Beinen wieder zum Stehen. Henriette führt ihn mit der Hand in den Käfig und setzt ihn vorsichtig auf den mit Sand bedeckten Boden. Tschibi beginnt benommen an den heruntergefallenen Hirsekörnern zu knabbern.

Es klingelt wieder. Das wird Lena sein, denkt Henriette. Sie läuft zum Fenster und schaut weit hinaus, um unter das Vordach des Hauseinganges zu lugen. Doch sie kann nicht erkennen, ob Lena allein oder mit mehreren Freunden dort ist. Über den Sprechapparat kreischt die helle Mädchenstimme: „Kann Henriette jetzt raus?“

„Ja, ich frag sie, wenn sie möchte. Wartet bitte. Und nicht noch mal klingeln!“ Die Mutter klingt streng. Dann geht die Tür zu Henriettes Zimmer auf.

„Ich geh schon.“ Lustig hüpft sie auf einem Bein, um rasch ein Hosenbein über das andere zu ziehen. Schnell noch einen Pullunder und eine Jacke an, schon schlüpft sie durch die Wohnungstür, läuft die drei wendelförmig angeordneten Treppen hinunter und rennt durch den mit gelbem, inzwischen verschmutztem Linoleum ausgelegten Flur. Dann drückt sie den Fahrstuhlknopf. Das Fahrstuhlgeräusch hört sich weit weg an. Es dauert gefühlt Jahre, bis er ganz oben ankommt. Mit einem roten Pullover und der hellen Stoffhose bekleidet steigt sie ein und genauso langsam fährt der Fahrstuhl wieder hinunter. Neun, sechs, drei. Die Zahlen in den Knöpfen leuchten rot auf und zeigen die Stockwerke an. Wissbegierig hat sie sie schon ausgiebig studiert, die Fahrstuhlarmatur.

Bleibt der Fahrstuhl stehen, und das kommt recht häufig vor, drückt Henriette meist alle Knöpfe. Die meisten im Anfall von Panik und Angst umsonst, auch den mit den entgegengesetzten Pfeilen. Der Knopf mit der Alarmglocke, den sie meistens zuletzt drückt, befindet sich ganz unten rechts. Der löst dann den befreienden Alarm aus. Kurz darauf gibt es über die Lautsprecheranlage einen Kontakt mit dem Hausmeister. Und Henriette muss nur noch auf Toilette. Schwitz. Und das Komische ist, es wiederholt sich immer wieder auf diese Art. Immer wieder.

Diesmal kommt der Fahrstuhl ohne Unterbrechung unten an. Henriette schiebt die schwere Eisentür nach außen auf, da stehen schon Lena und ihre Freunde. Vor ihnen eröffnet sich eine Betonwüste. Die Straße vor dem Hochhaus ist noch nicht befestigt, gelber Sand liegt hier und da lose und in kleinen Bergen angehäuft herum. Kein Baum ist gepflanzt, blaue Wolken schweben über Sand und Beton. Die Kinder laufen zielstrebig zur nächsten Baustelle, die sich nur ein paar Meter von ihnen entfernt befindet.

„Wir spielen Fangen“, schlägt Lorenz vor. Die anderen stimmen zu.

„Ich beginne“, Lorenz stellt sich an eine Betonwand, hält seine Hände seitlich von den Augen und fängt mit Zählen an: „Eins, zwei, drei, …“

Er hört das Rascheln und Trappeln seiner weglaufenden und sich versteckenden Freunde. Henriette klettert über einen Holzbalken, der eine Betonwand von der anderen trennt. Unter ihr klafft ein Abgrund von vier Metern.

Warte!“, flüstert sie Lena zu, die sich knapp hinter ihr anschließen will.

Der Balken ist zu biegsam und wackelig, um zwei kleine Menschenkörper zu halten. Doch Lena muss sich auch beeilen. Paul ist gleich mit Zählen fertig. Henriette spürt, wie der Balken unter ihr nachgibt, und hält sich mit beiden Händen am Betonrand fest. Fast hat sie die rettende Betonwand erreicht. Dann spürt das blonde Mädchen, sie kann sich nicht so lange halten. Stangenklettern war noch nie ihr Ding, denkt sie in den vergangenen Sekunden. Lieber ’ne Fünf kassieren. Ihre Oberarmmuskeln ziehen sich in die Länge und schmerzen, es ist ihr unmöglich, sich an der Wand hochzuziehen. Dann lässt Henriette los. Ihrem dumpfen Aufprall folgt noch ein dumpfes Geräusch: Lena.

