Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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Von Halle nach Berlin

Henriette liegt in ihrem Bett. Ihr rechtes Bein fühlt sich schwer an, es ist eingegipst. Viele Stunden verbringt sie nun allein zu Hause, der Schulweg ist noch zu beschwerlich. Tschibi, der kleine Wellensittich, leistet ihr immerhin Gesellschaft. Zusammen haben sie viel Spaß. Wenn Henriette durch die Wohnung humpelt, läuft er ihr langsam hinterher. Henriette muss vorsichtig sein, bei so einem kleinen Vogel. Henriettes Vater kommt, obwohl sie krank ist, weiterhin nur alle zwei Wochen nach Hause zu seiner Familie. Er muss arbeiten und studieren. Jetzt hat Henriette viel mehr Zeit, ihn zu vermissen. Nach vier Wochen kommt der Gips ab. Ihr Bein sieht schneeweiß aus, die Haut schuppt sich. Es fällt ihr schwer, sich wie früher zu bewegen. Außerdem erscheint ihr das rechte Bein dünner zu sein. So wie der Kontakt zur Welt. Ihre Freunde müssen sie vergessen haben, draußen lacht die Sonne, niemand besucht sie. Nun ist sie es, die bei Lena klingelt.

„Kommt Lena raus, hier ist Henriette.“ Sie steht unten an der Haustür Nummer fünf, das Bein kribbelt.

„Henriette!“, eine scharfe Stimme tönt aus der Sprechanlage in Halle.

„Ja?“ Henriette ist unsicher.

„Ihr geht nicht auf die Baustelle, versprochen!“, die Stimme des Vaters von Lena klingt bedrohlich.

„Nein, das tun wir nicht. Ich hab meinen Kreisel mit.“

„Gut, dann nimmt Lena ihren auch mit. In fünf Minuten ist sie da.“

Die beiden Mädchen begrüßen sich schüchtern, das Erlebnis auf der Baustelle sitzt noch in den Knochen. Sie laufen zusammen auf den Platz vor dem Zentrum, der mit breiten Betonplatten ausgelegt ist, auf die die Sonne knallt. Dann schlagen sie mit ihren kleinen Peitschen die Kreisel an, die sich lustig drehen. In Halle, auf einem Platz zwischen Zentrum, Sand und Neubauten.

Plötzlich ziehen sich Wolken zusammen, die vorher wie kleine Wattebällchen über ihnen dahingezogen waren. Aus der Ferne grollt der Donner. Dann bricht sich das Wasser Bahn und schlägt in Massen auf dem Boden auf. Plötzlich sind viele Kinder auf der Straße. Henriette und Lena laufen zu ihrem Haus. Rasch entledigen sie sich ihrer Sachen, es ist schwül. Die Baupfützen vor dem Haus füllen sich schnell. Henriette badet und es kommt ihr vor, als wäre sie in Bulgarien am Meer im Urlaub. Die Kinder plantschen begeistert, bespritzen sich gegenseitig und kreischen. Henriette fühlt sich wieder heimisch. Beim Abendbrot eröffnet ihr die Mutter, dass sie nach Berlin ziehen werden. Zum Vater. Susanne freut sich, Henriette schaut aus dem Fenster und den weißen Wattebällchen nach.

Der alte Tuareg

Bevor ihr Vater geht, tritt er noch zu Lea und wiegt das sich schlängelnde Tier, das sich streckt, als es in den großen Händen des Vaters liegt. Um sich dann blitzschnell wieder zusammenzukringeln. Er stellt fest, dass das Reptil ein Weibchen und schon größer geworden ist, schneller als der Vater dachte. Er runzelt die Stirn. Lea beobachtet ihn gespannt. Sie spürt die Achtung des Vaters gegenüber ihrem Findling, auf dessen Rücken sich schon gezackte Linien bemerkbar machen. Rot und schwarz. Und Gelb. Der Vater klappt den Kiefer der kleinen Schlange auseinander und befühlt die kleinen Zähne. Er drückt auf die seitlichen spitzen Zähne, aus denen sich eine Flüssigkeit absondert. Die zerreibt er zwischen seinen kräftigen Fingern. Dann legt er die kleine Schlange vorsichtig in Leas Hände, die sie schnell in der kleinen Kiste verschwinden lässt. Der Vater dreht sich um und geht. Lea sieht ihn zu seinem Kamel laufen, die Silhouette seines großen Körpers harmoniert beeindruckend mit der Größe seines Kamels Lala. Er reitet es seit vielen Jahren. Sie vertrauen sich ohne viel Tamtam. Nie lässt ihr Vater Lala in der Sonnenhitze stehen, so wie es viele andere Besitzer mit ihren Kamelen machten, bis sie durchdrehten und verzweifelt wegrannten oder ihre Besitzer bissen.

