Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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Der Drache lebt

Der alte Tuareg schaut in den Sternenhimmel, er hält Leas Hand.

„Hier ist viel passiert in der Zeit, in der du nicht da warst. Unsere Stämme können nicht mehr Hirse durch die Wüste bringen, die Weißen haben viel zerstört. Durch Einmischung. Selbst der Fluss hat das nicht ausgehalten und uns überschwemmt. Die Geister sind böse mit dem, was mit unserem Land passiert.“

Er wirkt nachdenklich und ruhig. Sein Augenweiß glänzt im Licht. Er neigt seinen Kopf, wie um seine Sinne gen Himmel zu richten, von der Seite sieht es so aus, als wären seine Augen riesig. Rund und eindringlich in das Universum gerichtet.

„Die Überschwemmungen haben viel kaputt gemacht, viel zerstört. Wie gut, dass du in Sicherheit warst. Bist du doch unsere Zukunft. Unser Glück. Unser Schatz. Und jetzt sprichst du die Sprache deiner Großmutter und hast unsere vergessen?“

So hatte ihr Vater noch nie mit ihr gesprochen. Wie mit einer Erwachsenen. Er wirkt hart, die Sorgen haben seine ohnehin von Wüstensand gegerbten Züge noch tiefer in sein stolzes Gesicht gegraben. Seine Augen scheinen zu lächeln. Lea spürt die Wärme über den Händen des Vaters, als sie sie kurz berührt. Als hätte er die Wärme der Wüste in den letzten vier Jahren für Lea gespeichert. Nur für sie.

„Ich habe nichts vergessen“, antwortet sie leise. Der Vater hat für die Familie ein neues kleines Haus gebaut. Auf Sand. Lange schliefen sie wie Reisende an den Ufern des sich immer mehr ausdehnenden Wassers. Das alles von Menschenhand Gestaltete unter sich begrub. Immerhin haben sie überlebt, die Flut überraschte sie nicht in der Nacht. Auch wenn Nana mit allem hadert. Das Jammern Nanas überdeckt die geschäftige Betriebsamkeit der ganzen Familie, menschliches Leben zu erhalten und die täglichen Bedürfnisse für die biologischen Vorgänge des Körpers zu gewährleisten. Obwohl Bernadette sich ein anderes Leben als das, das sie lebt, gar nicht vorstellen kann, staunt sie. Über die Wüste und so viel Wasser. Das hatte sie noch nicht gesehen in all den Jahren. Und es waren viele Jahre, die ihre Haut gegerbt und ihre Zweifel mit der Zeit zerstreut hatten. Zweifel an ihren Entscheidungen, die damals so klar waren, um dann doch in den schweren Zeiten der mühsam aufgebauten Sicherheit zu weichen. Und den vielen Gedanken. Zu viele Gedanken. Zu viel Sand und zu viel Wasser. Zu viel Wind. Zu viel Sonne. Zu viel Licht, zu viel Erleuchtendes. Die Höcker der Kamele einzig ragen prall in die Luft. Die veränderten Umstände sind ihnen nicht anzusehen. Gleichmütig schauensie in die Ferne und mahlen mit ihren großen Zähnen.

„Kleopatra?“

Lea schreit laut angesichts der fünf Meter großen Schlange vor dem Haus.

„Ihr habt sie nicht weggebracht? In die Wüste? Das habt ihr doch versprochen?“

Ungehalten stürmt sie auf ihren Vater zu und trommelt mit ihren Fäusten gegen seinen beigefarbigen Umhang und spürt seinen drahtigen kräftigen Körper. Ihr ist mulmig zumute. Dann geht sie zu ihr und setzt sich vor das große mächtige Tier. Der alte Tuareg setzt sich neben sie.

„Deine Großmutter wollte sie um jeden Preis behalten. Deinetwegen!“

„Du lügst!“

Lea weiß es sofort.