Henriette, noch benommen, hebt den Kopf, ihr rechtes Bein hat beim Aufkommen ein komisches Geräusch gemacht, sie spürt nichts. Noch nicht. Lena liegt ein paar Meter von ihr entfernt in einer trüben Baupfütze.

„Wo seid ihr?“, hört sie Lorenz rufen.

„Hier“, ihre Stimme kommt ihr eigenartig entfernt und schwach vor.

Sie atmet noch einmal durch und versucht es lauter.

„Hier“, es kommt keine Antwort.

Lena atmet tief durch und bewegt vorsichtig ihre Glieder. Dann macht sie die Augen auf.

„Mist“, ist das Erste, was Henriette mühsam und doch etwas lauter als zuvor hervorbringt. „So ein Mist.“ Nachdem sie nacheinander Hände und Füße vorsichtig bewegt hat, setzt sie sich auf. So bleibt sie minutenlang sitzen.

Lorenz und die anderen Freunde rufen: „Wo seid ihr?“

„Hier sind wir“, antworten Henriette und Lena im Gleichklang.

Immer noch viel zu leise. Sie hören, wie ihre Freunde sich nähern.

Die Schlange, der kleine Drache

Schlangen in der Wüste sind tückisch. Sie liegen in der Sonne und passen ihre schuppige Haut der Farbe des Sandes an. Das Licht jedoch wirft Schattierungen auf die länglichen Körper, die trügerisch sind. Mal silbrig, golden, rot mit grün auf kleinen Flächen, die Farben vermischen sich und je nach Art ihrer Bewegung, entstehen verschiedenartigste Muster. Konturen der Schlangen verwischen und lassen sie durch das flimmernde Licht der Wüste plötzlich verschwinden und genauso überraschend erscheinen. Wie unberechenbare lange Götter der Wüste. Es gibt keine Anzeichen, keine Warnung, nur eine gefährliche Stille, sollten sie züngelnd zubeißen. Lea lernt früh von ihrer Großmutter, sich vor lauernden Gefahren der in unterirdischen Gängen lebenden Wüstenbewohner zu schützen. Sie lernt Achtsamkeit. Sie lernt, sich genauso zu bewegen, dass die Schlangen gewarnt werden, sie durch das Beben der Erde Lea möglichst früh fühlen werden, um dann rechtzeitig in ihren Löchern zu verschwinden. Sie trampelt durch die Wüste; ihre kleinen Füße müssen manchmal Stiche von Kakteen oder spitzen Sandkörnern ertragen, nur um nicht leichtfüßig zu laufen. Auch das scharfkantige Gras ist nicht zu unterschätzen, überall kleine Büschel, die unverhofft genau dort wachsen müssen, wo sich Karawanen durch die Wüste bewegen. Hier lernt Lea fluchen. Ihre Schuhe rutschen oft zur Seite, sind zu kurz oder schnüren sich so unerträglich in ihre Haut, dass sie sie liebend gerne auszieht. Barfuß geht sie durch das Leben. Eine dicke Hornhaut unter den Kinderfüßen ist ihr Schutz. Zu allem Überfluss sinken die Erwachsenen manchmal knietief in den Sand der Wüste ein. Lea, leichter, nur bis zu den Waden. Und manchmal zieht ihr Vater sie hoch auf Lala und dieses Gefühl wird Lea nie vergessen, dem Himmel auf einmal so nah und der Wüstensand so weit unter ihr. Und dieser Thron zwischen den beiden Höckern, den Lala ihr bietet, lässt Lea sich einmal mehr als Königin der Wüste fühlen.

Heute, es ist Freitag, läuft sie allein in die Wüste hinein, so weit ihre Füße sie tragen, die Schlangen sind ihr heute egal. Ein kindlicher Trotz macht sich in ihr breit. Die Großmutter hat sie immer gewarnt, sollte sie von einem Schlangenwesen mit krummen Füßen träumen, so solle sie es wieder wegschicken. Sich ihm nicht hingeben. Die bringen Unglück über die Familien der Träumenden. Unglück. Lea hat nie von solchen Dingern geträumt. Kein einziges Tier hat krumme Füße. Weder die Kamele noch die Hyänen, die hungrig herumstreiften, als auch Gazellen.

Verkrüppeltes Gesträuch, davon gab es genug hier. So weit das Auge blicken konnte; vor allem in der Nähe der wenigen Wasserstellen.

