Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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Freiheit

Der Urlaub kann beginnen. Henriette fährt von Pankow nach Berlin-Mitte. Friedrichstraße findet sie sofort einen Parkplatz, Dussmann und Lafayette, das sind ihre Favoriten. Mindestens ein Urlaubsbuch, Nagellack und vielleicht ein schönes T-Shirt, das muss drin sein. Beschwingt öffnet sie die Fahrertür, steigt aus und läuft zum Parkscheinautomaten. Wäre schon ungünstig, wenn von heute und auch noch mit der aktuellen Uhrzeit ein Strafzettel nach Hause flattert, wo ich doch längst in Hamburg im Flieger sitze. In Wirklichkeit. In was für einer Wirklichkeit? Sie spürt ein Lächeln in sich aufsteigen. Wie crazy ist das denn, wer bin ich überhaupt? Habe ich mich selbst verlassen? Oder einfach die alte Henriette. Irgendwo gibt es sie noch, irgendwo. Vielleicht ist sie einfach zu Hause geblieben und beschützt heimlich von niemandem bemerkt die Kinder. Damit die andere Henriette auch leben kann, atmen kann, mal ein paar freie Momente, Stunden, Tage hat. Eine Stunde gehört ihr, mit vier Euro hat sie sich das bei den modernen Wegelagerern erkauft.

Eine Stunde. Rituale müssen sein. Sie läuft zum Auto und legt das Ticket gut lesbar hinter die Scheibe. Die Tür klappt zu, dann hält sie inne und läuft noch mal zum Parkscheinautomaten zurück. Ein Impuls. Dort greift sie in den schmalen Schacht, in dem sie manchmal auch böse Dinge vermutet. Kaugummis und so. Doch sie spürt eine Münze, betastet sie vorsichtig mit ihren sensiblen Fingerspitzen, greift sie, nimmt sie raus und staunt: „Türkiye Cumhuriyeti“, murmelt sie vor sich hin. Wirklich ein Wunder.

Das wird mein Beweis sein, dass ich in der Türkei war, ist ihr nächster Gedanke und sie dreht die Münze in ihrer Hand um. 50 Kurus 2009 mit dem türkischen Emblem auf der anderen Seite zieren den Taler. Ihre bedrückte Stimmung wandelt sich. Es soll wohl alles so sein. Es ist richtig so. Dann seufzt sie erleichtert auf, als würde der Taler zu ihr sprechen. Dann bin ich nicht verdammt, mit dem, was ich tue.

In den Fluss springen, ohne zu wissen. Den Ort des Ankommens. Das rettende Ufer. Wo würde das sein? Gibt es diesen Ort? Eigentlich mutig. Doch nur eigentlich. O je, o je. Sie seufzt, ihr Grübchen über dem rechten Mundwinkel gräbt sich dabei tief ein. In die Haut. Manchmal ertappt sich Henriette dabei, diese tiefer werdende Falte trotzig zu beobachten, fast ein wenig feindselig. Alt werden kündigt sich genau dort an. Dann tastet sie immer wieder in ihrer Hosentasche nach der Münze, Magie, das Leben darf manchmal auch eine Lüge sein, eine einzige Lüge, und die auch noch vom lieben Gott unterstützt. Lacht er mit ihr und weint er auch mit ihr? Und wird er auch immer da sein, wenn sie ihn braucht?

Henriette lächelt, die Menschen auf der Straße lächeln mit, erwidern Henriettes Blick. Ja, sie ist eine schöne Frau, hätte sie es doch nur eher gewusst. Bei Annette – sie fährt die Straßen durch Potsdam vor –, auf dem Grundstück staunt sie nur noch. Was ist das denn? Das kleine schmucke Häuschen ist nur durch einen Steg von einem See getrennt. Oder nein, umgekehrt. Das Häuschen ist mit einem Steg zum See mit ihm verbunden. Mit dem Wasser. O Mann, Klasse! In Berlin waren der Tag und die Woche wolkenverhangen, doch hier scheint die Sonne. Schnell räumen die Frauen den Kühlschrank ein und bereiten den Grill im Garten vor, stellen die Stühle und den Holztisch raus, der Sekt kommt kurz in den Tiefkühler, dann beginnt der angenehmste Teil. Nacheinander springen sie in das kühle Nass. Baden und danach auf dem Steg Sekt trinken, die Beine im Wasser baumeln lassen. Welch überwältigender Luxus.