„Nein, ich lüge nicht. Vielleicht verschweige ich etwas, weil ich es selbst nicht weiß. Du kannst nur noch Bernadette fragen. Nur noch Bernadette. Ich weiß, es ist ungewöhnlich. Die Leute reden über uns. Schwarze Magie sollen wir machen, wir seien Todgeweihte, so heißt es. Niemand würde je einer Schlange vertrauen. Jedoch, Lea, manchmal tun wir Dinge, die verstehen wir selbst nicht. Und doch wir müssen sie tun. Wir müssen, Lea.“

Mit diesen Worten steht er auf und geht zu den Kamelen, die hinter dem kleinen neuen Haus einen eigenen Weidegrund haben. Lea weiß, mehr gibt es nicht zu sagen. Die Großmutter sieht Lea und dem alten Tuareg, ihrem Schwiegersohn, aus der Ferne zu. Nachts streicht sie Lea wie früher über die Stirn.

„Sie hat genug zu fressen, Lea, genug. Das weiß sie. Sie ist eine Göttin.“

Das Wort grausam behält sie für sich. Zu genau hat Bernadette zugesehen, wie Kleopatra ihre Opfer verschlang Bei lebendigem Leib und ganz langsam, Stück für Stück. Manchmal wunderte sich Bernadette selbst über sich, dass sie die Opfer beneidete. Nicht um die Art und Weise des Todes, den sie starben, sondern um den Tod an sich. Das Ende. Das unendlich schön sein müsste.

Bernadette spürt in sich eine unheimliche Müdigkeit. Bleiern hat sie sich auf sie gelegt und will nicht weichen. Sie kann nicht mehr. Sie kann einfach nicht mehr. Allein der Anblick Kleopatras reißt sie aus der Monotonie des Lebens, der Mühsal, die das menschliche Leben mit sich bringt. Und das fängt mit der morgendlichen Wäsche an, dem Essen, dem Trinken, dem Besorgen von allem. Wäsche waschen, aufhängen. Feuerholz besorgen. Abwaschen. Essen zubereiten. Die Toilette. Saubermachen. Betten reinigen. Die immer müderen alten Hände. Das Gefühl, langsam auszutrocknen. Und das ist nicht nur ihre Haut. Nicht nur die müden Knochen. Nicht nur der Rücken, das Gedächtnis, das immer mehr von der Vergangenheit weiß und sich immer weniger für die Zukunft zu interessieren scheint. Auf sich achten. Und dann wieder von vorn. Immer wieder alles von vorn. Sie ist einfach nur noch müde. Und sie liebt diese Schlange. Kleopatra. Diese grausame geheimnisvolle Schönheit. Stille. Ihre Erlösung.

Geheimnisse der Grenze

Sie hört es flüstern. Erwachsene haben Geheimnisse. Immer wieder, fortwährend. Henriette liegt im Bett und sieht das Licht vom Flur durch die Ritzen der Tür schimmern.

„Mit einem Schwan?“, jetzt kann sie die unterdrückte Stimme der Mutter hören.

„In den Westen. Und jetzt in Bautzen, im Knast.“

Sie scheint jemanden zu wiederholen.

„In den Westen mit einem Schwan, schiefgegangen.“

Die Mutter scheint sich zu wiederholen. Dann wieder flüstern. Flüstern. Stille. Leise atmet Henriette den Sauerstoff ein, um nichts zu verpassen. Sie wagt es nicht aufzustehen, das Rascheln der Bettdecke könnte wertvolle Worte verschlucken. Sie versucht, ihre Ohren in Richtung Tür zu öffnen. Es ist ganz ruhig. Irgendwann hört sie den Hörer auf das Telefon klacken. Henriette denkt nichts. Es ist alles so weit weg. Am nächsten Morgen geht sie wie immer zur Schule. Sie bemerkt dunkelrote Ränder unter den Augen der Mutter.

Dann geht alles ganz schnell. Umzug nach Friedrichshain, dort wo Lenin auf dem Platz vor einem Hochhaus steht. Ein S- und ein U-förmiger Neubau schlängelt sich durch die Stadtlandschaft. Nicht weit weg eine Kaufhalle, über die Straße der Volkspark Friedrichshain. Dort, wo sie bald Tschibi vergräbt. An einem Samstag nach einem Freitag, dem dreizehnten. Um Tschibi weint sie, ihr Vater ist weit weg. Weit weg. Unerreichbar. Sie weiß nicht, wo er ist. Die Mutter redet nicht. Henriette soll funktionieren. Nach der Schule kommt das Rührei in die Pfanne, die Pfanne wird abgewaschen. Die verglaste Durchreiche, die die Miniküche mit der Stube verbindet, wird in der Woche nur zum Frühstück und zum Abendbrot benutzt. Sie wohnen jetzt zu dritt in anderthalb Zimmern, das Zimmer der Mutter ein Durchgangszimmer; Henriette funktioniert. Und wie. Beinahe.

