Der Papst kommt

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Sari: Lindemanns #192
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Was er mit den Leuten in seinem Heimatdorf teilt, könnte Kolja keinem Fremden erklären. Obwohl er weniger als die ersten ­zwanzig Jahre in diesem Dorf verbracht hat, ist es in ihn eingesunken, wie die Leute dort reden und gehen, wie sie einander anschauen – und das einmal gefällte Urteil zeitlebens wiederholen, da reicht ein kurzer, wissender Blick. Ein Blick, genauso entschlossen und stumm wie ihre Haltung am Sonntagmorgen im hinteren, dunklen Teil der Kirche.

Wie sie vor vierzig Jahren dort standen, als Kolja ein Kind gewesen war. Eigenarten sind seinem Dorf unwiederbringlich verloren gegangen, nicht anders als überall.

Wie ein magerer, missratener Finger streckte sich das Bahnhofsgebäude aus dem Dorf heraus. In der Spitze des Fingers, in der Bahnhofswirtschaft, saßen ein paar Alte hinter ihren Karten, ihren Gläsern, behütet vom Wirt. Mittels knapper, mürrischer Zurufe hielt er die lahme Herde unter dem Schein der tief herabgezogenen Lampe zusammen.

Grundlos tat sich im Dorf so leicht keiner mit einem anderen zusammen. Die Alten wachten an seinem äußersten Winkel, und damit kein Fremder, kein Anreisender misstrauisch wurde und auf den Gedanken verfiel, das Dorf sei schutzbedürftig, taten die Männer, als ob sie spielten und kamen Abend für Abend auf dieser Fingerspitze zusammen.

So legte sich Kolja als Kind den Zweck dieser beharrlichen Runde zurecht.

Bis zu seinem Umzug nach Karlsruhe genoss es Kolja, während der Wartezeit zwischen zwei Zügen in der Lounge über den Gleisen zu sitzen, in diesen tiefen, roten Sesseln, fremde Menschen zu betrachten und innerlich fortzubleiben, obwohl es keine zehn Minuten gebraucht hätte, um sich in seiner Wohnung ein wenig auszuruhen.

Botanischer Garten

Die junge Frau des Juristen steigt ihm aus eben jener Straßenbahn entgegen, die Kolja hätte nach Hause bringen sollen. Er bleibt stehen, und wäre genauso gut mit einem netten, flüchtigen Gruß in die Bahn hinein an ihr vorbei gewesen.

Selbstverständlich erkennt sie ihn sofort wieder.

„Hallo! Haben Sie sich unsere schöne Stadt angeschaut?“

Kolja nickt.

„Von der Pyramide zum Schloss, über den blauen Weg bis zur Majolika, man ist ja schnell fertig damit.“

„Der blaue Weg?“

„Ja, die 1.645 blauen Kacheln, die vom Schloss aus über die große Wiese bis zur Majolika führen, da sitzt man ganz nett in diesem Hof.“

„Das habe ich wohl verpasst.“

„Na, dann schauen Sie mal bei Ihrer nächsten Tour vorbei, Sie bleiben doch noch eine Weile hier, oder?“

„Ja, schon.“

Sie kommt Kolja einen Schritt näher. Weshalb sie in diesem Augenblick beschließt, ihn kennenlernen zu wollen, verscheucht sie mit einem verlegenen Lächeln, und macht sich zugleich selbst Mut dazu mit einem ungewollten, ruckartigen Nicken. Die offenen Haare fallen ihr ins Gesicht, und Koljas Blick hakt sich fest an der Kette um ihren Hals, feine, goldene Glieder auf sonnengebräunter, glatter Haut. Diese Neigung zwischen Schlüsselbein und Schulterblatt, und wenn der eine Finger über die obere Vertiefung gleitet und der zweite diesem harten Knochen folgt und beide sich berühren in dieser Mulde, bevor sie ... , jede Frau ­beginnt Kolja an dieser Stelle zu erkunden.

„Sie waren etwas verwirrt gestern Abend, stimmt’s?“

„Ja, stimmt.“

Wahrscheinlich läuft sie Marathon oder betreibt sonst einen Ausdauersport, ein magerer, fast knochiger Körper, die enge Jeans und das knappe, weiße T-Shirt stellen ihn weitaus deutlicher zur Schau als die weite, lange Jacke, die sie gestern Abend trug. Ges­tern schätzte Kolja sie jünger ein. Könnte sogar sein, dass sie zwei Kinder großgezogen hat, eher von einem anderen Mann als von diesem kleinen Juristen.

