Der Papst kommt

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Sari: Lindemanns #192
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Hier in Karlsruhe verschränkt es sich in seltsamer Weise, ein harmloses Umfeld und dazu keinerlei private Scherereien. Beides fehlt, Freunde und Bekannte mit den üblichen Sorgen und Nöten, und ebensowenig sind Kolja bislang Brüche oder Kerben im Stadtbild vor Augen geraten.

Aus anderen Städten kennt Kolja trostlose Viertel, mit seit langem aufgegebenen Fabrikhallen, Fenster und Türen mit Latten vernagelt, und Gebäuden, die unaufhaltsam der Rückkehr der Natur erliegen, Unkraut aus zerbrochenen Fensterscheiben und Efeu über eingefallenen Dächern. Im Umkreis der Stadt will man hier weder Gebäude noch Plätze der Verwahrlosung überlassen.

Es fühlt sich an, als zöge Karlsruhe einen Rand um sein ­Leben, einen leeren Streifen, der Woche um Woche breiter wird, dabei gibt es doch nichts in dieser Stadt, wozu Kolja Abstand schaffen, wovor er sich schützen müsste.

Zwei Mal hat Simona ihn in der vergangenen Woche angerufen um ihn einzuladen, sie auf ihren Stadterkundungen zu begleiten. Sie trägt es ihm zu offensichtlich an, als dass er diesen Wunsch erfüllen wollte.

Die Rezeption ist leer, Fernsehstimmen verraten die Anwesenheit des Abendportiers im Nebenzimmer. Mit einem Knopfdruck öffnet Kolja die Tür, geräuschlos gleiten die Glasscheiben zur Seite.

Während des kurzen Heimwegs begegnet ihm niemand auf der Straße. Kolja sieht in erleuchtete Zimmer. Geschwungene ­Lampen, bunt gefüllte Bücherregale, Landschaftsbilder und Fernsehflimmern, Zeichen der Geborgenheit am Abend, wenn alles getan ist und zwischen Eheleuten belanglose Sätze fallen, zu nichts weiter gut, als sich gedankenlos der jahrzehntelangen Vertrautheit zu versichern.

Immer wieder irritiert es Kolja, dass Leute dazu imstande sind, sich zwei, drei Stockwerke über Kneipen, Lokalen und Einkaufsläden ihr eigenes Leben einzurichten, unberührt von dem Treiben unter ihnen. Keine Stunde lang könnte sich Kolja einer Arbeit oder bloß einem Buch widmen, stiege zugleich der Lärm von Musik, klapperndem Geschirr oder lauten Gästen zu ihm auf.

In anderen Städten war es Kolja nicht aufgefallen, dass Gasthäuser und Kneipen sich zum größten Teil auf den überschaubaren Bereich in der Stadtmitte beschränken, innerhalb der Grenzen von Karlsruhes früheren Stadttoren. Gleich dahinter beginnen gediegene, gutbürgerliche Viertel.

Wie in Frankfurt, nur ein paar Schritte entfernt vom Bahnhof, hat Kolja hier eine Wohnung gefunden. Statt auf Züge und Gleise öffnen die beiden Fenster in seinem Zimmer die Sicht auf einen stillen Innenhof. In seiner Mitte eine große Rasenfläche, umringt von alten Kastanien und einem breiten, hellen Sandweg an allen Seiten. Bänke stehen dort unten, Spielgeräte und für die Jugendlichen eine Tischtennisplatte.

An den Wochenenden, an denen Kolja bislang tagsüber zuhause war, lag der Platz wie ausgestorben da. Wahrscheinlich ­haben die Kinder, deren Eltern vor Jahren die Einrichtung des Spielplatzes in Gang brachten, dieses Wohnkarree längst verlassen. Im Eingangsflur und auf der Treppe ist Kolja ein paar Mal älteren Leuten begegnet und Nomaden von seiner Sorte.

Zwei hohe Eisentore an den beiden Längstseiten des Karrees versperren mit Beginn der Dunkelheit Fremden den Zugang zu dem Hof.

Kolja hält inne, lehnt sich an das Tor und sucht mit den ­Augen tief in dieses Schwarz einzudringen. Hunderte von Menschen schlafen nun in den Zimmern in den Wohnungen in den vier Seiten des Karrees. Gäbe es einen Ort, der stumm umfasste, wovon die Schlafenden sich nun endlich lösen in der Nacht, könnte es dieser verlassene, finstere Hof sein, in dem es niedersänke, zur Ruhe käme, dieser unentwirrbare Rest, den man am Ende des Tages mitnimmt in den Schlaf.