Morgens jedoch läuft sie in den Keller, dort liegen eine zerfledderte Jeans und gefärbte Jacken sowie ihr schwarzes Stirnband. Dann geht sie in die Schule. Nach der Schule wieder der Weg in den dunklen Keller. Henriette hat Angst. Dort unten. Es muss sein. Einen kleinen Lichtblick muss es geben. Eine schöne Seele braucht auch eigene Sachen. Udo Lindenberg, Ideal, Konstantin Wecker. Ihr Weihnachtsgeschenk, das sie sich heimlich mit in ihr Zimmer nimmt, sendet nachts unter ihrem Kopfkissen. Musik aus dem Westen. The Doors, The Cure, The Scorpions. The Beatles. The Clash. Doch sie funktioniert. Planvoll. In der Schule und zu Hause. Susanne wird weiter und noch mehr verschont. Henriette hat die Verantwortung. Besprochen werden Frühstück, Essen, Einkaufen gehen, Freunde, die sie nicht mit nach Hause bringen darf.

Der Nachbar wirkt freundlich, eine Familie mit drei Kindern. Zu freundlich. Oft versucht er Henriette auszufragen. Er trägt den Vornamen des Vaters nur als Nachnamen an der Tür.

Sie kann sich der Freundlichkeit nur schlecht entziehen. Manchmal, wenn sie zu lange mit dem Schlüssel im Türschloss herumstochert – im Flur ist es immer dunkel –, reißt er freundlich die Tür auf. Als würde er auf Einbrecher achten. So ein Quatsch, denkt Henriette, die kommen doch eher durch das Fenster. Sie wohnen im Erdgeschoss. Henriette könnte nachts heimlich aus dem Fenster klettern und um die Häuser ziehen. Doch es ist niemand da und Susanne, die im hinteren Teil des Zimmers von einem Vorhang von Henriettes Bett getrennt schläft, petzt.

Träume wiederholen sich. Sie läuft durch den Hausflur und Verfolger heften sich an ihre Fersen. Die Verfolger kann sie nicht sehen. Sie ist wie gelähmt. Das fühlt sich schrecklich an, sie spürt, wie die Verfolger sich ihr nähern. Und kann nicht weglaufen, die rettenden Treppen vor sich.

Dann wacht sie auf. Drei Feinde auf dreißig Quadratmeter Wohnraum. Wenn andere Menschen ihren Müll im Hausflur durch die Müllrohre schicken, poltert es. Wie Klabautermänner. Viele Klabautermänner. Über Henriette hört jemand leise Konstantin Wecker – „Genug ist nicht genug“.

Es gibt keine Zeit. Und doch befreit sich der Schmetterling aus seinem Kokon, um zu fliegen und die Blüten dieser Welt zu bestaunen. Aus Mädchen werden junge Frauen. Aus Jungen Männer. So wie die Zeit den Wind vor sich hertreibt, der den Samen vor sich bespielt und fallen lässt, verwandeln sich Geschöpfe. Die Zeit, nicht existent, ein mystischer Verwandlungskünstler in der Unendlichkeit.

Sonnenallee – Arabische Straße

 

Lea schaut hinter sich. Die rote Tür pendelt leise hin und her. Dahinter das dunkel schimmernde Licht. Wie kam sie hierher, wie konnte das nur passieren? Lea läuft zur U-Bahn. Gesichter, Gesichter, Gesichter.