Vögel haben krumme Füße, fällt Lea plötzlich ein, und Spinnen. Bringen die auch Unglück? Aber Großmutter hat ja von Träumen erzählt; nein, es kam noch keine Schlange mit krummen Füßen zu ihr. Doch das Unglück ist jetzt trotzdem über sie hereingebrochen. Sie setzt sich auf einen kleinen Hügel, wartet kurz, ob er sie trägt. Dann lässt Lea den Blick schweifen und hängt ihren Gedanken nach. Giftige Schlangen würde ihr Vater sofort töten. Bestimmt auch im Traum. Er war ihr Beschützer, konnte er sie nicht auch vor ihrem kranken Herzen beschützen? Sie hat es doch gehört, beim Gespräch, als sie heimlich lauschte. Hätte sie es doch nur nicht getan. Es ging in den Gesprächen vorher, die sie heimlich belauschte, doch nur selten um sie. Warum musste sie nur so neugierig sein. Dann wäre sie wenigstens heute nicht so unglücklich.

Plötzlich bemerkt Lea einen kleinen Schatten neben sich. Er regt sich kaum. Sie schaut genauer hin und macht ein gekringeltes kleines Etwas aus. Dann nimmt sie es in die Hand. Das Kleine ringelt sich auseinander und macht sich ganz gerade, um sich kurz darauf wieder zusammenzuziehen. Ein wenig erinnert es sie an die Schleimtierchen, die sie manchmal mit den Fischen für die Nahrung fingen. Nur eben ohne Schleim. Sie berührt die Haut, die sich ganz glatt an den feinen Körper schmiegt. Lea weiß, es ist eine Schlange, es kann nur eine Schlange sein. Klein und zart und kalt. So kalt, wie ihr ist. Um ihr Herz herum. Lea überlegt nicht lange. Kurzentschlossen nimmt sie ihren Findling mit.

 

Die Familie fängt langsam an, sich Sorgen zu machen. Nana läuft händeringend vor der kleinen Hütte auf und ab, die Großmutter beginnt das abendliche Feuer herzurichten und schaut immer wieder, die Hand über die Augen haltend, gen Sonnenuntergang in die Wüste. Sie horcht geübt auf irgendeinen Laut. Doch solange keine Geier in der Ferne zu sehen sind, gibt es auch keine neuen Toten. Weder Tiere noch Menschen. Und so bleibt die Großmutter im Gegensatz zu Nana ruhig. Leas Vater bringt Ziegenfleisch, das sie gekonnt auf kleine Stöckchen ziehen und über das Feuer halten. Lea wird bestimmt großen Hunger haben.

Dann sehen sie die Silhouette eines kleinen Mädchens aus der Wüste kommen. Es läuft ganz langsam, als wolle sie etwas hüten. Etwas, das ihr blitzschnell aus den Fingern gleiten könnte oder zwischen den Fingern hindurch. Der Vater runzelt die Stirn. Er braucht nichts, das seine Ruhe stört. Nichts. Er hat seinen Plan, wie sein Vater vor ihm, wie sein Großvater vor ihm, wie seine Ahnen vor ihm. Er gehört seinem Stamm an und in seinen Genen ist das Lebensbuch fest verankert in seiner natürlichen Ordnung. Die schon seit Jahrhunderten besteht und immer wieder hart umkämpft war. Sein Stamm hat schon die Sklavenzeit überlebt, Überfälle anderer Stämme, die fast an der Tagesordnung waren. Und auch die Weißen, die versuchten, das Land nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Ohne zu wissen, wie man mit Kamelen umging, wie es sich anfühlt, kurz vor dem Verdursten zu sein, was es heißt, sich gegen die rohen Gewalttätigkeiten der anderen zu schützen.

Das ging nur mit Gegengewalt. Mit Brutalität. Es war nichts Besonderes, einem Feind das Messer in die Brust zu rammen oder in den Oberschenkel, um die Hauptschlagader durchzuschneiden. Nichts Besonderes. Der Tod, der gewalttätige Gevatter birgt eine Grausamkeit, die hier zur Schöpfung gehörte. Wer ihre Schönheit sehen konnte, ihre ganz eigene Ästhetik, die Herrlichkeit des Lebens und wem die Anmut des Todes immer gegenwärtig ist, der ist seines Lebens sicher. Selbstverteidigung ist lebensbejahend. Eine hohe Energie. Freude. Wie ein unsichtbarer Beschützer und Zauberer. Und wer stark war. Wem sie sich nicht zeigte, dem zerrann das Leben auf eine seltsam schicksalhafte Art und Weise. Wie Salz durch geöffnete Hände rinnt und in Geschlossenen bleibt. Der alte Tuareg, er verkauft nicht nur das beste Salz der Erde, nein, er und sein Stamm haben die Ehre, an den Traditionen seiner Vorfahren anzuknüpfen. Auch mit der Faszination der Gewalt. Täglich werden dafür blitzende kleine Schwerter durch die Luft geschwungen, zündeln wie kleine Drachen in der Luft und vollbringen Kunststücke.

