Der entschwundene Garten

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REGENTAG

Nur einige kleine Schneehaufen, schmutzig und wie zerklüftet, hielten sich noch im Regen, neben dem Weg, wo man vor einigen Wochen den Schnee vom Pflaster hin geschaufelt hatte. Obwohl es noch nicht warm war, zeigte das Gras durch den Regen, der schon den zweiten Tag anhielt, erste Ansätze von frischem Grün. Die kahlen Äste der Bäume glänzten, von Nässe vollgesogen. Die Pfützen kamen nicht zur Ruhe, immer neuer Regen wühlte ihre Oberfläche auf, vergrößerte sie langsam.

Die Wolken schienen tief zu hängen. Sie hatten keine einheitliche Fläche, wie sonst bei Regen, sondern waren verschiedenartig, von hellerem und dunklerem grau, schwer von ihrer nassen Last, derer sie sich, langsam im Wind weiterziehend, entledigten.

Hinter vielen Fenstern schimmerte warmes Licht. Es war noch nicht Abend, aber die dichten Regenschleier dämpften das Tageslicht, sie sogen es regelrecht auf. Die Straßen der Vorstadt waren leer. Niemand war zu sehen, nur das milde Licht hinter den Scheiben ließ die Anwesenheit von Menschen erahnen. Das einzig sichtbare Lebewesen war ein kleiner Vogel; aufgeplustert und geduldig saß er auf einem Ast und ließ den Regen gleichmütig über sich hinweg fließen.

Auch das alte Bahnhofsgebäude lag verlassen. Seit vielen Jahren hatte hier kein Zug mehr gehalten, das Gebäude aber war nicht abgerissen worden. Als der Vorstadtbahnhof noch benutzt wurde, waren es einige Züge, die täglich hier gehalten hatten, Menschen waren gekommen und gegangen. Jetzt war er eine leere, verlassene Hülle, nutzlos, dem langsamen Verfall preisgegeben.

Die Scheiben an einem Fenster fehlten, eingeworfen von Kindern, für die der alte Bahnhof einzig noch von Nutzen war, als Spielplatz, aber der Regen hielt heute auch sie fern.

Das Abflussrohr der Dachrinne war schon lange verstopft, die Rinne war voll und schwappte laufend über; dicke Tropfen fielen über den Rand und zersprangen auf dem Pflaster, aus dessen Rissen bald überall das Unkraut wuchern würde.

Ein großer, rechteckiger, heller Fleck auf der Außenwand des Gebäudes erinnerte daran, wo einmal das Stationsschild gehangen hatte. Die Tür darunter war versperrt worden, um Landstreichern oder sonstigem Gesindel den Einlass zu verwehren, aber es war ein altes Schloss und dann war da noch die zerbrochene Fensterscheibe …

Der Mann, der in einem der Räume, es war der frühere Wartesaal, in dem noch rundherum an den Wänden die Holzbänke festgeschraubt waren, auf einer von eben diesen Bänken schlief, hatte das Fenster mit dem fehlenden Glas heute im Morgengrauen benutzt. Nun schlief er schon einige Stunden, hörte manchmal im Halbschlaf die Geräusche des Regens auf dem Dach, auf dem Fensterbrett, auf dem Pflaster.

Nachdem er aufgestanden war, hatte er eine dicke Jacke angezogen, die er zum Trocknen auf dem Boden ausgebreitet hatte. Sie war nicht mehr triefend nass wie heute Morgen, aber feucht. Noch war nicht Frühling, die Tage und Nächte waren, wenn auch frostfrei, sehr kalt.

Der Mann rollte die blaue Decke, unter der er geschlafen hatte, zusammen. Er entnahm einem kleinen, alten Rucksack, der so gut wie leer zu sein schien und den er als Kopfkissen benutzt hatte, ein Stück Brot und begann zu essen. Er zog dabei die Jacke fest um sich, denn er fror. Unter der Jacke trug er zwei dünne Pullover, dazu eine Hose, alt, verschmutzt, unten am Saum abgestoßen. Sie war an seinem Körper getrocknet in den letzten Stunden, ebenso wie die Kniestrümpfe und die abgetragenen Schuhe, die er ebenfalls nicht ausgezogen hatte.

Er war mit dem Essen fertig und ging auf und ab, um warm zu werden. Irgendwann blieb er stehen und sah durch das Fenster, dessen Scheibe heil, aber fast blind vor Schmutz war, in den Regen hinaus.