Abends sitzt sie im Hinterhofgarten, vor sich ein Glas Wein. Sie hört den Specht gegen einen Baum klopfen, folge deinem Herzen, sagt er ihr. Soll das ihr Herz sein? Wenn sie das ihrer Mutter erzählte, an ihren Vater darf sie gar nicht denken. Niemals sollten sie dies erfahren. Niemals. Wie crazy eigentlich. Sie mit ihrer romantischen Seele, ihrem zarten Herzen, hat sich heute zum zweiten Mal vorgestellt. Sie schaut die Fenster des Hofes hoch. Die meisten haben keine Gardinen. Auch keine schwedischen. Sie fühlt sich so kriminell, so schrecklich kriminell. Alle Menschen um sie herum würden sie verachten, wenn sie das wüssten, da ist sie sich ganz sicher. Auweia. Auweia. Auweia. Dann fällt ihr Blick wieder auf die Fenster. Die Wohnung dahinter ist unbezahlt. Noch ein Monat, dann fliegt sie raus. Und wie soll es dann weitergehen? Obdachlos, unter Brücken schlafen, bei Freunden ab und zu, die dann auch nicht mehr lange ihre Freunde sein würden.

Morgen wird sie anfangen, außerdem hat sie sich ja das Beste rausgesucht. Geführt von einer Frau, sie kann nein sagen, sie kann durch den Vorhang schauen, ob die Männer, die hereinkommen und in den Empfangsraum gebeten werden, ihr zusagen. Und selbst, wenn sie sich vorstellt und ihr der Mann nicht zusagt, kann sie der Hausdame Bescheid sagen, dass sie den nicht wollen würde. Die Hausdame regelt das dann mit dem Gast. Außerdem stellen sich ja mindestens noch zehn andere vor, das heißt noch lange nicht, dass der sie dann auch nimmt.

Lea atmet tief durch, wenn sie die zwei rückständigen Mieten bezahlt hat, dann macht sie ganz ruhig. Dann ist das Erste geschafft. Die Steuernummer ist besorgt, für Massagen. Und alles ist geschützt. Nie ohne Kondom, weder oral noch so. Sie zuckt bei dem Gedanken oral zusammen. Was ist das für ein schreckliches Wort. Das würde sie sowieso nicht machen, auch wenn es in ihrer Beschreibung steht, genauso wie anal. Wie ekelig. Das ist nur zum Anlocken, bei den Männern findet viel mehr im Kopf statt, als in Wirklichkeit. Das ist doch Wahnsinn. Was für eine Welt. Was für eine Welt, in die sie da hineingeboren wurde. Warum eigentlich muss, soll man das Leben meistern müssen? Wofür? Sie könnte sich doch auch einfach aufgeben. Genau heute. Jetzt. Einfach sterben, nicht mehr atmen. Nie mehr. So allein und verlassen hat sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Von der Wüste in den Puff. Lea muss lachen. Welch Farce. Wie absurd. Oder ist es was anderes?

Sie erinnert sich an die Worte ihrer Großmutter zu ihrer Mutter, sie hatten sich ihr eingebrannt, waren sie für das sanfte Wesen Bernadettes doch ungewöhnlich:

„Manchmal denke ich, du bist zwar eine schöne Frau, doch irgendwie, wo ist das Feuer? Warum so normal? Auch ich war einmal schön, doch auch rebellisch und natürlich, musste ich dafür bezahlen. Teuer. Doch wo ist dein Feuer? Immer den Ball flach halten, klein bleiben, normal. Ängstlich. Wie öde, Nana, wie öde.“

Nein, öde wollte sie nicht sein, aber ist das der richtige Weg?

Ist nicht eigentlich so gut wie alles falsch, egal wie herum man etwas macht? Oder ist irgendwie alles richtig, weil es nur falsch sein kann. Die Erde rund oder flach, egal.