„Schön hier in Türkiye!“

Henriette grinst. Die Frauen lachen. Spät in der Nacht kuschelt sich Henriette, und ohne sich streiten zu müssen, seit Langem ruhig und friedlich in das schmale Bett in einem kleinen Zimmer neben der Eingangstür. Sie ist froh, so weit weg von Tomas, Berlin und den Vampirkindern zu sein. Frieden. Gnade. Frieden.

„Mehr brauch ich nicht!“, murmelt sie in den dunklen Raum hinein.

Dämonen

Lea träumt sie liegt unter dem Sternenhimmel in der Wüste. Leise nimmt sie Musik wahr, die immer aufdringlicher in ihren Ohren wird. Sie sieht Menschen, wie sie mit Champagnergläsern sich gegenseitig zuprosten und unterhalten. Mit einem Mal lösen sie sich aus den Gruppen, um zum aufbereiteten Buffet zu laufen und kleine Häppchen mit Lachs und Schinken in ihre Münder zu stopfen. Ab und zu platscht es, einen Swimmingpool kann sie hinter dem Haus ausmachen. Sie fühlt sich wie in einem Zeitraffer, die Bilder laufen vor ihrem inneren Auge immer schneller ab, bis sie sich selbst inmitten der Menschen wiederfindet. Sie läuft die Treppen zum Haus hoch und begibt sich durch den Flur hindurch in eines der dortigen Zimmer. Vor einem großen Buffet bleibt Lea stehen und nimmt ein plüschiges rundes Ding aus einem der vielen Regale. Es ist blau. Plötzlich fliegt der Plüschbatzen vor das Haus auf den Rasen. Die Menschen dort sind plötzlich verschwunden. Dann wächst langsam ein großer Elefant aus dem runden Ball.

Als sie erwacht, hat sie noch die Bilder des großen Festes im Kopf. Die Vorstellung eines Elefanten als Freund und Beschützer machen ihr ein wohliges Gefühl im Bauch und auch im Kopf. Dann greift sie zum Telefon.

„Hier ist Cosma. Ich komm heute nicht.“

Sie legt auf. Sodann kramt sie im Stapel ungeöffneter Briefe, nimmt sich einen Stift und schreibt:

„Sehr geehrte Damen und Herren der Hausverwaltung. Ab April werde ich die Miete in voller Höhe überweisen. Jeden Monat. Die Mietrückstände werde ich in 14-tägigen Raten in Höhe von 200,- Euro überweisen, bis sie getilgt sind. Aufgrund von Krankheit sind die Zahlungen in Rückstand geraten; ich hoffe auf ihr Verständnis.“ Dann unterschreibt Lea mit dem Namen von Iris. Die Flucht nach vorn. Wenn ich ehrlich bin, flieg ich raus. Das geht nicht. Ich brauch jetzt erstmal Frieden. Sodann brüht sie sich einen Kaffee, reißt das Fenster auf und atmet tief durch. Der Brief liegt jetzt adressiert an die Hausverwaltung auf der Kommode. Schnell springt sie unter die Dusche, sie hat den Drive, den Mut. Wenn, dann jetzt, das kommt nie wieder. Jeans, Shirt, Stiefeletten sind schnell angezogen. Fast panikartig. Bevor die drohende Lähmung wieder eintritt. Dann nimmt sie das Geld für die Post aus der obersten rechten Schublade. Dort hatte es auch Iris immer hingelegt. Das Bargeld für die Woche. Und ab zur Post. Mit dem Brief in der Hand läuft sie die Straße zwischen Kindern und Müttern mit Kopftüchern entlang, immer irgendjemandem ausweichend. Irgendwann zieh ich hier weg, irgendwann. Mehr traut sie sich nicht zu denken. Ein Schritt, ein Brief nach dem anderen. Wenn sie nach Hause kommt, wird sie die Wohnung putzen. Die Fenster zuerst, dann den Boden wischen, Betten beziehen, auch das von Bernd. Ganz so, als wären alle noch da. Staubsaugen. Sie braucht sie jetzt. Bernd und Iris sind noch da. Bernadette und Kleopatra auch. Alle vereint in der Neuköllner Wohnung. Alle.