Der Mann war noch nicht sehr alt, aber auch nicht mehr jung, von einem unbestimmbaren Alter, unrasiert, das Haar ein wenig zu lang und wirr, mit tiefen Schatten unter den Augen. Die Augen selbst lagen sehr tief, sie waren von dunkler Farbe, ausdruckslos.

Weshalb war er hier? Ohne Bleibe. Allein. Woher kam er? Wohin ging er? Was war seine Vergangenheit? Was war seine Zukunft? Hatte er eine? War er einmal glücklich gewesen? War er es jetzt? Was fühlte er, als er hinaussah, in den Regen?

Er hatte die Decke in den Rucksack gestopft, der damit prall gefüllt war und hängte ihn sich an einem Riemen über die Schulter; der andere Riemen war abgerissen, die ausgefransten Teile baumelten lose. Er kletterte durch den leeren Fensterrahmen nach draußen. Es war sehr düster, war es nur der Regentag oder setzte bereits die Dämmerung ein? Wie spät es war, wusste er nicht.

Draußen auf dem Bahnsteig standen noch Bänke unter dem Vordach. Er setzte sich, legte den Rucksack neben sich, stand aber bald wieder auf und ging hin und her, um das Frösteln aus seinen Gliedern zu vertreiben. Er betrachtete das Pflaster, rissig, mit Löchern, die Bahnsteigkante bröckelte ab. Das Holz des Brettes am Schalter verwitterte, abblätternder Putz legte die Ziegel der Mauern bloß.

Einzig die Geleise mit ihren Schwellen und dem makellosen Schotter glänzten blank, neu und spiegelnd, als gehörten sie nicht hierher. Auf manchen Schwellen stand ein wenig Wasser.

Außer dem Rauschen des Regens war nichts zu hören, bis ein leises, fernes Poltern zu vernehmen war, das rasch näher kam und zu einem Donnern anwuchs. Drei Lichter einer Lokomotive drangen durch die Regenschleier. Mit unglaublicher Kraft zog sie Wagen um Wagen des Güterzuges hinter sich her. Noch war ihre Fahrt langsam, hier in der Stadt. Bald würde sie offenes Land gewinnen und ihre Geschwindigkeit vervielfachen. Wagen um Wagen rollte durch den alten Bahnhof. Dann herrschte wieder Stille. Die roten Rücklichter des Zuges schimmerten noch einen Augenblick durch den trüben Tag. Nur der Regen rauschte nieder auf das alte Bahnhofsgebäude und den jetzt leeren Bahnsteig.

DER ENTSCHWUNDENE GARTEN

Für einen Augenblick schien die Sonne grell durch eine Öffnung zwischen den vielfarbigen Wolken. Danach ging ein Graupelschauer nieder. Die harten, weißen Kügelchen sprangen beim Auftreffen auf die Erde noch einmal hoch, ehe sie liegen blieben und langsam zu schmelzen begannen.

Ein Spaziergänger wurde von dem plötzlichen Frühlingsschauer überrascht, stellte sich unter einen Baum am Wegrand, der ihm ein wenig Schutz bot und wartete. Lange würde der Graupelschauer, der sich jetzt mit Regen mischte, welcher durch das noch spärliche Blätterdach zu dringen begann, sicher nicht dauern. In kurzer Entfernung waren die Wolken bereits wieder heller, wurden vom Wind davon getrieben. Es war auch nicht kalt und der Schauer ließ bald nach.

Der Spaziergänger wollte eben weitergehen, der draußen noch leicht rieselnde Regen verursachte nicht mehr Feuchtigkeit, als das vom Baum tropfende Wasser. Da bemerkte er in der Mauer, die sich nur wenig neben dem Weg befand, eine unscheinbare Pforte. Er war schon oft hier entlang gegangen, aber die hölzerne Pforte war ihm noch nie aufgefallen. Der Spaziergänger überlegte. Der Regen hatte fast aufgehört und die Sonne schimmerte hinter der Wolkendecke. Feiner Nebel lag über der weißen Graupelschicht, die den Boden bedeckte.