Eigentlich wollte sie mal studieren. Hätten doch ihre Pflegeeltern es nicht vergessen, den Termin beim Notar vor sich hergeschoben. Immer und immer wieder. Im vollsten Vertrauen, das es Zeit gäbe. Noch. Genug Zeit. Ihr Erbe, das versprochene Testament, so gewonnen wie zerronnen. Sie traf keine Schuld, weder Bernd noch Iris noch sie. Der Tod kam zu überraschend, sie dachten, sie hätten noch Zeit, alles zu regeln. Sie hat sie doch gepflegt, erst Bernd, mit Iris zusammen, und dann Iris. Gewaschen, gefüttert, zum Klo gehievt, die Kacke, die danebenfiel, aufgesammelt, Würgkrämpfe unterdrückend. Die Hände gehalten, in liebende traurige Augen geschaut und alles Ekelige sofort wieder vergessen. Lea atmet tief durch und gießt sich noch ein Glas ein. Dann trinkt sie einen Schluck. Und dann das. Einfach vergessen. Und wirklich vergessen. Da kann keine Bosheit dahintergesteckt haben, Iris und Bernd haben bestimmt nicht gewollt, dass der Staat, den sie nie mochten, ihr Geld bekommen würde. Bestimmt nicht. Sie haben es einfach vergessen. Erst Bernd und dann Iris. Dann sie selbst. Wir haben es vergessen. Es war keine Zeit mehr, zum Schluss ging alles zu schnell. Erst mit Bernd und dann mit Iris. Das Sterben; der Tod kam unverhofft und plötzlich. Das Bessere ist der Feind des Guten. Der Tod, er nahm sich erst Zeit mit den beiden, als würde er es auskosten wollen, das Leid und die Traurigkeit des Abschiednehmens. Als hätte er seinen Spaß daran. Als fände er es lustig. So, als würde er sich dafür rächen wollen, dass sich Iris und Bernd wirklich geliebt haben und auch viel Spaß in ihrem Leben hatten. Wie viel haben sie miteinander gelacht, wie lustig war es hier immer. Lea kullern die Tränen die Wangen herunter. Und jetzt das. Dann ging es Schlag auf Schlag. Merde. Der Puff. Immerhin haben sich Bernd und Iris jetzt wieder, gemeinsam im Himmel. Die nächste Reise. Das war immerhin ein Trost, auch wenn er ihr jetzt nicht weiterhilft. Vielleicht sollte sie sich auch so was wie Kleopatra halten. Hier.

Vor dem Sofa würde sie dann liegen. Die Deutschen würden durchdrehen. Schwarze Magie. Nee, die hätten ganz andere Mittel parat. Wahrscheinlich tausend Ämter, hunderttausende Untersuchungen, schreckliche Journalisten. In der Bild würde stehen:

„Wüste bringt Giftschlange mit.“ Mit einem Riesenbild von ihr. Dann könnte sie gleich einpacken. So ein Mist, das mit dem Erbe ist doch verrückt, so war es doch abgesprochen. Dann hätte sie wenigstens in dem ganzen Dilemma Kohle. Money. Auch egal.

Sie gießt sich noch ein Glas ein. Der Abend ist lau, doch jetzt fröstelt sie etwas. Schnell trinkt sie das Glas aus, um sich eine Zigarette anzuzünden. Lucky Strike, das Glück streikt. Dann noch eine. Und noch ein Glas. Stößt sie den Rauch genüsslich aus ihren Lungen? Sie weiß es nicht. Wird es ihre Letzte sein? Bestimmt nicht. Für Gott ist sie zu schlecht. Das Leid geht weiter. Nie mehr wird irgendetwas gut. Nie mehr.

Am nächsten Morgen weiß Lea nicht mehr, wie sie die Treppen hochgekommen ist, oder besser gekrochen. Die Kippen tummeln sich um den Aschenbecher und die Flasche ist leer.

Bevor sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle geht, räumt sie nichts mehr weg. Ihr ist so schlecht, dass ihr zu schlecht ist. Zu schlecht, um schlecht zu sein. Zu schlecht, um zu denken. Zu schlecht, zu schlecht, zu schlecht. Nicht zu schlecht, um aufgeregt zu sein. So viel kann ich gar nicht trinken, um zu vergessen. Weil sie jetzt Prostituierte ist oder besser sein wird. Bald. Heute noch. Welch schwarzer Tag! Oder müsste sie nicht denken, welch weißer Tag? Von den Gedanken, schmerzt ihr Kopf wieder. Ihre Nerven liegen blank, viele spitze Pfeile schwirren in ihrem Kopf herum. Und stechen hier und dort. Schwarz war sie ja schon, wenn auch nicht pechschwarz. Und verlassen dazu. Und geprellt. Und allein. Und pleite. Und jetzt auch noch das. Das Tageslicht schießt durch die Augen in ihren Kopf und lässt ihr einen minutenlangen Schmerz. Merde! Merde! Merde! Nichts wird mehr gut. Was soll’s. Egal. Dann wühlt sie in ihren schwarzen Unterwäscheklamotten herum. Wo waren noch mal die Strapse?