Nie bindet der Vater seinem Kamel die Beine zusammen. Immer steht in einem Eimer Wasser für Lala bereit und immer auch getrocknetes Gras und sogar Brot. Lala dankt es dem alten Tuareg mit Sanftheit und Gutmütigkeit. Und auf langen Ritten durch die Wüste mit Hartnäckigkeit und Härte gegen die gleißende Hitze. Sein Kamel kann sich durchschlagen, Sandstürmen trotzen, lange Durststrecken überwinden. Es ist zäh. Schön und zäh in der Wüste. Der Tuareg weiß, von ihm hängt dort in der gelben Unendlichkeit der Welt sein Leben ab. Und das seiner Familie. Überlebenskampf. Um nichts in der Welt würde er sein Leben tauschen wollen. Nicht mit der Moderne, nicht gegen Geld, nicht gegen Liebe. Seine dunklen Augen sind wie die eines Wolfes, sie glühen durch die Nacht, sein Blick ist dann feindselig. Und so manch ein nächtlicher Reiter durch die Wüste wagt es nicht, sich zu diesem düster und konzentriert wirkenden Mann ans Feuer zu setzen. Dann achtet der Tuareg nur auf mögliche Gefahren, auch seine Ohren nehmen jedes Geräusch wahr. Und jeder Fremde oder auch vermeintliche Freund kann hier schnell zum Feind werden. Das sagen ihm die unzähligen Geschichten, die sich die Einheimischen erzählten. Sie haben sich in den langen Nächten von Jahrzehnten, Jahrhunderten an den Feuern in der Wüste erhalten. Tagsüber arbeitet er hart, Handel betreiben, Tiere pflegen, das kleine Haus flicken. In den Fältchen seiner Haut immer den Wüstenstaub, der ewige Begleiter dieser Wildnis.

Unbezähmbar wirkt auch der sanfte, stolze Blick Lalas mit stets hoch erhobenem Kopf. Lea dankt dem Kamel oft, wenn es ihren Vater heil von den langen Touren wiederbringt, mit einer Extraportion Hirse, die sie sich selbst heimlich vom Munde abgespart hat. Manchmal gibt Nana etwas dazu. Lalas regelmäßiges Kauen nimmt sie als Danksagung. Oft auch nimmt sie eine alte verrostete Stahlbürste und kämmt das von der Sonne verblichene und struppige Fell. Es fühlt sich strohig an, trotzdem liebt es Lea, ihm geduldig durch das Fell zu streichen. Und Lala genießt es. Die langen Wimpern haben es Lea besonders angetan, stundenlang schaut sie sie an und versinkt in den sinnlichen Tiefen der dunklen großen Augen. Sie wusste, was das Kamel wusste.

Das Wüstenmädchen bemerkt, dass der letzte Blick des Vaters dem Familienradio mit dem Generator gilt. Auch sonst fällt es dem beeindruckenden Tuareg schwer, Abschied zu nehmen. Zu gerne hört er mit seiner Frau Nana und der Großmutter während der Mittagshitze Radio. Unvergesslich die Momente für Lea, wenn sich die Luft wie eine zweite Haut über alle legt und die Stimmung einen sanften Frieden verbreitet. Im Hintergrund die fröhlichen Stimmen aus dem blechernen Ding. Nun werden sie sie allein hören müssen. Mit der kleinen Schlange.

Lea schaut ihrem Vater noch lange hinterher, wie sich sein Kamel mit der Salzkarawane in der Wüste wiegt.

Der kurze Weg über das Gelände des Naturkundemuseums

In Berlin wartet eine große Vierraumwohnung auf die Familie. Susanne richtet sich sofort ihr neues Zimmer ein. Henriette ist um Tschibi besorgt. Zug. Das schlimme Wort. Hoffentlich hat sich der kleine Vogel den nicht geholt. Die Krankheit, die so ein winziges Vogelherz schnell zum Stillstand bringt. Als sie das Tuch, das sie um den Vogelkäfig gewickelt hat, hochhebt, schauen sie kleine Knopfaugen quicklebendig an. Flink hüpft Tschibi vom Boden auf die Holzstange, um an ihrem Finger zu knabbern, den sie ihrem geliebten Vogel hinhält.