Die Kunsthalle

Simonas Sohn öffnet die Tür. Stöpsel baumeln von seinen Schultern, auch ansonsten enttäuscht er nicht hinsichtlich der üblichen Attribute eines knapp Neunzehnjährigen. Die Haare fallen tief in die Stirn, bis über die halb geschlossenen Augen, am Kinn ein weicher, dunkler Flaum, die Hose hängt tief unter den Hüften, und ein lapidares „’n Abend, da geht’s lang!“ weist Kolja den Weg.

Da packt ihn der Übermut, mehr aus dem Kerl herauszuholen.

„Guten Abend. Mein Name ist Kolja. Was hörst Du denn gerade?“

Mit dem Kinn weist Kolja auf die Stöpsel, in dem Jungen pfeift alles zur Abwehr.

„Kennen Sie nicht.“

Mehr wird er nicht sagen.

„Und Du spielst Tennis?“

Koljas Blick springt zu dem Schläger in einer Hülle, die hinter dem Jungen zwischen Stiefeln und Regenschirmen klemmt.

„Nö, der gehört Fritz!“

„Und Du, machst Du was Richtung Sport?“

„Ich schwimme.“

„So richtig, ich meine wettkampfmäßig in einem Verein?“

„Ja.“

„Und, bist Du gut?“

„Bin zufrieden.“

„Lucca heißt Du, stimmt’s?“

„Perfekt.“

Nach wie vor steht Kolja auf der Schwelle der Tür, der Junge hält den Griff in der Hand.

„Machst Du auch Musik?“

„Waren Sie früher mal Vertreter oder was?“

Kolja grinst.

„Nicht schlecht! Nein, kein Vertreter, wollte Dich bloß ken­nen­lernen.“

„Hätte ich dann einfach gesagt, an Ihrer Stelle.“

„Du kannst mich ruhig duzen!“

Jetzt grinst der Junge.

„Ach, ich bin etwas scheu bei Fremden.“

Einverständnis umschließt die beiden, Lucca tritt zur Seite und Kolja in den Flur.

„Willst jetzt sicher mein Zimmer checken, was?“

Für das Kind, als das ihn alle noch bis vor vier, fünf Jahren nahmen, hat Lucca einen riesigen Seehund am Kopfende des ­Bettes liegen lassen. Dessen breiter Rücken dient ihm offenbar als ­Kissen. Seine Kinderbücher füllen ein ganzes Regalbrett, werden ­gehalten von einer hohen, weißen Kerze mit einer senkrecht verlaufenden Inschrift in roten Wachsbuchstaben. An der Wand zwei dunkle Poster mit Gitarre spielenden Jungs, jede Menge Auszeichnungen für gewonnene Turniere und eine Weltkarte mit leuchtend roten Markern drauf.

„Warst Du da überall schon?“

„Nö, aber da will ich hin.“

„Ja, kann ich Dir nur zu raten, die Welt anzuschauen.“

„Meine ich nicht. Da werden überall geile Gebäude von mir stehen, ich werde mal Architekt!“

In Koljas Rücken betritt Simona das Zimmer und das Gespräch bricht ab.

Gegenüber einem anderen als Fritz hätte es den Beginn des Abends vermutlich eher beschwert als in Schwung gebracht, dass Kolja gerade gelang, was dem Hausherrn seit Monaten verwehrt ist, das Zimmer des Sohnes seiner Freundin zu betreten.

Fritz nimmt es als erneute Bestätigung. Mithin hat Kolja nicht nur gleich an diesem ersten Abend seine eigene Neugierde gereizt und tags darauf mit Simona einen schönen Sonntagmittag verbracht, sondern sogar Lucca auf Anhieb für sich gewinnen ­können.

Wie er mit den Flaschen seiner Bar an dem Nebentisch hantiert und guter Laune diese und jene Anekdote zum Besten gibt, trägt Fritz es zur Schau, seinen Stolz darauf, dass dieser Fremde heute Abend mit am Tisch sitzt. Kolja ist noch unentschieden, wer von beiden es angetrieben hat, ihn einzuladen, und welche Absicht Fritz oder Simona oder die beiden im Einverständnis miteinander damit verfolgen.

Ein weiteres Ehepaar wurde eingeladen, vermutlich aus Sorge, für alle Fälle genügend interessanten Gesprächsstoff bereitzuhalten. Oder hat Kolja diese beiden Simona zu verdanken, ihrer Scheu, Fritz und ihm alleine gegenüberzusitzen?