Der Rubin

Henriette steht am Strand. Vor ihr das weite Meer. Ruhig plätschern die Wellen und umspülen schäumend ihre Füße. Plötzlich bäumt sich das Wasser auf und das Meer teilt sich. Henriette läuft zwei, drei Schritte vorwärts, ein Rubin wird ihr gereicht. Aus dem Wasser heraus. Genau vor ihr. Der rote Stein. Henriette erwacht und schließt schnell wieder die Augen. O, Mann, bitte lass mich dortbleiben. Ich will nicht erwachen. Dann dringen Kinderstimmen durch den Flur und eine genervte Männerstimme.

Sie blinzelt, kleine Sonnenstrahlen fallen durch den roten Vorhang. Ich will noch nicht, lass es wieder Nacht sein. Sie spürt noch mal rein. Das Meer. Der rote Rubin. Und hier alles Scheiße.

„So, jetzt habe ich eine Reise in die Türkei gebucht!“ Henriette schaut in das verdutzte Gesicht ihres Mannes. Der räuspert sich laut und klappert mit dem Geschirr in der Küche.

Die Jungs toben im Flur, Inga sitzt leise im Wohnzimmer und schaut gespannt Heidi in den Bergen zu. Die Musik dringt in die Küche. Henriette trinkt einen Schluck, der bittere Geschmack macht sie lebendig. Noch mal Tacheles. Das muss noch geklärt werden.

„Weder wolltest du mit mir zur Party deiner Kollegin gehen, noch mich mitnehmen und einen Urlaub hast du auch nicht gebucht. Das habe ich neun Jahre lang getan und mir ständig drei Wochen lang Genörgel angehört. Zu teuer, zu billig, zu weit weg, zu nah, zu tief, zu blöd, zu irgendwas. Ob ans Meer oder ins Gebirge, weder die Almhütte noch das Haus am Meer, ständig passt es dir nicht! Aber selber keinen Vorschlag machen! Aber selber!“

Henriette schnauft. Trotz ihres schlechten Gewissens regt sie sich auf. Ohne ihre Kinder, ein Horror. Und wenn der wüsste. Pah, Türkei.

„Nun fahr ich allein, sonst bin ich reif für die Klapsmühle! Und wenn ich wiederkomme, vielleicht hast du ja dann was für uns alle gebucht!“

Mit diesen Worten dreht sich Henriette um. Über ihr Gesicht laufen Tränen. Der Wut und des Unglücks. Tomas klappert noch lauter mit dem Geschirr. Es riecht nach Kaffee. Mit ihrer Hand sich die Tränen aus dem Gesicht wischend, geht sie zurück und kippt sich Kaffee in ihre Lieblingstasse. Ob sie jetzt auch wieder heimlich in seinen Kaffee pinkeln soll und ihm dann zusieht, wie er ihn trinkt. Damit es ihr besser geht, weil sie heimlich lachen muss? Das hat schon oft geholfen. Der Ärger war wie durch Zauber verflogen. Heute wird es ihr nicht helfen, das weiß sie jetzt schon. Dann geht sie auf die Toilette. Tomas ist immer noch in der Küche, er scheint zu warten.

„Wann kommst du denn wieder?“

„Sonntag, den 22. Juli.“

„Aber ich wäre doch mit dir zur Party gegangen. Wenn ich überhaupt gegangen wäre!“

„Sag mal, merkst du noch was? Wenn ich gegangen wäre. Wenn ich mitgekommen wäre, wärst du nicht gegangen. Du hältst mich wohl für völlig blöd. Wenn du gegangen wärst. Du wolltest allein gehen, stand doch im Kalender drin. Und was erzählst du mir von deinen Kollegen? Auf einer Dienststelle wurden zwei Kollegen und eine Frau bei einem Dreier erwischt. Toll. Sodom und Gomorrha. Alles klar. Und dann allein zu ’ner Party wollen, ach, leck mich, ich fahr jetzt allein in den Urlaub.“

Dann setzt sie noch mal an.