Henriette bekommt einen kreisrunden Strohteppich in ihr Zimmer auf das graue Linoleum gelegt. Die gelben Vorhänge bleiben. Aus ihrem Fenster schaut sie nun auf ein altes Haus mit grauem Putz und alten, verwitterten Holzfensterrahmen. Die Fenster, die meisten ohne Gardinen, sehen leer aus. Trist. Alt. Allein. In ihnen spiegelt sich das Hochhaus, in dem Henriette nun wohnt. Der Himmel ist verschwunden, Henriette fühlt sich auf sich zurückgeworfen. Links vom Haus vor ihr erspäht sie eine große graue Wand. Keine Augen – keine Fenster – in ihr, einfach nur eine kahle Steinmauer, grau verputzt, vermörtelt, mindestens zehn Meter hoch. Ideal zum Ball spielen beschließt sie sofort. Ideal. Ideal.

Bald hat sie eine Abkürzung entdeckt. Der Schulweg führt durch die Gitterstäbe des angrenzenden Naturkundemuseums. Ihre Schultasche fliegt zuerst über den Metallzaun. Dann hält sie sich mit den Händen an den Gitterstäben fest, um die einen halben Meter hohe Metallplatte zu überwinden und einen ihrer Füße hoch in den Zwischenraum zu stecken. Nun zieht sie den Rest ihres Körpers hoch. Dann dreht sie ihre Schulter rechts herum, um mit dem Kopf voran durch das Gitter zu schlüpfen. Erst der Oberkörper, dann die Hüfte, zum Schluss die Beine. Erleichtert hüpft sie auf der anderen Seite hinunter. Geschafft. Dann schnell die Straße, die eine leichte Biegung nach links macht hinuntergelaufen und schon kommt sie über die Invalidenstraße zu ihrer Schule. Nur noch drei Minuten. Jetzt kann sie zehn Minuten länger schlafen. Zu gern liegt sie bis nach Mitternacht mit einer Taschenlampe bestückt unter ihrer Bettdecke und liest. Der stille Don, Pony Pedro, Wolfsblut, Onkel Toms Hütte.

Die Abstände zwischen den Gitterstäben werden immer kleiner oder ist ihr Körper gewachsen? Ihr Kopf darf nicht wachsen, es ist jetzt schon ziemlich knapp. Sie hüpft die Treppe hoch und kommt aufwärts zu einem großen, überdimensional wirkenden Tor mit schwarzen Ornamenten aus Metall. Nur Riesen, denkt sie, können es öffnen. Dort vergisst sie nie, ihren Hund Kuno zu streicheln. Treu und beständig sitzt er dort, egal ob es regnet oder schneit. Sein Fell glänzt in der Sonne, gusseisern. Ihre zarten Hände streicheln über seinen bronzefarbenen, kühlen, glatten Kopf. Kuno, die einzige emotional stabile Komponente in Henriettes Leben, eine Statue aus Bronze. Kuno gibt ihr Mut, die Tage in der Schule durchzustehen. Einer Schule, die zu groß ist für Henriette. So wie die Tür vom Naturkundemuseum auf sie wirkt, wie aus einer anderen vergänglichen Zeit, so wirkt auch dieses alte Gebäude auf Henriette einschüchternd. Monströse Steintreppen, in die Länge wie auch in die Breite gezogene Flure und Räume mit Fenstern bis unter die Decke. Henriette fühlt sich im Gegensatz zu der kleinen beschaulichen Schule in Halle hier verloren. Verloren in Berlin. Mit einem einzigen Freund: Kuno. Zeit. Vergeht. Still.