Der Spaziergänger zögerte noch einen Augenblick, dann ging er zu der Pforte und drückte die Klinke herunter. Sie war verschlossen. Trotzdem versuchte er es noch einmal und merkte, dass die Tür nicht verschlossen war, sondern nur klemmte. Er versuchte ein weiteres Mal, sie zu öffnen. Sie bewegte sich ein wenig. Offenbar war die Pforte schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden. Er sollte vielleicht lieber weitergehen und die Tür vergessen. Wie kam er überhaupt dazu, hier eindringen zu wollen? Hinter der Mauer befand sich ja nur offenes Land, ebenso wie weiter vorne, am Ende der Mauer, welche übrigens keinem besonderen Zweck diente. Trotzdem versuchte er nochmals, die Tür zu öffnen. Er stemmte sich dagegen, sie bewegte sich langsam, die schweren Angeln kreischten, und widerstrebend ließ sich die Pforte ein Stück weit öffnen, so dass der Spaziergänger in den dahinter liegenden Garten blicken konnte.

Ein Garten? Er hätte nie für möglich gehalten, dass es hier einen Garten gab. Er sollte wohl besser gehen jetzt, sicher war der Garten Privatbesitz, in den er nicht so ohne weiteres eindringen durfte, doch irgendetwas, er wusste selbst nicht was, veranlasste ihn, durch die Pforte weiter zu gehen.

Es war ein sehr schöner Garten, wie er noch nie einen gesehen hatte, gepflegt und lieblich. Der Frühling schien hier viel weiter fortgeschritten zu sein, außerdem fiel ihm auf, dass hier der Boden nicht mit einer Graupelschicht bedeckt war und die Sonne bereits durch die Wolken schien; der Garten musste von dem örtlichen Schauer verschont worden sein.

Der Spaziergänger ging weiter auf einem schmalen Kiesweg entlang. Doch der Kies schien weich, seine Schritte verursachten kaum ein Geräusch beim Gehen. Der Rasen war sorgfältig geschnitten, von vielen ovalen und runden Beeten unterbrochen, in denen bunt und harmonisch die herrlichsten Blumen blühten. Es führten mehrere Wege durch den Garten, an ihren Kreuzungen plätscherten kleine Springbrunnen in steinernen Becken.

Wie unglaublich still und friedlich es hier war. Der Spaziergänger atmete den süßen und doch unaufdringlichen Duft der Blumen ein und hatte völlig vergessen, dass er offenbar fremdes Eigentum betreten hatte.

Nach einer Weile sah er hinter einer niedrigen Hecke an einem der Blumenbeete einen alten Gärtner arbeiten. Er trat näher, sah ihm eine Weile etwas verlegen zu und wusste nicht, ob er ihn ansprechen oder sich lieber unauffällig davonmachen sollte, ehe man ihn für sein unberechtigtes Eindringen hinauswerfen würde. Während er noch überlegte, hatte ihn der Gärtner schon bemerkt. Der Spaziergänger versuchte sich eben eine Ausrede zurechtzulegen, aber der Gärtner sah ihn freundlich, allerdings ein wenig überrascht an und schien dem Eindringling nicht im mindesten einen Vorwurf machen zu wollen.

 

Der Spaziergänger wollte zu einer Erklärung ansetzen, als der Gärtner sagte: »Das ist schön, dass doch wieder einmal jemand herkommt.«

Der Spaziergänger vergaß augenblicklich seine Entschuldigung, die er hatte vorbringen wollen und fragte verwundert: »Wem gehört denn dieses Land hier?«

»Wem es gehört?« Der Gärtner schien erstaunt, »ja, wem gehört es eigentlich? Eine interessante Frage.«

Der Gärtner sprach nicht weiter und der Spaziergänger sagte verwirrt: »Der Garten muss doch irgendjemandem gehören. Wer hat Sie denn eingestellt und bezahlt Sie?«

»Bezahlen? Ach ja, natürlich. Ich hatte schon vergessen, wie die Menschen sind. Kein Wunder, dass niemand mehr hierher kommt. Wie sind Sie denn überhaupt hier hereingekommen?«

Jetzt war der Mann wohl doch ärgerlich über sein Eindringen, dachte der Spaziergänger und sagte: »Ich habe mich vor dem Graupelschauer draußen unter einem Baum untergestellt und dabei zufällig eine Pforte bemerkt, die mir bisher noch nie aufgefallen war. Ich habe sie geöffnet und bin hereingekommen.«

Er überlegte, welchen Grund er eigentlich gehabt hatte, hereinzukommen, aber er wusste keinen und schwieg.