Ein Mann Anfang sechzig, der es zu was gebracht im Leben, trotz oder wegen seiner knorrigen, alles andere als jovialen ­Haltung. Unverhohlen mustert er Kolja, mit einer ihm wahrscheinlich zur Gewohnheit gewordenen Selbstgefälligkeit, nach jahrelanger ­Taxierung seiner Mitarbeiter. Die Frau an seiner Seite schiebt derweil das Besteck rund um ihren Teller hin und her. Was sie ­anfangs an ihm bewunderte, seine unzugänglich-herbe Männlichkeit, wird sie seit Jahren abzudämpfen wissen, in vermittelnden Gesprächen mit den Kindern und seinen Angestellten. Es lohnte nicht, ihm gegenüber darüber ein Wort zu verlieren oder gar ­einen Streit zu riskieren.

„Friedel und Eva, unsere Nachbarn“, so wurden sie Kolja von Fritz vorgestellt.

Kaum sind die Teller abgetragen, setzt Friedel das Thema, als setze er es auf den leeren Tisch. Es wird sich bald erschöpft ­haben, nach ein paar lapidaren Sprüchen, schon allein, um den ­stummen Gast nicht zu langweilen. Koljas Blick schweift durch das Zimmer. Großformatige Kunst aus Afrika, in dunklen, erdigen Farben, dazwischen einige streng stilisierte schwarz-weiße Masken. Vom Boden wachsen Stapel von Büchern die Wände hoch, Simona wird sie angeschleppt haben.

Friedel lässt seine Hand auf die Tischplatte fallen, Kolja schreckt auf.

„Das wird den Leuten erst die Augen öffnen, was der Staat für die Kirche zahlt, wenn sie es so weit treiben, dass die Stadt für die Kosten aufkommen soll.“

Friedel schnauft.

„Das läuft hier nicht, Fritz. Das winken die Karlsruher nicht einfach durch, wenn die Stadt den ganzen Aufwand für diesen Ein-Tages-Besuch bezahlen soll! Nach Plan verbringt der im Ganzen keine vollen vier Stunden hier.“

„Sie werden es zum Staatsbesuch erklären, und schon sind sie fein raus, immerhin reist er ja auch als Oberhaupt des Vatikans an.“

Simona seufzt, sieht Kolja entschuldigend an und fasst Fritz am Arm.

„Vielleicht sollten wir Kolja ...“

„Ja, klar, aber das wissen Sie doch sicher mittlerweile, dass es Leute gibt hier in der Stadt, wie Friedel, die nicht einsehen ­wollen, warum die Karlsruher für diesen Besuch eine Menge Geld ­bezahlen sollen, wo tatsächlich andere, sinnvollere Aufgaben warten, für die der Stadt seit Jahren die Mittel fehlen.“

 

Fritz wendet sich wieder Friedel zu, mit einem Lächeln, das ein starrsinniges Kind begütigen würde.

„Und was sagst Du dazu, dass es mittlerweile eine Bürgerinitiative gibt, die auf dem Turmberg ein Windrad aufstellen will, mit Engelsflügeln, um den Papst angemessen zu begrüßen?“

„Wie, für immer, zur Stromerzeugung oder was?“

„Klar, und zur ewigen Erinnerung an den Besuch des Papsts.“

„Früher waren es die Kreuzzüge, diese Christen können wohl nicht anders als gewaltsam zu missionieren.“

Friedel wischt sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn, in diesem Augenblick beugt sich Simona über den Tisch. Dieselbe Goldkette, wieder fällt sie von ihrer Brust hinab, und das Leuchten der Kerze funkelt darin.

„Kolja muss ja denken, außer dem Papst hätten die Karlsruher keinen Geprächsstoff mehr.“

Fritz legt seine Hand beschwichtigend auf Simonas Arm. Die Bewegung fängt Koljas Blick, wie dessen kurze, breite Finger den schmalen, sehnigen Arm umschließen – in diesem Moment sieht Fritz zu ihm auf.

„Nun, dann erzählen Sie doch mal! Wir können das Papst-Thema ja weiter fassen, ich meine, kunsthistorisch betrachten. Sie haben sich doch mit Simona „Die Geburt Christi“ angeschaut.“

„Ja, Sonntag vor zwei Wochen, und gestern war ich wieder dort, in der Kunsthalle.“

„Was, extra wegen dieses Bildes?“

„Ja, und die Kunsthalle hat ja auch sonst genug zu bieten.“

Wie konnte Kolja diese Unbesonnenheit entschlüpfen? Beide Paare sehen ihn neugierig an. Er neigt sich zurück auf seinem Stuhl und nickt ihnen zu als genügte es, mittels dieser Geste eine Erklärung bloß anzukündigen.