 

Es geht nicht mehr. Henriette ist zwar nach oben gekommen, beide Füße stehen fest in den Zwischenräumen der Gitterstäbe, auch ihre Schulter ist schmal genug hindurchzuschlüpfen, doch ihr Kopf will nicht, kann nicht. Sie probiert es mit der rechten Gesichtshälfte zuerst, dann mit der linken. In welche Richtung sie ihr Gesicht auch neigt, mehr nach unten oder doch ein wenig nach oben, nein, verflixt, ihr Kopf passt nicht durch. Aua, aua. Die Schultasche liegt schon auf der anderen Seite auf dem Boden. Die Stirn beine an ihrem Kopf schmerzen, doch beim besten Willen, es geht auch mit Zähne zusammenbeißen nicht. Obwohl gestern? Da ging das noch. Henriette läuft nun schnell den Weg über die Zinnowitzer Straße außen herum. Jetzt hat sie den doppelten Weg, rennt in das Gelände des Museums, um die Tasche zu holen, die noch am Boden liegt, wie sie hofft. Kurz noch wirft sie einen Blick zu ihrem Wohnhaus. Hoffentlich kommt sie nicht zu spät. Doch mit Pascal, Karsten und Tom hat sie nicht gerechnet. Die drei Jungs grinsen breit und halten Henriettes Tasche siegessicher in ihren Händen. Henriette, die gerade die Biege passiert hat, rutscht der Mut in die Hose.

„Kommst du heute Abend zum Nordbahnhof? Dann kriegst du deine Tasche.“

Die Stimme gehört zu Pascal. Henriette nickt nur, ihr Herz klopft bis zum Hals und trommelt in ihren Ohren. Pascal nimmt die Schultasche und legt sie Henriette in den Arm. Dann gehen die drei laut grölend den Weg zur Schule. Henriette wartet noch ein bisschen, dann geht sie ihnen in einem Sicherheitsabstand hinterher und hofft, sie drehen sich nicht noch einmal um, um wieder zu ihr umzukehren. Heute kommt sie zu spät. Jetzt ist es auch egal. Ihre Schritte werden von ganz allein langsam. Den ganzen Tag kann sie nur an eines denken: Dass sie dort nicht hingehen wird. Nordbahnhof. Ihre Mutter würde sie niemals abends rauslassen und außerdem hat sie Angst vor den drei Jungs.

Sie weiß noch nicht, was es ist. Es ist da, es kommt, etwas, denkt sie; und spürt sie. Eine Wut, die langsam in ihr aufsteigt. Pascal kommt sich wahrscheinlich total cool vor.

Am nächsten Tag – Henriette nimmt morgens sofort den langen Weg zur Schule am Intershop vorbei –, ist Kuno weg. Henriette schaut einmal, zweimal. Er sitzt nicht auf seinem Platz. Sie beschleicht ein unwohles Gefühl. Langsam läuft sie weiter zur Schule. Im Klassenraum – sie fühlt sich immer noch fremd – steht sie vor zwei Klassenkameradinnen, mit denen sie sich unterhält. Plötzlich spürt sie eine Hand zwischen ihren Beinen. Henriette dreht sich um und sieht Pascal. Er schaut sie dreist an, Henriette hört fremdes Lachen. Es ist ganz still im Raum. Dann ein lautes Klatschen. Henriettes Hand auf Pascals rechter Wange. Pascal entweicht das Grinsen aus dem Gesicht. Henriette sucht den nächsten Tisch, den sie Pascal vor die Füße schießt, ebenso Stühle und andere Tische. Das Klassenzimmer sieht chaotisch aus.

„Das machst du nie wieder!“

Henriette erkennt ihre eigene Stimme nicht, die bis auf den Schulflur zu hören ist. Dann sieht sie die Lehrerin im Türrahmen stehen.

Autowüste

Die Großmutter hat sich um sämtliche Papiere für Lea gekümmert. Das Visum von der deutschen Botschaft, der Nachweis über die Gelbfieberimpfung und Flugpapiere. Iris und ihr Mann Bernd aus Deutschland haben eine Bürgschaft für Lea telegrafiert. Lea versucht in letzter Zeit immer, die Geschäftigkeit der Großmutter zu ignorieren. Die Schlange hat nun einen Namen. Kleopatra. Auch die Großmutter scheint sich zunehmend für Kleopatra zu interessieren. Stundenlang schaut sie ihr zu, wie sie sich durch das Gras windet, an den kleinen Wassernischen sich entlangschlängelt, nach kleinen Insekten schnappt. Sie empfindet etwas für dieses kleine kalte Wesen. Blaues Blut wird ihnen nachgesagt, ein Reptil, Schuppenhaut und doch lebendig. Ob sie ein kaltes Herz hat, ein grausames? Wie kann ein Lebewesen ohne Gefühle leben? Existieren? Das fasziniert die Großmutter, es fesselt sie. Die grausame Schönheit der Schlange steigert sich mit jedem gewachsenen Zentimeter. Grandios. Bernadette ist fasziniert. Lea bemerkt kleine Veränderungen an ihrer geliebten Großmutter. Der Blick wird manchmal, beim Betrachten des Schlangenbabys, so nennt Lea sie manchmal noch, fast starr. Als würde das heranwachsende Gift eine hypnotische Wirkung entwickeln, eine bisher nicht gekannte Magie von einem Fluch, getarnt in majestätischem Gewand. Und je mehr diese Magie von der Großmutter Besitz ergreift, umso mehr beginnt die nun misstrauische Lea Kleopatra instinktiv abzulehnen.