Noch ein Traum. Lea kämpft mit einem Samurai. Sie kämpfen sich durch viele große Räume. Lea ist wütend, groß und stark. Sie bewegt ihr Schwert, wie eine geübte Kriegerin, die in all ihren Reinkarnationen nichts anderes war. Der Samurai, der auch in früheren Reinkarnationen immer Krieger war, kommt gegen sie nicht an. Auf einmal hält er inne und setzt sich vor sie hin. Lea schaut ihn überrascht an.

„Wofür kämpfst du überhaupt, es sind doch alle schon tot“, sagt er mit intensiver Bassstimme.

„Nein, sind sie nicht!“

Lea wird wütend und holt zum nächsten Schlag aus. Da schaut der Mann oben an die Decke. Lea folgt seinem Blick und erstarrt. Da hängen viele Menschen oben an der Decke, die sie kennt. Menschen aus Bilma, viele Menschen. Auch ein Kind. Die Köpfe hängen an einem Strick, die Augen offen und leer. Nur die Großmutter nicht. Schließlich erwacht Lea. Sie weiß nun genau, es waren nicht die Schlangen. Es waren nicht die Schlangen. Dieser Mann muss sie umgebracht haben. Dann sinkt ihr Kopf zur Seite. Sie weint. Und weint. Und es sind dabei auch die vielen nicht mehr geweinten Tränen der Großmutter. Sie glitzern auf dem Stoff der Bettdecke von Iris und Bernd. Wie neue schöne Träume. Vielleicht wie die verzagten Gedanken an ein neues schönes Leben. Mit Bernadette und Kleopatra. Iris und Bernd. Nana und dem Tuareg, ihrem Vater. Schönheit vergeht nicht. Sie wird erst mal mit allen zusammen hier wohnen, in Berlin-Neukölln. Dann wird ihr nach langer Zeit endlich wieder warm. Sie geht in das Bad und stellt sich vor den Spiegel, betrachtet ihre dunklen Augen, neigt ihr Gesicht ein wenig zur Seite, das Licht fällt seitlich ein, jetzt schimmern ihre Augen grün.

Mit kleinen gelben Sprenkeln darin. Wie die Wüste. Wie Kleopatra.

Das Päckchen

„Hier, ich habe etwas für Herrn Hochsommer abzugeben.“

Der Postbote vor dem Gartenzaun wedelt mit einem Päckchen.

„Aha“, Henriette sitzt als Einzige schon mit einem aufgebrühten Kaffee am kleinen runden Tisch in der Sonne.

Schnell hängt sie sich ihr Tuch über die Schultern und läuft zum Tor.

„Ich bin seine Tochter, danke schön.“ So nimmt sie das Päckchen entgegen.

Jetzt Babett zu rufen und die schöne Ruhe zu stören, da nimmt sie schon lieber einen falschen Namen an. Fängt an Spaß zu machen. Warum kompliziert, wenn’s einfach geht. Henriette unterschreibt mit Sommer, nur eine halbe Lüge. Beschwingt läuft sie in die Küche und legt das Päckchen auf den Tisch, da brummt es. Ihr Handy. Grün blinkt das kleine Nachrichtenfeld auf. Dann tippt sie.

„A H A“.