»Ein Graupelschauer?«, fragte der Gärtner und sah ihn an, »durch die Pforte sind Sie gekommen? Das ist allerdings interessant. Ich dachte, sie müsste längst so verrostet sein, dass sie sich nicht mehr öffnen ließe.«

»Sie ließ sich auch sehr schwer öffnen. Ich weiß selbst nicht, warum ich es tat. Sie müssen mein Eindringen entschuldigen. Ich hatte kein Recht dazu.«

»Aber ich bitte Sie, warum entschuldigen Sie sich denn? Jeder kann hierher kommen, der es möchte.«

»Jeder? Ist das ein öffentlicher Park? Ich wusste überhaupt nichts von seiner Existenz.«

»Ein öffentlicher Park? Das vielleicht nicht gerade, jedenfalls nicht so, wie Sie es meinen. Ich sehe schon, Sie verstehen nicht. Kein Wunder, dass die Menschen diesen Garten vergessen haben.«

Der Spaziergänger fragte sich, was er von dem eigenartigen Gärtner halten sollte. War der Mann verrückt? Wahrscheinlich sollte er einfach gehen, aber irgendetwas hielt ihn zurück und wie ein Verrückter kam ihm sein Gegenüber eigentlich nicht vor, so fragte er: »Warum haben die Menschen denn den Garten vergessen?«

»Das fragen Sie mich? Ich weiß es auch nicht. Es waren noch nie viele Menschen hier, aber seit langer Zeit kommt überhaupt niemand mehr. Ich fragte mich manchmal schon, ob es überhaupt noch Sinn hat, den Garten zu pflegen. Aber ich kann nicht anders, ich kann ihn nicht verkommen lassen. Und es hatte einen Sinn. Sie sind gekommen.«

»Ja, ich bin gekommen, wenn ich auch nicht recht weiß, warum.«

»Na, wenn Sie es nicht wissen.«

»Ich weiß es wirklich nicht. Aber warum weiß niemand von diesem Garten? Mir ist die Pforte erst heute aufgefallen, obwohl ich schon oft draußen vorbeigegangen bin. Was ist das hier für ein Garten?«

Der Gärtner zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete: »Das müssen Sie selbst entscheiden, was er für Sie ist.« Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, drehte sich aber noch einmal halb um und sagte: »Gehen Sie nur weiter durch den Garten, lauschen Sie auf seine Stille und erkennen Sie selbst, warum Sie hier sind.«

Der Spaziergänger tat, wie ihm geheißen und ging die Wege entlang. Er kam an vielen Blumenbeeten vorbei, eines schöner als das andere, an einem Teich, an Hecken und an Bäumen. Überall die gleiche vollkommene Stille und Harmonie. Nie hatte er einen solchen Frieden verspürt. Träumte er nur? Wo war er?

Irgendwann traf er wieder auf den Gärtner, der noch immer bei seiner Arbeit an dem Blumenbeet war. War er im Kreis gegangen oder arbeitete der Gärtner jetzt an einem anderen Beet? Es sah alles so gleich und doch immer wieder neu aus.

Der Gärtner bemerkte ihn sofort, trat an den Weg und sah ihn fragend an.

Der Spaziergänger wusste nicht recht, was er sagen sollte, er war noch immer zu verwirrt von dem allen und schwieg.

»Sie sind verwirrt«, bemerkte der Gärtner, »Sie wissen immer noch nicht, wo Sie sind.«

»Nein, nicht so recht.«

»Ja, wie ich schon sagte, das muss jeder selbst herausfinden. Ich kann Ihnen da nicht helfen. Wie gefällt es Ihnen denn hier?«

»Es ist wundervoll. Ich habe noch nie einen so schönen und friedlichen Garten gesehen, einen so … ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll.«

»Und Sie fühlen sich besser jetzt als vorher?«

»Ja, das tue ich.«

»Sie hatten Sorgen, als Sie draußen die Pforte entdeckten. Es gab ein Problem, mit dem Sie nicht fertig werden konnten. Oder Sie mussten eine Entscheidung treffen und wussten nicht wie.«

»Ja«, sagte der Spaziergänger zögernd, »das stimmt.«

»Lassen Sie den Garten auf sich wirken und Sie werden eine Lösung finden.«

»Aber es ist alles so unwirklich. Wie in einem Traum. Als wäre alles … eine Vision.«

»Ja, Träume … Visionen … gibt es das noch … in dieser Welt?«

Der Gärtner wandte sich langsam und nachdenklich wieder seiner Arbeit zu, während der Spaziergänger den Garten betrachtete. Er begann zu spüren, was der alte Mann meinte. Dies war kein gewöhnlicher Garten.