„Der Papstbesuch ist schuld, alle reden jetzt von solchem Zeug. Fritz verpasst keinen Fernsehauftritt von dem Kerl, als könnte er ihm an der Miene ablesen, was den tatsächlich antreibt. Sind Sie etwa auch katholisch?“

„Früher mal.“

„Ach, auch ausgetreten! Habe ich mit achtzehn hinter mich gebracht. Der Verein ist doch ’ne Zumutung für jeden, der vernünf­tig denken kann. Und das Getue jetzt, wenn der Papst mal ein paar Häftlingen die Füße wäscht. Haben Sie gewusst, dass die Felgen des Papamobils vergoldet sind? Da war für mich endgültig Schluss, aber wir gehen besser mal zur Seite.“

Das Gebimmel einer nahenden Straßenbahn, sie kommt laut scheppernd zum Stehen. Die Frau fasst Kolja am Ärmel und schiebt ihn vorbei an dem Gedränge, steuert ihn um die Pyramide herum. Touristen und lärmende junge Kerle bevölkern am Sonntag­nachmittag den Marktplatz. Rentner in beigen Leinenjacken mitsamt ihren Frauen in hellen Kostümen halten sicheren Abstand zu einer Gruppe schwarzgekleideter Punks, viel zu gleichgültig, als dass sie in ihren schweren Lederklamotten, klobigen Stiefeln und den glänzenden Metallringen rund um den Kopf provozieren wollten.

Kolja streift dicht an einem Jungen vorbei, dessen schmale, dreckige Finger geschickt eine Zigarette drehen. Er sitzt auf dem Boden, Rücken und Schultern hat er wie eine Katze eingezogen.

Der Junge sieht auf, blickt Kolja geradewegs ins Gesicht.

„Haste mal ’nen Euro, Alter?“

Rehbraune, junge Augen, und ein freches Grinsen, in dem das Vergnügen des Kindes mitschwingt, dem es unverhofft gelungen ist, einen Erwachsenen zu verblüffen.

Die Frau sieht ihm tatenlos dabei zu, wie Kolja nach seinem Geldbeutel greift und vergeblich nach einem Fünf-Euro-Schein sucht. Münzen hat er keine, unmöglich kann er dem Jungen zehn Euro schenken.

Sie scheint nicht gewillt, ihm auszuhelfen, wirkt vielmehr erstaunt, fast ungeduldig-verärgert.

„Tut mir leid, ich habe kein Kleingeld dabei.“

Der Junge quittiert es mit einem mitleidigen Grinsen. Im Blick der Frau liest Kolja bloß Unverständnis. Hilfloses Zaudern ist sie von ihren sonstigen Begleitern offenbar nicht gewohnt. Kolja durchzuckt es, sich wortlos umzudrehen und wegzugehen. Seit langem fehlt ihm der Elan, eine neue Bekanntschaft zu beginnen, wenn sich nicht auf Anhieb etwas wie Wohlwollen und Gleichklang einstellt.

„Macht nichts, Alter. Trotzdem viel Spaß mit Deiner Puppe!“

„Ich heiße Simona, und Sie?“

Erst jetzt kommt es Kolja in den Sinn. Bis zu diesem ­Augenblick sind sie tatsächlich einander namenlos Seite an Seite durch die Stadt gelaufen. Vermutlich wartet sie insgeheim seit zwei ­Stunden darauf, wie lange es brauchen wird, bis ihm endlich ihr Name fehlte.

„Kolja.“

„Na, das passt doch. Wir können uns duzen, oder?“

„Ja, schon. Aber es braucht eine Weile bei mir, bis ich mich darauf eingestimmt habe.“

„Geht mir gar nicht so. Du hast kein Wort gesagt zu dem Bild eben in der Kunsthalle, ich meine das von Grien!“

„Wahrscheinlich bin ich insgesamt eher langsam, und dazu ziemlich unerfahren, was Kunst angeht.“

„Warte ich eben.“

Simona streckt ihr Gesicht der Sonne entgegen, lässt sich zurückfallen an die Rückenlehne der Bank und schließt die Augen.

Mattes Lavendelblau durchbricht kräftiges Rosenrot, darüber schwingt lichtes Schleierkraut dem Himmel zu.

Der Botanische Garten gehört zu Karlsruhes Attraktionen. Kolja fühlt sich hier endgültig zurückversetzt in jene Zeit, an jene Plätze, zu denen das Wort Promenade passt, und Tanzcafés, Ausflugsdampfer, Ansichtskarten. Ein fast erzwungenes Dämpfen jeglicher Lebensfreude. Wieder scheint es Kolja, als gehöre dieser Platz bereits einer Vergangenheit an, mitsamt dessen müßigen Besuchern, denen der Anblick solch raffinierter Blumenpracht genügt und ein Kaffee unter der filigranen Stahlkonstruktion der Orangerie.