Simona schüttelt unmerklich den Kopf. Eine verstohlene, hilflose Warnung, wahrscheinlich ist sie die Einzige hier im Raum, die es gut mit ihm meint.

„So ist es ja oft, da steht man vor einem beeindruckenden Gemälde, könnte hunderterlei entdecken und klebt an dieser einen schwarzen Ecke, die dem Bild irgendwann verloren ging.“

„Aber allein wegen des schwarzen Flecks sind Sie doch nicht zu dem Bild zurückgekehrt, oder?“

Kolja erwidert ruhig Fritzens lauernden Blick.

„Kennen Sie das Bild?“

„Es ist mir sicher weniger deutlich als Ihnen vor Augen.“

Simona steht auf.

„Ich habe es ja hier, wartet mal!“

Sie kehrt mit ein paar Kunstkarten zurück und breitet sie aus in der Mitte des Tischs. Eva greift sich eine Karte.

„Können wir mal mehr Licht machen!“

Ein abrupter Wechsel vom Kerzen- zum hellen Deckenlicht, die blasse Haut des Christuskindes wirkt fahler, leichengrauer noch, als Kolja es in Erinnerung hatte.

„Seltsam, wie die Mienen sich gleichen, ich meine Josef und das Christuskind, dabei haben die zwei doch im Grunde nichts miteinander zu tun.“

Eva sieht fragend zu Kolja, als zeichne ihn sein zweifacher Besuch des Bildes zu dessen Fachmann aus, und sofort mischt sich Simona ein, zu Koljas Überraschung offenbar unwillig darüber, dass es ihm obliegen soll, das Gespräch neu auszurichten, kaum dass es der fachkundigen Unterfütterung bedarf.

„Sie wissen ja beide um Jesus Ende, Josef aus den Worten des Alten Testaments und das Kind als Gottessohn. Selbst Maria weiß Bescheid, auch wenn sie hier so lieblich tut. Es gibt ein anderes Bild von Hans Baldung Grien, das malte er knapp zwanzig Jahre früher, da sitzt Maria weinend unter dem Kreuz, in der gleichen Haltung, mit verschränkten Armen auf der Brust.“

„Gut, Josef und Maria bleibt ja nichts anderes als Gottes Wille hinzunehmen, aber warum guckt denn Jesus hier so böse? Am Ende fügt er sich doch brav in sein Schicksal.“

Friedel wirft einen ungeduldigen Blick in die Runde. Er schenkt sich die Mühe zu verbergen, dass Spekulationen über Kunst weitab dessen führen, was ihn Tag für Tag zu beschäftigen hat.

Fritz richtet sich auf. Dieses beständige Grinsen um die Mundwinkel, plötzlich verrät Kolja dieses Gesicht, wie es steht zwischen Simona und Fritz. Was immer er ihr gibt, den Preis wird er subtil in Erinnerung zu halten wissen. Jetzt wendet sich Fritz zu Friedel und Eva.

„Deshalb ist er doch zu den Menschen gekommen, ist einer von ihnen geworden, um ihr Leid bis um Letzten mitzutragen, um auszuhalten, was Menschen einander antun, so verstehen es die Christen.“

„Um ihnen Erlösung zu versprechen, wie Lorenz es glaubt?“

Fritzens Kopf schnellt zu Kolja. Das Grinsen um die Lippen erstarrt, von einer Sekunde zur anderen – und Fritz scheint Kolja noch tiefer entblößt. Den Kopf hält er schief, von unten sieht er Kolja an, gelblich-fahl wirkt im Licht der Lampe seine Haut.

„Damit den Opfern der Nazis endlich Gerechtigkeit widerfährt, meinen Sie das?“

Mit demselben Tonfall könnte Fritz von einem spannenden Buch oder einem interessanten Film reden – kaum vorstellbar, womit man diesen Mann packen könnte.

„So hat es doch Lorenz gesagt.“

„Ja, so hat er es gesagt.“

Simona schiebt ihren Stuhl laut an den Tisch.

„Da sind wir uns doch einig, dass Gott nicht gutmachen kann, was wir Menschen zu verantworten haben, an Leid und Unrecht. Was Lorenz sich da zurecht legt, das nimmt doch keiner mehr ernst.“

„Lass mal, Simona!“

Eine weiße Serviette ist während des Essens zu Boden gefallen. Fritz hebt sie auf, breitet sie aus auf dem Tisch und streicht den Stoff glatt, nach allen vier Seiten.