Nun bringt seine Tochter einen Drachen nach Hause. Der alte Tuareg bewegt seinen Kopf leise nach vorn. Er kann dieses kleine Reptil schon von Weitem riechen. Mit seinem untrüglichen Instinkt. Kein Kind der Wüste würde auf solch eine verfluchte Idee kommen. Einen echten lebendigen kleinen Drachen. Mit kaltem Blut und schuppiger Haut. Der Drachen als Omen. Er ruft sein Kind mit seiner ehrfurchterregenden Stimme. Sie reagiert sofort. Dann steht sie vor ihm und schaut ihn trotzig an. Sie weiß, was in ihrem Vater vorgeht.

„Mach die Hände auf, Tochter!“ Lea gehorcht. Die Schlange streckt sich sofort wieder aus. Für Lea sind die wenigen Minuten, die ihr Vater das Reptil betrachtet Ewigkeit.

„Sie misst dich, Kind. Sie wird dich solange messen, bis sie groß genug ist. Dann wird sie wissen, dass dein Körper in sie hineinpasst. Und dann wird sie dich verschlingen, mein Kind. Das ist ihr Instinkt, ihre Natur. Das ist das unausweichliche Schicksal, was dich erwartet. Nun, da sie hier ist, werden wir sie als Vertreter der Drachen ehren, doch bevor sie deine Größe erreicht, werden wir uns von ihr verabschieden müssen. Lebendig.“

Der Vater schaut ihr fest in die Augen.

„Verstanden?“

„Ja.“

Lea schüttelt den Kopf. Das ist Zustimmung. Das ist Wüste. So hat sie es gelernt. Auch wenn sie meistens sich selbst überlassen war.

Dann geht sie in das kleine Haus in ihre Ecke und nimmt eine kleine Schachtel aus ihrem selbstgebauten Holzschränkchen. Dort legt sie die kleine Schlange hinein, doch die windet sich an ihren Fingern schnell wieder in die Hand. Sie braucht Wärme. Lea legt sich in ihr Bett und hält ihr Schlangenbaby ganz nah an ihren Körper.

Nun ist es beschlossene Sache. Lea soll in ein ihr fremdes Land fliegen, für vier Monate, so ist es mit den entfernten Verwandten der Großmutter vereinbart. Die Großmutter berichtet ihr von Straßen mit geradlinig angeordneten Bäumen, großen Häusern und schönen Läden mit Blumen und Essen, vielen Anziehsachen. Von weißen Menschen, die fein und sauber angezogen sind. Berlin, dieses Wort hört sie zum ersten Mal. Berlin, Berlin. Lea konnte und kann und will sich darunter nichts vorstellen. Eine Stadt mit vielen Lichtern, eine Stadt mit Tausenden von Menschen, eine Stadt, in der die Zeit rennt. So eine Stadt muss hässlich sein, denkt sie. Viele Lichter, wozu? Hier am Rand der Wüste braucht sie abends kein Licht, Kerzen reichen. Wenn die Sonne sich senkt, möchte sie die kleinen zarten Lichter der Glühwürmchen nicht missen. Mehr will sie nicht. Keine Stadt mit vielen weißen hässlichen Menschen. Alles ist für sie hässlich, was nicht Bilma ist. Alles.

Die Großmutter wirkt nachdenklicher als sonst. Sie ist das Kind einer Deutschen und eines deutschstämmigen Franzosen, die während der französischen Besatzung 1920 zuhauf ins Land gespült wurden. Nach dem „Afrikanischen Jahr“ ging die Familie nicht zurück, zu sehr hatten sie sich an den Lauf der Wüste gewöhnt. So weiß Lea um ihre Geschichte.

„Du kennst doch Deutschland gar nicht“, hat Lea ihre Großmutter angeschrien, „wie kannst du mir erzählen, wie es dort sein soll!“

Die Großmutter schwieg und fing an zu weinen. Doch auch sie ging nach Deutschland, als sie jung war. Aus der Wüste, damals. Und wieder musste sie Deutschland verlassen, so wie ihre Mutter. Zwei Kriege. Als würde Familienschicksal vererbt. Und überall dieser Hunger, der sich in die Därme frisst. Neu verliebt im Unglück wieder in einen Franzosen. Doch das braucht Lea nicht zu wissen, sie ist noch so klein. Bewahren ist Schweigen. Bewahren ist Hüten. Bewahren ist Reinheit. Reinheit und Schönheit. Bilma ein Magnet, die Rettung. Die Zukunft vor der Vergangenheit schützen. Nur, was hat das mit ihr gemacht?