Als Lustgarten war dieser Teil des Schlossparks gedacht, mit Gewächshäusern, Volieren, Grotten und Brunnen. In seiner streng formalen Anlage erwuchs ihm bald seine besondere Eigenart zu innerhalb des übrigen Schlossparks und dessen freizügig-offener Gestaltung.

In Simonas Worten klang dies weitaus schnoddriger, während ihrer improvisierten Führung eben.

Ein seltsamer Zufall, der sie heute Mittag zusammengeführt hat. Kolja lässt seinen Blick auf ihr ruhen. Sie reagiert nicht ­darauf und genießt zugleich die Aufmerksamkeit, hellwach unter ihren geschlossenen Augen. Kolja spürt die Spannung ihres Körpers.

Den ersten Fragen nach Koljas Eindrücken der Stadt hing ihr schlechtes Gewissen an wie überflüssige Dankesworte einer längst erfüllten Bitte. Sie wollte es gutmachen, was Fritz sich gestern an Unhöflichkeit gegenüber einem fremden Gast herausgenommen hat. Aber nicht jedem von Fritz’ Opfern hätte sie zum Ausgleich einen gemeinsamen Nachmittag angetragen – oder mehr, wenn es allein in ihrer Hand läge und Kolja ihre Blicke eben nicht zu selbstgefällig deutet. In den vergangenen zwei Stunden war Kolja in Simonas Augen zu Fritz’ Gegenspieler und offenbar zu ihrem eigenen Retter gewachsen. Wahrscheinlich fällt ihm diese Rolle nach einer Reihe von Vorgängern zu.

Kolja schiebt Simona zu der Sorte Frauen, die auf Reisen den eigenen Geldbeutel am sichersten unter dem Hemd ihres Begleiters aufgehoben glaubt, und alles an unerfüllten Sehnsüchten gleich dazu steckt.

Wie er ist sie neu in der Stadt, mit dem Auftrag, ein neues Touris­muskonzept für die Stadt entwerfen. Ausgerechnet Karlsruhe hat sich dazu eine Fremde eingestellt. Zu Fritz war sie zwei Jahre lang wochenends gependelt. Mit dem Angebot dieser Stelle tat sich vor einem knappen halben Jahr die Gelegenheit auf, gemeinsam in einer Stadt zu wohnen. Es gibt tatsächlich einen Sohn aus ­einer geschiedenen Ehe, er verbringt dieses Wochenende bei seinem Vater. Karlsruhe hätte sich dieser Junge kaum als Wohnort ausgesucht, hätte er seiner Mutter nicht gezwungenermaßen folgen müssen. Die üblichen Schwierigkeiten, Simona hatte es sich leichter vorgestellt und mehr Einklang erwartet, zwischen ihrem Sohn und „meinem Freund“. So redet sie von Fritz.

 

Nun beschreibt sie im Auftrag der Stadt, was Karlsruhe einem Fremden zu bieten hat. Hans Baldung Griens Bild war heute Mittag eine ihrer ersten Stationen, „Die Geburt Christi“ gehört zu den Glanzstücken des Besitzes der Kunsthalle.

Dem Zufall ihres Zusammentreffens müsste Kolja dankbar sein. Gestern Abend war sie Teil der fremden Runde, jetzt sitzt sie an seiner Seite auf der Bank, mit einer größeren Bereitschaft, als sie in Worten benennen könnte oder sich selbst eingestehen würde.

Wieder hat Kolja gestern Abend unbefragt eine Gruppe ­fremder Menschen als Einheit gedacht, sie zusammengeschweißt und sich als Einzelner ihr gegenübergestellt.

Wie oft gerät jedermann in eine solche Lage, dass alle anderen sich scheinbar kennen, zumindest die Erfahrung teilen, bereits ohne „mich“ zusammen gewesen zu sein. Dazu reicht ein ­Zugabteil mit drei, vier Reisenden, in das Kolja hinzusteigt, jedes Mal in der ihm zur Gewohnheit gewordenen Annahme, dass die dort Sitzenden bereits eine Gemeinschaft bilden. Dabei gibt es keine einzige Erinnerung, die diesen Verdacht bestätigt hätte, während Koljas vieler Zugfahrten, dass ihm einer bloß zugenickt hätte, in stummem Einverständnis, nachdem ein anderer sich verabschiedet hatte.