„Das steht ja außer Frage, Lorenz sieht die Sache viel zu eng und verbohrt. Dem sucht ja selbst die Kirche auszuweichen, der Frage nach dem Jüngsten Gericht und der Erlösung am Ende ­aller Tage.“

Er bricht seine Rede ab und lässt den Blick über die Runde schweifen, als wolle er allen einen Moment lang Zeit lassen, sich darauf einzustimmen, dass sie nun etwas hören sollen, was sie von ihm, ihrem Fritz, bislang kaum erwartet hätten. Vor Gericht wird Fritz kaum weniger geschickt agieren, Pathos wahrscheinlich feiner dosieren. Kolja legt sein Gesicht in beide Hände, als wolle er ­jedes Wort von Fritzens Rede aufmerksam bedenken.

„Jesus überhaupt, ja das Christentum, da scheinen mir die Projektionen der Menschen zu deutlich durch, die machen mir Gott zu klein. Wie sich die Juden Gott denken, das scheint mir viel überzeugender. Wir fügen uns Gottes Entschluss, ohne zu wissen, was er vorhat mit uns.“

Kolja hebt den Kopf. Keiner am Tisch weiß es einzuschätzen, wohin Fritz zielt mit seinem Bekenntnis. Denn dass er eine Strategie verfolgt oder sich bloß ein Spielchen erlaubt, das ist offenbar. Da redet keiner, der mit Glaubenszweifeln ringt.

Wie hilflos Simona sich fühlt, doch als Gastgeberin verantwortlich für gute Stimmung am Tisch, verrät Kolja der flüchtige Griff in ihr Haar. Sie löst ihren Zopf, neigt den Kopf zur Seite und sieht Kolja von unten an, mit der Bitte, es gut sein zu lassen.

Hey, wir zwei, wir waren uns doch so nah, im Schlosspark, hey, lass mich doch jetzt nicht im Stich, hilf mir doch hier raus – Kolja irritiert die Blöße in diesem Blick, ihr Vertrauen auf ein Einverständnis, das Kolja nie mit ihr geteilt, ihr nie versprochen hat. Mit der linken Hand presst sie das Haar an ihre Schläfe, nur um es im nächsten Moment wieder offen fallen zu lassen, als hätte nichts einen Sinn, stünde ihr Kolja nicht bei.

Vor vielen Jahren ein Familienpicknick am Fluss, da lief sein jüngster Sohn auf das Wasser zu, lief hinein und Koljas Vater sprang auf und schnappte den Kleinen, bevor er mit dem nächsten Schritt den Boden unter den Füßen verloren hätte, und Kolja hatte alles gesehen, das Unglück kommen gesehen und sich nicht gerührt, dabei mehr erstaunt als erschrocken darüber, über die eigene, völlige Unfähigkeit, aufzuspringen und ins Wasser zu stürzen. Noch als sein Vater ihm das Kind in den nassen Kleidern in den Arm legte, hing Kolja dieser Verwunderung nach, dass es tatsächlich auf ihn angekommen wäre.

Es gibt einige solcher Situationen, von denen Kolja erinnert, dass es an ihm gelegen hätte, sie zu retten oder bloß schnell in die eine oder andere Richtung zu wenden, zumindest erwarteten genau dies die Umstehenden von ihm, sahen Kolja an – in Koljas Augen, als stünde da noch einer hinter ihm.

„Ist es denn in Ordnung, Fritz, Jesus gegen die Juden auszuspielen? War er nicht der letzte jüdische Prophet, so habe ich es ­immer verstanden?“

Das Ehrliche ihrer Frage löst unverhofft die Spannung am Tisch, Eva selbst scheint es am wenigsten zu spüren.

„Das Christentum begann ja sozusagen erst nach ihm, Jesus selbst kommt doch ganz klar aus dem jüdischen Gottesgedanken.“

Friedel betrachtet seine Frau von der Seite, in einer verlegenen Mischung aus Überraschung und Stolz, und sofort schnappt ­Simona nach der Gelegenheit.

„Bevor es ganz historisch-theologisch wird, wer hätte denn noch Lust auf einen Kaffee oder einen Espresso?“

Friedel scheint nicht gewillt, sich den Auftritt seiner Frau so abrupt beschneiden zu lassen.

„Worum geht es jetzt eigentlich, ich meine, worüber streitet Ihr zwei denn, Du und Fritz?“

„Wir streiten doch nicht, Eva hat natürlich Recht. Das Chris­tentum beginnt nicht mit dem historischen Jesus, sondern mit dem Bild, das seine Nachfolger von ihm schafften.“

Das Raunend-Beschwörende ist von ihm abgefallen, hat Evas offenherziger Rede nicht Stand gehalten. Fritz faltet die ausge­breitete Serviette zu einem kleinen Päckchen und steckt es in die Hosentasche.