Na klar, alles klar, ihr Herz beginnt böse zu schlagen. Erst mein Leben voll in Beschlag nehmen und alles bestimmen wollen und jetzt bei meiner Mutter feiern gehen. Klar. Wo sonst. Keine eigenen Freunde? Keine eigene Familie? Arschloch. Und umgekehrt? Nur Feindseligkeiten, seitens seiner Familie aus dem goldenen Westen; ist auch nicht alles Gold, was dort glänzt. Nur Vorurteile, weil ich im Osten geboren bin. Die Attacken der Schwiegermutter sind im Gedächtnis verblieben, auch die abschätzenden Blicke und ihre sich ständig verziehenden Mundwinkel, wenn sie miteinander redeten. Und ihr Sohn? Henriettes Gedächtnis ist wie das eines Elefanten, der sich noch nach Jahren seiner Peiniger erinnert. Ihn, ihren stillen Mann hat sie auch nicht vergessen, wahrscheinlich denkt er genauso wie seine Mutter, sonst würde er sich ja auch mal einmischen und sich für sie einsetzen, oder? Es gibt doch gar keinen Grund dafür, dass sich die Wessis über die Ossis stellten. Was soll das? Haben sie vergessen, dass die Ossis den Krieg bezahlt haben, jedenfalls den größten Teil. Die Russen haben alles abgebaut, jede Schiene, jede Maschine. Jede Schraube, die noch was halten konnte, haben die bekommen. Abgezahlt. Bezahlt. Ende der Diskussion.

 

Aber dann heute bei meiner Ossimutter seinen Geburtstag feiern, die feine Gesellschaft, Herr Kaminsky. O Mann, bin ich sauer.

Ich denke, bei mir ist alles so schrecklich. So tut er jedenfalls immer, mein Mann.

Bei meiner Mutter. Bei meiner Mutter. Bei meiner Mutter. Dann nimmt sie sich eine Zigarette. Am frühen Morgen. Am frühen Morgen? Nee, dazu bekommt der mich nicht. Sie legt die Zigarette zurück. Nur Luxusrauchen, nur mit Wein oder Champagner. Nicht aus Ärger, ganz wichtig, denkt Henriette. Kleine wichtige Lebensbestandteile. Grundlagen, um nicht zu schnell alt und hässlich zu werden. Komisch, dass man sich darum Gedanken macht, wenn man am schönsten aussieht.

Modeschau, drei Frauen. Gelächter. Ladylike. Der Tag ist zu schön, baden, grillen, Modeschauen, viele Witze. Zu schön, um wahr zu sein. Babett schießt Fotos, abwechselnd setzen sie sich Sonnenbrillen auf oder wackeln mit ihrem Hinterteil und versuchen verschiedenste Posen. Mal elegant, mal zum Schreien. Um Mitternacht stehen auf dem kleinen Gartentisch mehrere Flaschen Prosecco, Tarotkarten sind durchweicht, der Tau legt sich auf die Reste von Kaviar, leckerem Brot und Erdbeersoufflé. Babett bemerkt das Päckchen erst am späten Nachmittag. Einen Tag später. Schrauben für einen Bekannten von ihrem Mann, für sein Flugobjekt, das er bauen lassen will.

„So so, das hätte er auch schlauer machen können. Beschäftigung für die Frau. Sich in Erinnerung bringend, der Gatte. Gratis. Kommst du mit, heute Abend bring ich es dem Schmied?“, wendet sie sich an Henriette, die willigt ein.