„Obwohl ein Babysitter da wäre, meine Mutter nämlich. Die hättest du nur zu fragen brauchen. Komisch, mit mir willst du nirgendwohin gehen. Nicht Fisch noch Fleisch. Nicht mal ’nen Kaffee um die Ecke beim Bäcker gehst du mit mir trinken. Für fünf Euro, weil wir kein Geld haben, angeblich. Vielleicht gibst du es ja im Puff aus, ach nee, Kolleginnen gibt’s ja umsonst. Sorry, hab ich vergessen. Und für Sex Geld ausgeben, ist dir zu blöd, angeblich! Für deine Frau auch. Was für ein Geizhals, ist doch voll unsexy, so ein Typ!“

Ich pinkel doch noch heimlich in seinen Kaffee, denkt Henriette. Als würde jetzt alles wieder hochkommen. Alles! Eine halbe Stunde später kippt sie ihre Pisse in die halbleere Kaffeekanne. Du Arsch, nie redest du ehrlich mit mir. Und wahrscheinlich stehst du auch noch drauf, denkt Henriette, auf meine Pisse. Wenn er es getrunken hatte, wurde er immer nett, so war es ihr aufgefallen, und es war wirklich nicht von der Hand zu weisen. Die Afrikanerinnen haben das auch so gemacht; ist halt ein alter Brauch. Ich schreie wie eine Italo-Braut und pisse wie ’ne Afro-Tusse. Ist doch voll easy. Sie mag es nicht, so zu denken. Tomas sitzt schon wieder am Computer. Wahrscheinlich wieder auf der Single-Börse, sich als Single ausgebend, umgeben von Kindern und mit ’nem Ring am Finger. Mit diesem Mann werde ich einfach nicht glücklich. Nicht glücklich. Nicht glücklich. Scheiße.

Sie wartet eine Antwort nicht mehr ab und geht in ihr kleines Zimmer. Sie heult. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Zu viel Demütigung. Zu viel Trauer. Warum sind Männer ignorant, solange sie denken, die Frau ist ihnen sicher. War sie immer zu nett? Ja. Muss ja. Maria Callas und der Typ von Onassis. Der hat sie nicht geheiratet und sie war irgendwann am Ende, am Boden. Ihre Karriere hat sie ihm geopfert, freiwillig, nicht weil er es gefordert hat. Nein, Männer sagen das nicht offen, sie nehmen die Frau nur komplett für sich ein, bis sie vertrauen, und dann sind sie wieder weg oder anderweitig verliebt. Ich hab so die Schnauze voll, so sehr. Ich bin nicht mehr nett, zu niemandem, nimmt sie sich vor. Zu niemandem. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße. Genau. Die Tränen laufen trotzdem. Dann schluchzt sie. Wenn es nicht der Richtige ist, hilft heiraten auch nicht. Schluchzend sinkt sie in die Kissen.

 

Eine Rose, die sie sich selbst gekauft hatte, stand schon auf dem Tisch. Einen anderen, der sie ins Kino einlud, den gab es auch schon. Angeblich. Alles nur fiktiv. Fick und tiv. Wie sie es hasste. In Wirklichkeit läuft sie heulend durch den Kiez. Was denn noch? Und jetzt muss sie allein in den Urlaub. Wofür? Damit er aufwacht? Die Liebe wieder neu entdeckt?

Am Abend ergreift sie ihr Telefon: „Babett, stell dir vor, ich hab doch gar kein Geld für die Türkei und jetzt hab ich’s aber einfach gesagt, dass ich wegfahre. Dass ich gebucht habe. Und er glaubt es mir auch noch. Ist das komisch. Jetzt weiß ich nicht wohin und ich muss irgendwohin und ich hab auch gar nicht viel Kohle, jedenfalls nicht so viel.“

„Was? Ich dachte, bei euch ist alles in Ordnung?“ Babett klingt baff am anderen Ende der Leitung.

„Nein, nichts ist in Ordnung, ich erzähl nur nicht jedem immer alles!“

„Bin ich jede?“

„Babett“, Henriette atmet tief durch, „natürlich nicht! Nur was mach ich jetzt! Meine Freunde sind doch keine Mülleimer für diesen Typen, der sich noch mein Mann schimpfen darf. Ich hab so die Schnauze voll, du glaubst es gar nicht. Aber ich hab auch solche Angst!“