Einen Monat nach dem Aufbruch des Vaters in die Wüste bringen die Großmutter und Nana sie zum Flughafen. Der Lastwagen, mit dem sie zum Flughafen fahren, kommt mit einer Stunde Verspätung vor der Post mit quietschenden Reifen zum Stehen. Staub wirbelt auf. Der Abschied von Nana und der Großmutter ist kurz. Im Flugzeug riecht es komisch. Lea fliegt von Bilma nach Niamey mit einem klapprigen Zweimannflieger. Von dem sandbedeckten unbefestigten Landeplatz holt sie ein Flugbegleiter ab und bringt sie in eine große Halle. Der nächste größere Flieger geht über Casablanca nach London, dort bringt der Flugbegleiter das kraushaarige Mädchen in einen Zwischenbereich; er hat eine kleine Matratze und eine Decke mitgebracht. Sechs Stunden später fliegt sie direkt nach Berlin.

Berlin, eine Stadt, in die sie nicht will. Das fremde Land betritt Lea allein. Die Stimmen von vielen Menschen überfordern das Kind zeitweilig, bis sie sich vorstellt, es sind die Grillen aus der Wüste. Die vielen künstlichen Lichter schmerzen zuerst in ihren Augen, dann gewöhnt sie sich daran. Nicht gewöhnen will sie sich an die vielen fragenden Blicke. Sie überlegt sich, ob es wohl daran liegen könnte, dass sie aus einem dunkleren Haus schaut als die anderen. So ist es bestimmt der Großmutter ergangen, als sie als einzige Weiße mit ihrem Mann in Bilma blieb. Je näher Lea Berlin entgegenfliegt, umso mehr fürchtet sie, wird ihr dunkles Gesicht sehr einsam in viele weiße Gesichter schauen. Sie denkt an Kleopatra, die sie zurücklassen musste und die irgendwie einen Platz in der Familie einnimmt, den sie in ihrer kindlichen Gemütsverfassung nicht einordnen kann. Eine Schlange, ein Haustier?

Lea tritt auf die an das Flugzeug herangerollte Treppe und schaut in die Ferne. Die bietet der Flughafen Tegel im ersten Moment. Sie kann das weiße flache Flughafengebäude nicht so recht von dem Hintergrund des Himmels unterscheiden, die Sonne blendet sie. Ihre Augen haben sich so sehr an das künstliche Licht in den Flugzeugen gewöhnt. Intuitiv läuft sie den anderen Menschen hinterher. Es wird schon so richtig sein. Die Stewardess, die sich sehr freundlich um sie im Flugzeug gekümmert hatte, ist nicht mehr da. Immer lächelte die Stewardess sie während der Stunden im Flugzeug an, während sie kleines Gebäck und Getränke an die anderen Gäste austeilte.

Lea versteht kein Englisch, kein Deutsch; nur Französisch, und das spricht hier niemand. Sie verständigt sich mit gelegentlichem Nicken und ihren Augen. Die freundliche Stewardess fehlt ihr jetzt, wo sie verloren vor dem Gepäckband steht. Sie wartet und wartet, die Koffer ploppen auf das Band. Ab und zu wird sie von den schnell zum Gepäckband laufenden Reisenden angeschubst, die wohl Angst haben, ihr Koffer würde von jemand anderem weggeschnappt. Dann endlich fällt ihre prall gefüllte grüne Tasche auf das Band. Sie hat die Strapazen der Reise ebenfalls unbeschadet überstanden. Lea freut sich, einen vertrauten Gegenstand zu sehen. Vor zwei Tagen hielt ihre Mutter Nana die Tasche noch in der Hand und ihre Großmutter streichelte ehrfurchtsvoll und wie bittend über den festen Nylonstoff. Ihr Vater erstand die Tasche von einem der Händler auf dem Markt, er gab dafür einen Teil der kostbaren Hirsevorräte der Familie. Dann läuft sie wieder den Menschen hinterher zum Ausgang. Merde, denkt sie. Sie geht auf die geöffnete Doppeltür zu; das Licht dahinter, eine neue Welt. Eine andere, fremde Welt. Merde, ich will zurück. Merde, hier bleib ich nicht.