„Ja, schön, machen wir.“

Henriette genießt den Tag, sie schwimmt um die Wette mit den Enten, es gibt Kaffee am Steg, saure Gurken und gegrillte Würstchen. Dann geht sie duschen, zieht ihr schönes schwarzes Kleid mit hübschen Spitzen am Untersaum an. Selbst fürs Dorf mach ich mich schön, ich hab schließlich Urlaub, denkt sie. Dann düsen sie los; Henriette fühlt sich pudelwohl in ihrer Haut, ausgeruht und irgendwie erleichtert. Das Kleid schmiegt sich an ihren Körper wie eine samtweiche, leicht glänzende, schöne Haut. Immerhin halb Baumwolle, halb Seide. Diesen Materialmix wird sie in Zukunft favorisieren. Babetts Auto ist ein alter weißer Ford, auf Gas umgestellt. Für Henriette ein Rätsel. Benziner auf Gas. Es riecht nach altem Öl und ein wenig nach den vielen Zigaretten, die Babett wie nebenbei inhaliert. Henriette kurbelt ihr Fenster herunter und atmet genüsslich die laue Sommerluft ein. Es riecht nach Rosenduft und weißen Lilien, ab und zu mischen sich Schwaden von Benzingeruch darunter. Selbst das. Lecker. Ein Käfer krabbelt über die Frontscheibe. Henriette beobachtet ihn und ist verwundert, dass er nicht einfach runtersaust, bei dem Wind und dem Tempo. Sie fahren über die Dörfer und halten irgendwann an einer alten Schmiede. Henriette, tiefenentspannt, würde am liebsten weiterfahren, weiter, immer weiter, ohne Kindergeschrei, einfach allein.

Sie parken vor einem alten Haus, das an morsche Ostbungalows erinnert mit dem nicht zu vernachlässigenden Unterschied, dass hier und da ein Anbau aus rotbraunen Ziegelsteinen hervorlugt. Die beiden Frauen laufen auf einem Sandweg um das kleine Häuschen herum, aus dem kleine vertrocknete Grasbüschel um ihr Leben kämpfen. Ein kleiner schwarzer Spitz kläfft ihnen entgegen und verrät den unangekündigten Besuch. Sie laufen um die Ecke, da kommt ihnen schon ein Mann entgegen, um die sechzig, mit verschmitzt wirkenden Augen.

„Hereinspaziert!“, mit einer ausladenden Geste winkt er die Frauen herein.

„In mein bescheidenes Heim!“, ruft er lachend.

Henriette fällt sofort ein dunkelhaariges Mädchen auf und neben ihr der große Mann. Er rückt sofort ein Stück von dem Mädchen weg, als er die zwei Frauen sieht, die da hereinkommen.

„Was wollt ihr trinken? Kaffee? Bier?“

„Naja, erst mal Kaffee.“

Henriette ist schnippisch. Irgendwie ist die Situation kurios. Das Mädchen, bei näherem Hinsehen wirkt sie um die dreißig, eigentlich auch älter, das machen die Augenringe aus, die sich schon sichtbar unter ihre hellen Augen gelegt haben. Zu enge Leggins, billiges Top. Auf dem Tisch stehen Wodka und Bier. Der Schmied geht in das Haus und kommt mit zwei Kaffeetassen zurück, einer kleinen Flasche Sahne und einer halbvollen Kaffeekanne. Henriette schaut die junge Frau neugierig an.

„Der hat hier ’nen Dorfpuff, die Frauen hat er bei einem anderen aus dem Nachbardorf abgezogen.“

„Was?“

Henriette streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr und ist verblüfft. „Und was nimmst du für ’ne Stunde?“, fragt sie unverblümt die dunkelhaarige Frau. Groß und schlank.

„Dreißig Euro!“ Jetzt bemerkt Henriette auch den Akzent und ganz helle kommt sie ihr auch nicht vor.

„Das ist doch viel zu wenig!“

Henriette ist erbost, dreißig Euro für das schönste Geschenk, das eine Frau einem Mann machen kann?

„Sie muss mir nur eine kleine Zimmermiete zahlen!“

Der Schmied wirkt bemüht, sich keinen schlechten Ruf einzufangen: „Ich hab hier auch einen Hengst für Frauen, die mal wieder einen Mann brauchen!“

Henriette lacht. „Mein Gott, was für ein Leben! Nee, danke, kein Bedarf!“

Der Schmied und der andere Mann am Tisch bemühen sich, ihre gerade frisch eingetroffenen weiblichen Gäste zu bewirten. Bier wird eingeschenkt, die polnische Frau, irgendwie von den beiden Männern plötzlich links liegen gelassen, geht in den kleinen roten Ziegelanbau.