Diese Geschichte wird sie still und leise mit ins Grab nehmen, sie geht niemanden etwas an. Ihre Geschichte, für bittere und schöne acht Jahre in Deutschland bei ihrer Tante. Es fühlte sich damals wie ein Abenteuer an. Sie hat die Sprache vorher mit ihrer Muttermilch eingesogen. Vor allem, wenn ihre Mutter mit ihr schimpfte, tat sie es auf Deutsch. Dann hörte sich ihr Name Bernadette so hart an. Acht Jahre, die sie veränderten. Die ihr zeigten, es kommt immer anders, als man denkt. Wollte man planen, dachte sich der liebe Gott sofort etwas anderes aus. Seitdem denkt sie lieber nicht über die Zukunft nach. Die Zukunft, die ist launisch. Jetzt ist es Lea, die zu ihrer Tante gehen wird, um ihr Herz überleben zu können. Es gibt Lea nicht mehr viel Zeit. Sie selbst, das weiß sie, wäre beinahe dort in Deutschland umgekommen. Und sie hatte ihr Herz dort zurückgelassen. Ihr junges, frisches, unerfahrenes Herz. Lea wird nun genau in diesem Land ihr zweites Leben vorfinden.

Ihre Tochter Nana ist die erste aus der Familie, die sich hier in Bilma mit einem einheimischen Mann einließ. Die Erste. Es ist so selbstverständlich für Nana. Für die Großmutter, die selbst in Bilma ihre Kindheit verbrachte, kam das nie infrage. Sie hatte in der Liebe in blaue oder grüne Augen geschaut. So wie die Augen ihres Vaters. In das Meer wollte sie schauen, nur in das Meer und in den Sternenhimmel. Und anders wollte und konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Und Nana? Ohne sie wäre dieses wundersame Kind Lea nicht auf die Welt gebracht worden. Manchmal braucht es nicht viel, überlegt die Großmutter, um seine Schöpfung zu rechtfertigen.

Dann besinnt sich die Großmutter. Sie richtet ihre Schultern auf und schaut Lea fest in die Augen.

„Du wirst bald nach Berlin fliegen und dann wirst du mir erzählen, wie es dort ist“, antwortet sie mit fester Stimme.

Lea geht nun regelmäßig an ihren heiligen Baum, hockt sich im Schneidersitz auf den Boden und lehnt ihren Rücken an seinen Stamm. Sie betet. Für sich, für ihre Eltern, für ihre Großmutter, für den Baum. Nicht für Deutschland. Vier Monate kann sie zeitlich nicht einordnen, für Lea ist es ein Abschied für immer, vier Monate sind eine Ewigkeit. Kurz überlegt sie zu fliehen. Doch wohin, in die Wüste? Dorthin hat sie ihren Vater, einen alten Tuareg, oft begleitet, manchmal mussten sie sogar mehrere Monate an entfernten Orten bleiben. Sie durfte sich nie mehr als drei Meter von ihrem Vater entfernen. Vor dieser Fremde hat sie Angst. Die Wüste und die fernen Handelsplätze scheinen feindlich zu sein für ein kleines Mädchen wie Lea. Das weiß sie ganz genau. Ihr sind auch die langen trockenen Wege durch endlosen Sand und die großen traurigen Augen anderer Kinder auf den verschiedenen Märkten im Gedächtnis geblieben. Außerdem ist sie ein auffälliges Mädchen, ihre Haut ist heller als die der Einheimischen und wenn Sonnenlicht in ihre Augen fällt, schimmern sie grünlich. Nur im Dunkeln wirken sie braun. Dann fällt Leas Blick auf ihre kleine Schlange, sie ist größer geworden und schaut sie jetzt aufmerksam an. Lea hat sich ihre Schachtel mit den länglich grünen Blättern der Pflanzen vom Ufer so an der Schulter befestigt, dass sie immer bei ihr sein kann. Manchmal bringt sie sie an verschiedene Orte, um ihr die Welt zu zeigen. Sie ist unverhofft anhänglich. Sie verlieren sich nie aus den Augen. Nur reden kann sie nicht mit ihr. So bleibt Lea mit ihren düsteren Gedanken allein. Ihre Heimat, ihre Eltern erscheinen ihr nun umso wertvoller, da sie ihr verloren gehen. Jeder Moment ist von zukünftigem Schmerz erfüllt in ihrer kleinen Brust.