Ein großes Schild, von einem kleinen dicklichen Mann gehalten, fällt ihr ins Auge. LEA in großen roten Buchstaben ist darauf gemalt. Neben dem Mann steht eine ebenfalls etwas rundliche Frau, die Haare zu einem Dutt zusammengerollt, mit freundlichen Augen. Die Augenbrauen sind etwas zu stark nachgeschminkt und um den Mund herum lässt sich ein schlecht wegrasierter Damenbart vermuten. Lea fällt das Maskenhafte an ihren Zügen sofort auf. Sie geht auf die beiden zu. Der Mann streckt ihr zuerst die Hand entgegen.

„Ich bin Bernd und das ist Iris.“ Iris umarmt Lea sofort herzlich und fest.

„Merde“, sagt Lea und bleibt zurückhaltend, die Tasche fest in der Hand, als wolle sie sofort umkehren.

Iris und ihr Mann schauen sich vielsagend an.

„Komm!“ Iris nimmt das erschöpft wirkende Mädchen an die Hand; dann gehen sie an vielen Menschen vorbei durch die großen Glastüren, die sich automatisch öffnen zum Parkplatz.

So viele Autos hat Lea noch nie gesehen. Glitzernde bunte Dächer reihen sich endlos aneinander, fast bis zum Horizont. Jetzt wird sie neugierig. Sie staunt. An einem roten Citroen bleiben die drei stehen. Bernd hält den Schlüssel in der Hand, es piept, die Autolichter blinken, dann öffnet er zuerst den Kofferraum. Dorthinein verschwindet der grüne Nylonbeutel. Dann öffnet er die rechte Beifahrertür und für Lea die hintere rechte. Lea sitzt hinten. Zu ihrer Verwunderung fährt Bernd nicht in die Stadt, sondern bald auf einer großen Straße in immer einsamer besiedelte Landstriche. Sie sind bestimmt eine Stunde unterwegs. Bald hält Bernd vor einer Dorfkirche. Draußen ist es kalt. Iris schnappt eine kuschelige Strickjacke, die neben Lea liegt, und gibt sie ihr. Die Strickjacke ist pinkfarben. Lea zieht die Jacke an, sie passt perfekt. Die Farbe ist für das Wüstenmädchen fremd, doch sie gefällt ihr. Bernd steigt zuerst aus, öffnet daraufhin den beiden die Tür. Aus dem Kofferraum holt er zwei Körbe heraus.

Bernd trägt die mit Brot und Käse, Saft und Milch befüllten Körbe, die Frauen laufen neben ihm her. Über Wiesen, angelegte Wege, Kieselsteine. Die Wiesen sind feucht, die Luft ist schwer. Die Sonne arbeitet sich gerade durch den Frühnebel. Bernd steuert auf ein kleines Waldstück zu, ein kleiner Weg schlängelt sich dorthin. Jetzt müssen sie hintereinander laufen.

Abrupt wird der kleine Weg zu einem Steg, der am Ufer eines Sees gebaut ist. Kleine hübsche Bänke sind auf dem Steg angebracht. Auf dem See ruhen sich Wildgänse aus, ihr Geschnatter erfüllt die Luft. Wenn Lea vorher lediglich erstaunt war, so ist sie jetzt begeistert. Sie beobachtet fasziniert die Wildgänse, die sich jetzt mit einem Ruck aus dem Wasser erheben und in verschiedenen Schwärmen hoch zum Himmel fliegen. Manche Wildgänse wirken verloren und füllen eilig schnatternd die Lücken in den eigenen Reihen. Lea fühlt sich im Moment wie diese Wildgänse: Schnell, einsam, aufgeregt, den Anschluss verloren, eine Lücke füllend. Nur welche?