„Tod und Auferstehung, das war ja die Sensation, das machte ihn zum Gottessohn und verwandelte den Kreuzes- in einen Opfer­tod, und damit zur Erlösung. Im Tod nahm Jesus alle Sünden auf sich, und da liegt für mich der Bruch. Den Graben will ich nicht übertreten.“

Fritz richtet sich auf, ganz der Gastgeber, der freundlich und bestimmt das Gespräch beendet, mit einem Blick, einem Nicken hin zu Kolja, um den Fremden nicht im Zweifel zu lassen – genug der Bekenntnisse.

Die Bibliothek

Kolja hätte jede Wette darauf gesetzt, dass Simona am ­nächs­ten Tag bemüht sein würde, dem Gespräch nachträglich seine Schärfe zu nehmen.

„Hättest Du Lust, wieder mitzukommen? Heute geht’s ins ­Naturkundemuseum, zu den Seepferdchen.“

Damit diese Stimme, noch heller und mädchenhafter als ­ges­tern Abend, nicht ins Leere läuft, sagt er schnell irgendwas, unbedacht.

„Ich bin für heute schon verabredet, tut mir leid.“

Stille, erfüllt von Simonas Verdacht, kennt Kolja doch kaum einen Menschen in der Stadt, und wäre ihrem Misstrauen wehrlos ausgesetzt, stünde sie ihm jetzt gegenüber und sähe ihm direkt ins Gesicht. Kolja hört auf ihren Atem, und wie oft während solcher Telefonate, wenn er lange auf eine Antwort wartet oder sich vorhersehbare Reden wiederholen, prägt sich Kolja ein Detail ­seiner Umgebung ein, der Fleck auf einer Tischdecke, ein Riss in einer Tasse, eine abgeknickte Buchseite oder wie jetzt das vertrocknete Efeublatt. Kolja widersteht dem Impuls, es zwischen den Fingern zu zerkrümmeln. Der Dreck würde bloß zu Boden fallen, und ­Simona sagt:

„Wann sehen wir uns denn wieder?“

Und Sekunden später:

„Wann hast Du denn abends mal Zeit, es kann ruhig auch später sein.“

Ausweichende Antworten, Ausreden kämen bald an ihr Ende.

Kolja steht auf, tritt ans Fenster und sieht hinunter in den Hof. Auf einer der Bänke sitzt ein alter Mann. Vor seinen Füßen tippeln zwei Tauben hin und her und picken auf, womit er sie an­gelockt hat.

„Wenn sich mal ein freier Abend ergibt, rufe ich Dich an!“

„Na dann, dann wünsche ich Dir einen schönen Sonntag!“

Bevor er sich bedanken kann, hat sie ihn weggedrückt.

Auch Lucca wird es spüren, dass es nicht rund läuft zwischen seiner Mutter und deren neuem Mann, und Fritz wird Tennis spielen und Lucca in seinem Zimmer sitzen und Simona alleine durch die Stadt spazieren.

Während er dem Mann zuschaut, wie er sich offenbar mit dem Taubenpärchen unterhält, erinnert sich Kolja des Eindrucks, den er an diesem ersten Abend von Simona mit nach Hause nahm. Die überraschend junge, hübsche Frau an Fritzens Seite – Fritz trägt am meisten Schuld an Koljas Unmut, einem der beiden ­näherzukommen. Es ist ihm mit den Jahren zu mühsam geworden, sich auf Leute einzulassen, deren Interesse an ihm Kolja nicht klar einschätzen kann. Was die zwei beieinander hält, ist ihm ebensowenig deutlich wie das, was sich Fritz von ihm erwartet – nur dass er Kolja an seine Familie binden will, ist offensichtlich. Was Simona an Wünschen an ihn richtet, vermutlich weniger strategisch, als es den Anschein hat, mit dieser bittenden Mädchenstimme, wirkt auf Kolja jedenfalls harmloser als die Über­legungen ihres Mannes.

 

Der Abend bei Fritz und Simona wird sich kein zweites Mal wiederholen, ebensowenig wie die Einladung bei Helmut, die Kolja nicht zuletzt einer Empfehlung aus Frankfurt verdankte.

Kolja will es nicht anders, selbst wenn es womöglich ein ­netter Nachmittag geworden wäre, hätte er eben Simonas Vorschlag zugestimmt.

Der Eindruck der Stadt während der ersten Tage hat sich ­mittlerweile verstärkt. Anfangs hat es Kolja abends auf dem Heimweg ab und an ernsthaft in Betracht gezogen, täglich nach Frankfurt zu pendeln. Er nähme die Mühe tatsächlich auf sich, liefe der Auftrag hier länger als ein halbes Jahr oder wäre gar unbefristet angesetzt. Wieso er sich dafür entschied, dieses bislang einzige freie Wochenende hier zu verbringen, statt nach Frankfurt zu fahren, immerhin für zwei ganze Tage, weiß er selbst nicht mehr zu sagen.