Setzt sich darin die erste Erfahrung von Gemeinschaft fort? Eine verschworene Gemeinde, wie ein kleines Dorf, erkennt sofort und beobachtet sorgsam jeden Fremden. Oder verfahren die meisten Leute nicht ähnlich?

Simona öffnet die Augen.

Mit einem verschämten Lächeln weicht sie der Erklärung aus, warum sie sich den Anschein gibt, als kehre sie aus Träumereien zurück.

„Und, hast Du Deine Gedanken mittlerweile geordnet?“

Sie streckt sich nach allen Ecken, wie ein eben aufgewachtes Kind, neigt den Kopf zur Schulter und sieht Kolja unschuldig an. Es fehlte nur noch, dass sie sich die Augen reibt.

„Ein gelungenes Bild, würde ich sagen.“

„Hey!“

Sie richtet sich auf.

„Jetzt bin ich ja mal gespannt.“

Ihr fester Entschluss, ihm einen Vorschuss zu geben, liegt blank und offen in ihrem Gesicht, und Kolja weiß nicht, warum und auf was.

„Weil alles drinsteckt, was Du mir eben erklärt hast.“

„So leicht kommst Du mir nicht weg!“

„Wer ist denn hier der Kunstexperte? Ich kann Deinem Urteil nur zustimmen.“

„Und Du hast selbst überhaupt nichts darin entdeckt?“

Sie schiebt ihre Beine unter den Hintern und wippt leicht im Schneidersitz vor und zurück. Das Licht der Abendsonne bricht zwischen zwei Wolkenstreifen auf und eine überraschend schöne Sanftheit entspannt ihr Gesicht.

Sie jetzt an den Schultern fassen, die Hände an ihre Wangen legen und auf dieser warmen Haut wandern lassen – Kolja senkt den Blick zu Boden.

Sie könnte fast seine Tochter sein, viel zu unbedarft jung für ein Liebesverhältnis und für eine schwesterliche Freundin zu bedürftig, zu schwach. Seit ein paar Jahren gelingt es Kolja meist überraschend schnell und gut, das ab und an drängende Verlangen nach einer Frau zu besänftigen mittels der zur Genüge wiederholten Erfahrungen. Viel zu oft spannte sich gereizter Überdruss erschreckend bald über die anfängliche Begierde.

Er hält die Augen auf den Boden gerichtet. Simona würde es nur falsch deuten, was ihr sein Gesicht in diesem Moment an Nähe verspricht.

In der nüchternen Einschätzung, dass Kolja an diesem Gespräch über Kunst nichts liegt, nicht jetzt, treibt Simona das Spielchen weiter. Mit Blicken, scheinbar zufälligen Gesten, in ihrer Absichtslosigkeit nur umso verräterischer, sucht sie die Stimmung leichthin auszuweiten, als hinge sonstwas daran, Kolja für sich zu gewinnen.

„Oder ist das Gerede schuld, der Papst und Jesus an allen Ecken und Enden, dass Du keinen Spaß hast an dem Bild?“

Selbst Koljas Mitleid wäre Simona ein Funken Glut für ihr glimmendes Feuerchen an Hoffnung. Kolja ist das Geplänkel mit einem Mal leid. Zu Grien fällt ihm in der Tat nichts ein. Er sucht nach Eindrücken von vor Jahren besuchten Ausstellungen.

„Reichen denn nicht alle guten Bilder darüber hinaus, was sie abbilden, oder führen tiefer, wie immer Du es nennen willst.“

Da grinst sie, als sei ihre Strategie geradewegs aufgegangen, und Kolja endlich auf ihre Spur eingeschwenkt, ja als sei statt ihrer Kolja nun in der Not, mittels der Rede über die Kunst allem anderen auszuweichen, was an diesem Nachmittag ebenso gut beginnen könnte.

„Nenne mir mal ein Bild, an das Du jetzt denkst!“

Die Frage hat Kolja erwartet.

„Morandis Vasen und Krüge zum Beispiel. Sein Leben lang hat er nichts anderes gemalt und gezeichnet, immer wieder die gleichen Gefäße, mal in dieser, mal in jener Stellung. Nie im Leben stünden so viele Menschen vor seinen Bildern, ginge es bloß um diese Karaffen oder Flaschen.“

„Und worum geht es dann?“

Kolja zögert, sucht nach etwas in Simonas Blick jenseits dieses Spielchens, bevor er weiterspricht.