„Komm, ich zeig’s dir, unser kleines Paradies“, sagt der Schmied und winkt Henriette zu sich.

Henriette läuft mit dem Schmied durch das Haus, er zeigt ihr die Zimmer.

„Hier schau, ist eine Dusche, sollen es ja gut haben die Mädels hier. Du machst so was nicht, bist viel zu schön dafür!“, droht er Henriette mit dem Zeigefinger.

„Haha! Eine Idee ist das schon, vielleicht geht es den Frauen ja viel besser als mir!“, denkt sich Henriette, frei zu sein und trotzdem Sex und trotzdem Geld. Nur das mit dem Wodka schon nachmittags auf dem Tisch, hm. Doch einem Mann Kinder schenken und ständig in ein mieses Gesicht zu sehen, ist auch die Härte, es reicht irgendwie alles. Ihr. Es reicht, es reicht, es reicht. Und der sie ja auch betrogen hat, gleich zu Beginn der Beziehung schon. Warum kann man sich nicht schneller umdrehen als Frau und einfach gehen. Doch, man kann, man tut es nur nicht, wegen der Hoffnung. Doch Hoffnung, was ist das schon, irgendein Ding, ohne dass man glaubt, nicht leben zu können. Ein Wort mit H, mehr nicht.

Henriette geht zu Babett und dem großen Mann zurück, der sie sehr interessiert und neugierig anschaut. Biere werden auf den Tisch gestellt, Gläser auch olle, schmuddelige Gläser, was soll’s, die Party beginnt. Spät abends tanzen Babett und Henriette mit dem Schmied und dem großen Mann, der sich Frank nennt, in der Werkstatt. Zwischen alten Autoreifen, Werkzeugen an den Wänden, Öl und dreckigen Lappen. In Windeseile hatten die beiden Lautsprecher aufgestellt und das Licht gedimmt.

„Echt witzig“, befindet Henriette ob der plötzlichen Geschäftigkeit von Frank und dem Schmied.

Absurd, absurd, denkt Henriette nach dem ersten Wein; Frank gefällt ihr immer besser, beim Abschied gibt er ihr seine Telefonnummer. Er wirkt so ehrlich und nachdenklich dabei. Auch Henriette ist neugierig geworden. Gut gelaunt treten sie den Heimweg an.

„Erzähl das bloß nicht meinem Mann!“

Babett schaut Henriette an.

„Ich doch nicht.“

Welch Misstrauen, denkt Henriette, ich sitz doch in der Kacke und nicht sie. Oder? Sie auch?

Abends fällt Henriette in einen tiefen Schlaf. Definitiv hat sie zu viel getrunken. Henriette fährt Straßenbahn. Ihre rote Tasche liegt auf einem kleinen Sims, das Portemonnaie guckt dort heraus. Sie begibt sich zu ihrer Freundin. Eine andere Frau steigt mit ihrem Kind ein und setzt sich auf Henriettes Platz, die irgendwie nichts dabei findet. Und auch nicht ihre Tasche holt. Plötzlich muss Henriette aussteigen. Aus einem unerfindlichen Grund denkt sie, dass sie später an einer anderen Haltestelle wieder einsteigen wird und die Tasche dann immer noch dort liegen würde. Mit dieser Gewissheit geht sie nach Hause. Dort überfällt sie die nackte Angst. Wie kann das sein? Sie rast zur übernächsten Haltestelle, keine Bahn, keine Tasche, kein Portemonnaie, keine Frau, kein Kind. Ihr wird klar, dass das alles weg ist. Panik und Angst vor Verlust macht sich breit. Sie wundert sich im Traum, dass sie so denken konnte. Die Bahn später einzuholen. Zeit existiert nicht.