Wahrscheinlich wollte er den eigenen Vorwurf abwehren, der Stadt von Anfang an keine Chance gegeben zu haben.

In den Gesichtern auf den Straßen liest Kolja nicht mehr, als dass die Leute müde wirken, der vergangenen wie der vorhersehbaren Wiederholungen Tag für Tag. Vergleichbar jeder anderen Stadt, Kolja weiß nicht, warum es ihn hier mehr bedrückt als ­bislang. Auf jeden Fall passt es nicht zusammen, Kolja und Karlsruhe, und beide sind sie schuld daran, wie meistens, wenn sich zwei verfehlen.

Die zwei Tauben entfernen sich in kleinen Kreisen immer wieder von dem Mann, von dem Platz vor seinen Füßen, um gurrend zu ihm und zueinander zurückzukehren. Der kräftige Regen nach den langen, trocknen Tagen hat dem Hof fast über Nacht ein üppig grünes Dach verschafft. Stünde die Bank nicht außerhalb der Baumreihe, sie verschwände wie der Rest des Hofes unter dem dichten Laub vor Koljas Augen.

Pralle Natur mitten in der Stadt – statt des dumpfen Summens der Züge dringen hier trillernde Vogelstimmen früh am Morgen in Koljas Schlaf.

Immer gab es Züge in den Nächten, und ihr Herankommen und Entfernen umschloss schon das Kind.

Das Heulen der Hunde, und dann der Zug, ein nahes Zischen, leises Schwinden, schnell kehrte er zu dem Kind zurück, fuhr die Nacht lang ums Haus, im Kreis, um seinen Schlaf zu beschützen. Ab und an ließ sich ein Auto leise in die Straße rollen, warf einen Balken Licht an die Decke, an die Wand, der verschwand unter dem Schlitz der Tür wie das Auto am Ausgang des Dorfs.

Am Ende die rettenden Eltern, in ihrem Geruch, ihrem Atem fand Kolja in den Schlaf, unter dem schweren Arm des Vaters, dessen großer Hand.

Die Bibliothek der Stadt präsentiert sich an diesem Sonntag in Form eines offenen Tages. Kolja hat sich das Datum in den ­Kalender eingetragen, der in der Küche über dem Kühlschrank hängt.

Es wäre unsinnig gewesen, für ein halbes Jahr seine Möbel aus Frankfurt hierher zu karren. Die Geschäftsführung erwies sich als großzügig und akzeptierte diese üppige Wohnung wegen des kurzen Wegs zum Bahnhof. Nur das Zimmer zum Hof hat Kolja in Gebrauch genommen, die beiden übrigen Räume betritt er kaum.

Außer den notwendigen Geräten gibt es in der Küche nur ­einen Tisch, einen Stuhl und eine Holzbank unter dem Fenster. Der Umzug nach Wolfsburg wird nicht viel Mühe kosten, und die Gewissheit, dass in Fankfurt seine Wohnung unbeschadet auf ihn wartet, tut Kolja gut.

Er überlässt sich, wie es Kolja selten passiert, dem plötzlichen Wunsch, dort unten auf der Bank zu sitzen und den Blick auf nichts anderes als dieses lichte Sommerlaub zu richten. Sieht auf Blätter, die scheinen bloß Licht zu sein, lichterfülltes, strahlend helles Gewebe, ganz und gar durchlässig, ihr Gerippe zieht feine, dunkle Streifen in das fluoreszierende Grün – Wind fährt in das Laub, und ein feines Zittern löst den Zauber.

Ganze zwei Wochen sind es her, dass Kolja mit Simona von Morandis Vasen und Krügen sprach, und vom Verschmelzen des Gegenstands mit seinem Grund. Er hätte es Simona mit anderen Worten erklären sollen. Vielleicht lag für Morandi das ­Geheimnis in der puren Erscheinung, die nicht gedeutet werden will und auf nichts verweist. Ein Allgemeinplatz, dass jedes Ding von seinem eigenen Grunde her wahrgenommen werden will, nicht anders als jeder Mensch.

Die Bibliothek liegt mitten in der Stadt, angenehm bescheiden gegenüber der wuchtig-massigen Kirche St.Stephan.