„Auf mich wirkt es, als wollte Morandi durch diese Krüge hindurchdringen, bis hin zu ihrer Auflösung oder Einswerdung mit ihrer Umgebung, mit dem Tisch, auf dem sie standen, oder mit dem Blatt Papier, auf das er diese Linien und Striche setzte, ich weiß es nicht. Am Ende hat er seinen Anteil immer mehr zurückgezogen, mit ein paar feinen Linien Umrisse nur noch ­angedeutet. Da könnte die Rundung eines Krugs genauso gut ein Hügel sein, seine sanfte Kuppe.“

„Das kapiere ich nicht.“

Vorgetäuschtes Unverständnis, Kolja soll bloß nicht aufhören zu reden – er schließt die Augen, für Sekunden, und führt es fort.

„Fangen wir vorne an, bei der konkreten und abstrakten Kunst. Die eine hält an den realen Dingen fest, die andere löst sie auf, in Farben und Formen, die alles und nichts bedeuten können. Wir Betrachter übersetzen, füllen dieses Abstrakte wieder mit Ideen oder mit eigenen Erfahrungen, wie Du willst. Dieser Gegensatz greift nicht mehr bei Morandis Bildern. Seine Krüge bleiben erkennbare Krüge. Und zugleich lösen sich ihre Grenzen, bis sie am Ende mit dem Grund verschmelzen oder der Grund durch sie hindurch scheint. Dabei ist es doch dieser Grund, vor dem sie ­eigentlich erst Gestalt gewinnen.“

Simona wendet sich um, presst ihren Rücken an das seitliche Geländer der Bank und setzt sich im Schneidersitz provozierend dicht vor Kolja. Das T-Shirt spannt über ihrer Brust, deutlich heben sich die Brustwarzen darunter ab.

„Klingt ja fast religiös – mit dem Grund zu verschmelzen!“

Sie reizt es aus, neigt den Kopf zur Seite.

Kolja lehnt sich zurück.

„Da haben sich schon schlauere Köpfe dran versucht, es in präzise Worte zu fassen.“

„Versuche es doch mal ganz profan!“

Die Kette gleitet über ihre nackte Schulter. Gleichmäßig gebräunte, glatte Haut, die verführt, ohne dass Kolja mit mehr als seinen Augen darüberstreift. Abrupt löst er seinen Blick. Da ­lassen auch ihre Augen ab von seinem Gesicht, heften sich an irgendwas in Koljas Rücken, als wollte sie es ihm damit leichter machen, dass sie ihre Aufmerksamkeit von ihm nimmt.

„Hast Du es noch nie erlebt, Dich in etwas aufgehoben zu fühlen und dabei ganz leicht, ganz unwichtig zu werden?“

Ihr Blick schnellt zurück.

„Von was denn?“

Kolja zögert.

„Ich weiß es nicht. Aber Morandis Bilder erinnern mich daran.“

Er greift nach ihrer Hand und legt sie in seine beiden Hände, – was völlig unsinnig ist und was dieser Augenblick nichtsdestotrotz erzwingt.

„Malen widersetzt sich der Vergänglichkeit, indem es das Hier und Jetzt über die Zeiten hinweg bewahrt, so heißt es doch. Ich glaube, Morandi gelingt es gerade im Gegenteil, unsere Vergänglichkeit zu fassen – und das gibt seinen Bildern diese Ruhe. Mit unserem begrenzten Leben, als einzelner Mensch, sind wir ­vielleicht viel weniger etwas von allem anderen Getrenntes, das allein aus sich selbst Gestalt gewinnt, als wir es glauben wollen.“

„Nicht schlecht, was Du alles in Morandis Krügen entdeckst!“

Simona neigt den Blick hinab zu ihrer beiden Hände, und Kolja sieht auf ihre schmalen Schultern, folgt wieder diesen Linien zwischen Hals und Brust, wo die Haut sich straff über die Knochen spannt. Immer scheint ihm hier das Schutzlose auf, weil es so bloß, so offenbar vor Augen tritt, wie der Körper von der Haut umschlossen wird, dieser feinen, verletzlichen Grenze, unter der sich ein Inneres verbirgt, unberührbar, unbegreifbar – im Letzten die Seele, was sonst.

Er spürt die Wärme ihrer verschwitzten Hand an seiner Haut und steht auf.

Der Park hat sich geleert. Sich selbst überlassen gewinnt er eine Würde, wie Kolja manchmal glaubte, sie aus großartigen Gemälden strahlen zu sehen, in menschenleeren Sälen.