Am nächsten Morgen sieht sie, wie kleine Ameisen den Weg auf den Tisch gefunden haben, wie, bleibt Henriette rätselhaft. Sie findet keine Spur, keine Fährte. Dann setzt sie Wasser auf, sie muss sich einen Kaffee machen, über ihren Traum nachdenken.

Männerfantasien – Kaviar

„Bist du schon lange hier?“, fragt Lea Michaela, die gerade neben ihr sitzt. Die Haare blond, toupiert, große Oberweite, wahrscheinlich Silikon oder auch nicht. Lea hat dafür keinen Blick. Strapse und Schuhe mit mindestens zwölf Zentimeter Absatz.

„Ja, schon zehn Jahre, ist der beste Laden hier für Frauen.“

„Echt? Ja, kann sein, ich hab ja auch nur diesen hier angepeilt.

Weil er von einer Frau geführt wird.“

„Das hat nicht immer was zu sagen“, berichtigt Michaela, „ich war vorher in einem Bordell auf einem Dach mit Swimmingpool und so, den hat auch ’ne Frau geführt. Da kam ich so als Brot an vom Dorf und die war nicht ohne, die Frau, hat uns immer angetrieben.“

„Wie denn angetrieben?“

„Naja, wir sollten Französisch ohne machen und Kaviar!“

„Kaviar? Noch nie gehört! Was’n das!“

„Hm,“ Michaela räuspert sich und schaut zur Hausdame.

„Das ist nicht so lecker, Laura isst grade!“

„Ach, erzähl nur!“, feixt die Hausdame mit vollem Mund und schluckt noch schnell den Bissen ihrer Stulle hinunter.

„Naja, Kaviar ist Kacke essen!“

„Was?“, schreit Lea verhalten auf, „das gibt’s? Das ist doch …!“

„Nichts Seltenes!“, bekräftigt Michaela, „das gibt’s nicht zu knapp. Denen schmeckt das.“

Die Hausdame und die Mädchen auf den Sofas kreischen und schreien: „Iiiiieeeeh.“

Sandra, eine schwarzhaarige mit für Leas Geschmack zu kantigem Po fällt den Mädchen ins Wort:

„Also ich antworte ab und zu im Internet auf solche Suchanzeigen, für so eine Session bekommst du dreihundert Euro, aber einen Tag vorher muss ich es wissen, wegen Abführmitteln und so!“

Die Hausdame schaut Lea vielsagend an. Michaela grinst:

„Ich weiß, wie es geht. Aber ich fand’s auch eklig. Und die Typen, denen siehst du das nicht an!“

„Ja, nee … det siehst du nich’. Anzug, Krawatte, die sehen nicht aus wie Schweine, sondern meistens gepflegt“, stimmt Sandra zu.

Die Frauen sind geübt in Toleranz gegenüber verschiedenen Praktiken, wenn die Frau es auch will. Das ist Grundlage. Stolz.

„O weh, aber hier ja nicht und Französisch ohne auch nicht, nicht mal mit, mach ich hier nicht!“, feixt Lea.

Die Frauen schauen sie erstaunt an. „Hm, naja, wenn du Geld damit verdienen willst!“, wendet Michaela ein und wiegt ihren Oberkörper mit den satten Brüsten hin und her.

„Will ich nicht!“, tönt Lea.

Die Hausdame und Michaela schauen sich mit großen Augen an. Es klingelt. Lea steht auf und schaut hinter den Vorhang, ob der ihr gefallen könnte. Ausnahmen dürfen die Regel bestätigen. Nicht zu jung. Gepflegt ist wichtig. Schick ist wichtig. Sympathisch ist manchmal wichtig. Aber auch wichtig. Nur Deutsche und gepflegt müssen sie sein und irgendwie für den Moment sympathisch. Wenigstens das für später, für den Spiegel, in den sie dann noch schauen will.

 
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