Diese Kirche wurde wie das Rathaus und die evangelische Stadtkirche am Marktplatz von Friedrich Weinbrenner erbaut, vor rund zweihundert Jahren. Keine andere Stadt hat Kolja bislang so gewaltsam den Eindruck aufgedrängt, in ihrem Stadtbild vom Wirken eines einzigen Architekten geprägt worden zu sein. Der monumentale Stil des Klassizismus trägt die Schuld daran. Jedes der Gebäude Weinbrenners strahlt den Anspruch der Macht aus, egal, ob Kirche, Rathaus oder das Palais eines reichen Fabrikanten.

Verbände sich die Haltung der Leute auf der Straße leichter mit diesem herrschaftlichen Gebaren, lösten sie es ein durch ihre Bewegungen und Gesten, diese auftrumpfende Prachtarchitektur würde Kolja vermutlich weniger irritieren.

Eine solche Harmonie fand er in Rom, wenn er um eine Ecke trat und mit einem Mal auf einem dieser wunderbaren Plätze stand, voller Licht und Heiterkeit, geborgen zwischen Häusern, deren Alter ihm entgegenströmte in ehrwürdigen Fassaden und dem stolzen Blick und dem sorglosen Gang ihrer Bewohner.

Eingang und Vorderseite fast jedes seiner Gebäude hat Weinbrenner mit einem mächtigen Säulengang umgeben, und die Karlsruher ...

„Nett, Sie hier wiederzutreffen.“

Der Mann reicht ihm die Hand, und Kolja greift mechanisch danach.

„Wir kennen uns doch, von Helmuts Geburtstagsfeier.“

„Ach ja, entschuldigen Sie, ich war gerade in Gedanken.“

„Macht nichts, ich habe Ihren Namen auch vergessen.“

„Kolja, ich heiße Kolja Burnt.“

„Bernhard, ich bin Helmuts Bruder.“

„Also auch ein echter Karlsruher?“

Der Mann sieht ihn an, als stellte man ihm eine bedeutsame Frage erstaunlicherweise zum ersten Mal.

„Weiß ich gar nicht. Wenn man von außen drauf guckt, Geburt und Haus und Frau, stimmt’s schon, aber ich bin viel unterwegs, wegen der Arbeit . Das verändert, ich merk’s immer wieder, wenn ich zwischendurch hier bin und mit denen rede, die nie mal groß weg gewesen sind. Wo kommen Sie denn her?“

„Aus Frankfurt, da war ich die letzten sechs Jahre.“

„Muss ja ein kleiner Kulturschock gewesen sein, nach Karlsruhe zu wechseln, oder?“

Kolja dankt ihm mit einem gespielt seufzenden Lächeln.

Der Mann, groß und schlank, kommt fast wie ein Dreißigjähriger daher, von weitem gesehen, bis sein Gesicht den Lebensweg verrät, der hinter ihm liegt, mit dem er zufrieden scheint, in ­einer sympathischen Art, weil es da offenbar genügend Fehlschläge gab.

Wollte man sich jetzt weiter unterhalten, müsste einer einen Grund dazu finden oder wenigstens Interesse andeuten, von ­seiner Lust auf ein Bier oder sonst was reden. Stumm stehen sie ­einander gegenüber, Kolja fällt nichts Besseres als Weinbrenner ein.

„Ihnen fällt es wahrscheinlich überhaupt nicht mehr auf, aber ein Fremder tut sich schwer mit diesem Weinbrenner-Stil. Der Marktplatz zum Beispiel, und dazu noch die Pyramide, das wirkt alles andere als einladend, und dazu wie aus der Zeit gefallen.“

„Ist es ja auch, und zwar in doppelter Hinsicht, wenn man bedenkt, dass Weinbrenner einfach hierhin übertrug, was ihm in Rom imponiert hatte. Hier St. Stephanus, da wollte er das ­Pantheon in Rom kopieren, ein überkuppelter Zylinder. Waren Sie schon mal drin?“

„Bis jetzt noch nicht. Ich wollte mir heute mal die Bibliothek anschauen“

„Ja, machen Sie nur, es lohnt sich! Da ist ja wieder ein bisschen Weinbrenner dabei, in Variation, mit den Säulen und dem Kuppel­dach, ich finde, das hat der Ungers gut gemacht.“

„Kennen Sie sich aus mit Architektur?“

„Nee, ich weiß halt, worüber geredet wird, meine ersten ­dreißig Jahre habe ich ja hier in der Stadt verbracht. Und was Bauen angeht, da suchen sie hier schon den Anschluss zu halten. Neben der Bibliothek finden Sie den Weinbrenner auch im Bundesgerichtshof, seiner Erweiterung, und in der Landeskreditbank, aber das haben Sie ja sicher schon gesehen, am Zirkel.“

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