„Glaubst Du, dass die Bilder unsere Blicke spüren?“

Kongress-Hotel

Weitaus schwerer als alle übrigen Besonderheiten der Stadt wiegt für Kolja die ganz und gar neue Erfahrung, sein Büro mit einem Zweiten teilen zu müssen. Ein harmloser Junge Anfang zwanzig namens Jan, gutwillig und in jeglicher Hinsicht sorglos, was die Zukunft betrifft. Von Kolja will er viel lernen und mit seiner Freundin zusammenziehen, sobald der Umbau des Dachstuhls im Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern abgeschlossen sein wird. Daran hilft nach seinen Auskünften die gesamte männliche Hälfte der Familie am Feierabend kräftig mit.

Am vierten Montag in diesem Betrieb, während er die Treppe hinaufsteigt und sein Blick wie an jedem Morgen unweigerlich auf dem Lächeln der Pappfigur landet, eine fast lebensgroße Frau in dem blauen Anzug, den hier alle Arbeiter tragen, nimmt Kolja vorweg, was ihn gleich erwartet. Die Spielergebnisse seiner Mannschaft, Jan trainiert die Jungs des Fußballvereins, der ihm selbst bis vor drei Jahren jede Menge Siege verdankte.

Mit gleichgültiger Höflichkeit hört ihm Kolja zu, als hätte er keinerlei Erfahrungen auf diesem Feld. Jan wäre der Letzte, dem es einfiele, an Augenscheinlichem zu zweifeln. Da entschlüpft Kolja unbedacht sein Erlebnis mit dem kleinen Wüterich und ­dessen zweimaligem Platzverweis.

„Die hellblauen Schuhe hätte ich dem schon gleich verboten, solche Extravaganzen gibt’s bei mir nicht.“

Kolja nickt.

„Stimmt, wenn Unterschiede von vorneherein ...“

„Und dann hellblau, das geht gar nicht. Überhaupt, ich hätte den erst mal schmoren lassen, auf keinen Fall gleich wieder in der zweiten Halbzeit eingesetzt.“

Jan tippt mit seinem Stift ein paar Mal fest auf den Tisch, während Kolja seiner Sympathie nachsinnt, für diesen Kleinen, noch zu jung und unerfahren, um die eigene Überlegenheit auszuspielen, ohne sich damit den Neid aller Zweitklassigen einzukassieren – das Telefon klingelt.

Der Mann an der Pforte meldet einen Vertreter. Kolja erwidert, er werde Jan hinunterschicken.

„Nicht mehr als zehn, höchstens fünfzehn Minuten, mehr Zeit braucht es dafür nicht. Trinken Sie in der Kantine einen Kaffee mit ihm und versuchen Sie herauszubekommen, wie es bei den anderen läuft!“

Jan ist fast einen Kopf größer, sein Körper trainiert, elastisch – jünger. Kolja sieht auf Jans Rücken, bis die Tür hinter ihm ­zufällt, hört dessen schnellen Schritte auf dem Flur, steht auf und stellt sich ans Fenster.

Hohe Bambusbüsche auf dem Streifen Grün in der Mitte ­zwischen Reihen neuer Bürogebäude. Auch an seinem vergangenen Arbeitsplatz schwang Kolja Bambus entgegen. Es verbindet sich offenbar leicht mit den gängigen Attributen der Wirtschaft. Die feinen Äste schwingen mit jedem Windstoß, das lichte Blattwerk weist auf Tansparenz. Zudem wächst Bambus außerordentlich schnell. Der Grundstein zur Bebauung dieses Gewerbegeländes wurde erst vor drei Jahren gelegt. Bereits jetzt bietet es keine freien Flächen mehr. Vor allem junge Firmen siedelten sich hier an, die Stadt förderte den „Industrie- und Medienpark“ mittels billiger Bauplätze.

Kolja wird nichts Vernünftiges zustande bringen in diesem halben Jahr, Jan Tisch an Tisch gegenüber, acht Stunden am Tag. Falls es keinen freien Raum mehr geben sollte, wird Jan als Dritter seinen Schreibtisch in einem anderen Zimmer dazu schieben müssen – sonst hätten sich Koljas Auftraggeber das viele Geld für ihn sparen können.

Jan wird ihn bloß ratlos und enttäuscht anstarren, wie auch immer Kolja es begründen wird, dass er unbedingt ein eigenes Büro benötigt.

 

Eine Amsel hüpft auf dem Rasen hin und her, als steckte ihr ein aufgeblasener Luftballon im Bauch, springt senkrecht in die Höhe, ohne Flügelschlag, ohne Anstrengung, und plumpst ­genauso bewegungslos wieder zu Boden.

Eine Weile lang beobachtet Kolja den Vogel, bis den etwas aufschreckt und er plötzlich aus seinem Blickfeld verschwindet. Jan steht in der Tür und hält Kolja mit beiden Händen einen Stapel Werbeprospekte entgegen.

„Mann, war der hartnäckig, nächste Woche kommt er wieder.“

„Hat er denn was Neues zu bieten?“

Jan lässt den Packen auf den Tisch an der Wand fallen.

„Keine Ahnung, müsste man das Zeug da mal durchgucken.“

„Dann fangen Sie gleich an! Am besten legen Sie eine Liste der neuen Produkte an, einschließlich der zusätzlichen Funktionen und der geänderten Preise. Am besten an dem Tisch am Fenster, da ist mehr Platz.“

Bis zur Mittagszeit fällt kein Wort. Jan müsste es selbst wissen, dass alle Zulieferer ihre neuen Angebote online präsentieren und sich seine Arbeit in Minuten erledigen ließe. Kolja sieht keinen Grund, weshalb ein schlechtes Gewissen seine Entspannung während des Vormittags schmälern sollte. Eine Weile ruht sein Blick auf Jans Rücken, und Kolja verliert sich in der Vorstellung, welche Zuversicht Jans Freundin, die gesamte Familie aus diesem Kerl da vor ihm schöpft. Vom aufgeweckten Schuljungen zum voranstürmenden Fußballspieler, zum Controllingasisstant, zum Jugendtrainer, zum jungen Familienvater, Abteilungsleiter und Vereinsvorstand – Kolja tut ihm wahrscheinlich nicht unrecht mit dieser Reihe von Erfolgen, wollte man diese Stationen so nennen. Es wäre müßig, dem nachzugehen, was nötig gewesen wäre, um statt des vorgebahnten Wegs einen anderen Lebenslauf entstehen zu lassen. Letzte Woche hat Jan mit fast der Hälfte des Dorfes seinen zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

Spätestens heute Abend wird Kolja über eine unverdächtig-harmlose Begründung für den notwendigen Raumwechsel nachdenken, nach dem letzten Saunagang, entspannt im Ruheraum. Auf keinen Fall darf der subtile Rauswurf Jans Ehrgeiz bremsen. Im Grunde ist er ja ein feiner Kerl.

Das Äußere des Kongresshotels lädt kaum dazu ein, in seinem Inneren nach Entspannung zu suchen.

Ein quadratischer, schnörkelloser Block, dessen Fassade von den dicht aufeinanderfolgenden hohen, schmalen Fenstern bestimmt wird. Die Stadthalle unmittelbar neben dem Hotel empfängt ihre Besucher mit einem prächtigen Säulengang. Wie eine Schwelle bietet er einen Übergang zwischen dem profanen Vorplatz und der Würde des Gebäudes.

Dies wird der schmalen Terrasse entlang der Längsseite des Hotels nicht gelingen. Statt auf einen begrenzten, überschaubaren Platz zu weisen, setzt sie die Gäste des Hotel-Restaurants dem beständigen Verkehr von Autos und Straßenbahnen aus, knappe zehn Meter von ihren Tischen entfernt. Wie ein hilfloser Versuch, dennoch Gäste anzulocken, spannt sich ein großes Transparent über die Terrasse, das in unübersehbar fetter Schrift den Preis verkündet, den kein Karlsruher für ein Sonntagsfrühstück zu zahlen bereit sein wird, Sommerbrunch hin oder her.

Durch die Errichtung dieses Hotels direkt neben der erst ein paar Jahre zuvor aufwändig im Stil des Klassizismus restaurierten Stadthalle würde der Platz seine Großzügigkeit und die Stadthalle die ihr angemessene Weite verlieren, so hat ihm Simona die Stimmung in der Stadt im Vorfeld der Entscheidung zu diesem Bau erklärt. Die Stadtoberen haben dennoch gegen den Bürgerwillen ihren Ehrgeiz durchgesetzt, inmitten der Stadt ein Hotel zu präsentieren, das keinen Anspruch heutiger Messebesucher unbefriedigt lässt.

Im Inneren der übliche Stil gehobener Hotelketten, eine ­dezente Einrichtung, Stahl, Glas und Schwarz, unaufdringlicher Luxus, leise, bedeutungslose Musik. In allem ein Hintergrund, der ebenso wie das beflissene Personal in gleich welcher Stadt eine Annehmlich­keit verspricht und erfüllt, die nur dann auffällt, wenn sie fehlt.

Oft genug hat Kolja in solchen Häusern übernachtet. ­Ansons­ten wäre es ihm ebensowenig wie den Leuten hier in der Stadt eingefallen, die Sauna des Hotels zu benutzen, ohne dessen Gast zu sein. Nach zehn Uhr gehören ihm die Räume allein, manchmal schon um neun. Kaum einer der Geschäftsleute, die in diesem Hotel absteigen, scheint den Besuch einer Sauna als außerordentlich erholsam einzuschätzen.

Kolja mag die leichte Müdigkeit, die weiche Wärme seines Körpers, und nackt zu sein. Auf seinen Wunsch hin hat ein Livrierter eben die Musik hier im Ruheraum abgestellt.

Eine Stimmung, viel zu schade, um einen Gedanken an Jan zu verschwenden oder bloß an den nächsten Tag. Kaum steigt er am Abend die Treppe hinunter, an der blauen Pappfigur vorbei, verliert die Arbeit jede Bedeutung. Selbst während der Stunden im Büro denkt Kolja an dies und das, während er Analysen erstellt, Bewertungen verfasst, Änderungen vorschlägt, ganze Abschnitte niederschreibt, als hätte er sie auswendig gelernt. In diesem Unternehmen stellen sich die Dinge erstaunlich überschau- und lösbar dar, für Kolja nichts mehr und nichts weniger als eine halbjährige, recht entspannte Zwischenphase. Nach Karlsruhe wartet Wolfsburg, erst in einem Jahr wird er nach Frankfurt zurück­kehren.

Kolja streckt seine Beine bis zum Ende des Liegestuhls aus, dehnt die Spitze des linken Fußes nach vorne und wendet ihn zu sich zurück, eine kleine Anspannung, um sich darauf einzustimmen, gleich aufzustehen. Selten sind seine nackten Füße der Sonne oder gar spitzen Steinen und Dornen ausgesetzt.

Zwei Wege gab es zu ihrem geheimen Versteck. Der gewöhnliche Weg führte an den Feldern entlang, mit freier Sicht über das Gewinkel der Häuser und Schuppen, ein erdiger, breit gefahrener Weg, staubiggelb im Sommer, tellergroße Pfützen später im Jahr. Zwei Mal am Tag traten ihn die Kühe fest und kahl. Das Kind lief ihn meist hinab, im Spiel, in Gedanken.

Den geheimen Weg hatten die Großen aufgegeben. Mit den Jahren hatte ihn einer der Bauern seinem Besitz zugeschlagen, als verwilderte Grenze an der Rückseite seines Hofs. Kopfhoch wucherten auf beiden Seiten Brennnesseln und verwehrten den Kindern einen Himmel voller Brombeeren.

Selbst nach einem Sommertag in der Grasmulde zwischen beißenden Blättern und dornigen Hecken waren zerkratzte Kinderbeine flinker als der lauernde Hund des Bauern.

Er streicht über Oberschenkel, Knie und Waden, über die glatte, trockne Haut und gibt sich dem Glauben hin, ohne sein Zutun habe sich nun eine Reinigung vollzogen, mit dem Schweiß sei der Schmutz aus ihm gedrungen, und diese Ruhe und Muße habe seinen Geist geklärt, von Banalem geleert – übertrieben laut stößt er den Atem aus.

Dabei gibt es keinen ernsthaften Gedanken, keine beständige Frage, die aufsteigen könnten, sobald das Alltägliche nicht weiter zerstreut. Karlsruhe erweckt in Kolja den Eindruck, als genüge es, ruhig seine Angelegenheiten zu betreiben, sieht man einmal von der Aufregung rund um den Papstbesuch ab – und diese ­Stimmung ist verführerisch. Wenn die Stadt schon nicht viel Spannendes zu bieten hat, warum denn nicht sich für ein halbes Jahr der Illusion überlassen, hier in der Provinz gingen die Dinge ihren rechten Gang, fernab der Krisen in der Welt.

Seine nächsten Stationen werden ihn früh genug aus dieser Enklave geistiger Trägheit vertreiben, wobei sich an seinem Zustand des Ungebundenseins so schnell nichts ändern wird. Mit dem Auszug der Kinder begann die Arbeit in wechselnden Städten und das Fehlen eines Alltags, wie ihn nur Familie schafft. Daran gewöhnte sich Kolja erstaunlich leicht und genießt es mittlerweile, dass es da niemanden mehr gibt, der mit Ansprüchen auf ihn warten könnte, Abend für Abend nach der Heimkehr aus dem Büro.

Kolja richtet sich auf, das Handtuch rutscht von den Hüften. Er lässt es zu Boden fallen und tritt darauf. Die Fußbodenkacheln sind unangenehm heiß.