»Ich denke, ich weiß jetzt, was Sie meinen«, sagte der Spaziergänger.

Der Gärtner sah von seiner Arbeit auf und lächelte.

»Ich glaube«, sagte der Spaziergänger, »ich werde oft hierher kommen.«

Da wurde der Gärtner ernst und sagte: »Das glaube ich nicht. Es ist bisher niemandem gelungen, die Pforte ein zweites Mal zu finden. Überlegen Sie gut, bevor Sie gehen. Sie werden nicht noch einmal wiederkommen können.«

Der Spaziergänger glaubte nicht daran, er hatte sich die Stelle der Pforte genau gemerkt und er sagte: »Wir werden sehen.«

Der Gärtner sah ihn lange an, schüttelte den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Der Spaziergänger sah ihm noch eine Weile zu, doch der Gärtner schien ihn vergessen zu haben und sagte nichts mehr. So ging der Spaziergänger weiter durch den Garten, bis er plötzlich vor der noch immer halb offenen Pforte stand, durch die er gekommen war.

Er blickte lange zurück, verließ den Garten und stand wieder unter dem Baum wie vorhin. Noch immer tropfte Regen von den Blättern. Die Wolkendecke begann eben aufzureißen. Er hatte sich bestimmt viel zu lange aufgehalten, hatte die Zeit vollkommen vergessen und sah jetzt nach der Uhr. Aber es war kaum später als vorhin. Seine Uhr musste stehengeblieben sein.

Er drehte sich um, wollte die Pforte, durch die er eben gekommen war, wieder schließen, doch sie war bereits geschlossen, ja mehr noch, nichts in der Mauer wies darauf hin, wo sie sich befunden hatte. Der Spaziergänger ging langsam weiter bis ans Ende der Mauer und wandte sich um. Aber jenseits der Mauer lag nur offenes, karges Land vor ihm.

Da wusste er endlich, dass der alte Mann Recht gehabt hatte, er würde die Pforte nicht mehr finden. Er bereute, dass er nicht noch geblieben war. Ob er dort hätte für immer bleiben können? Das wäre wohl nicht möglich gewesen, er musste in sein Leben zurück und er würde es bewältigen.

Weshalb war gerade er auserwählt, diesen Garten zu betreten? Oder war alles nur ein Traum gewesen? Eine Vision? Wie war das möglich? Was war es, das ihm widerfahren war?

Aber er wusste, wenn er es auch noch immer nicht recht verstand, dass sein Aufenthalt dort einen Sinn gehabt hatte. Und vielleicht, eines Tages, würde er doch die Pforte wiederfinden.

DER LEUCHTTURM

Ganz am Ende der Landzunge befand sich ein alter Leuchtturm. Bei Ebbe konnte man ihn über die Klippen zu Fuß erreichen, doch bei starkem Wind oder gar bei Sturm war das ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen, denn die Felsen waren zerklüftet und zum Teil mit Algen überwuchert. Bei Sturm wurden sie auch bei Ebbe noch von der Brandung überspült.

Bei Flut war der Leuchtturm vom Festland abgeschnitten. Wegen der unregelmäßigen Felsen war die direkte Überfahrt mit einem Boot nicht zu empfehlen. Nur von der nächsten Landzunge aus konnte der Leuchtturm dann von der Seeseite her erreicht werden. Bei starkem Sturm war er wegen der gefährlichen Brandung völlig abgeschnitten. Doch auch bei stärksten Stürmen erreichten die Wellen seine Grundmauern auf einem erhöhten Felsplateau nur selten.

Die Küste war überall hier rau und zerklüftet, nur wenige Pflanzen trotzten dem kalten Wind. Einige Häuser lagen verstreut und einsam in etwas geschützteren Senken. Das nächste Dorf war eine gute Wegstrecke entfernt.

Früher hatte es einen Leuchtturmwärter gegeben, seit einigen Jahren jedoch sandte der Leuchtturm jede Nacht automatisch gesteuert sein elektrisches Licht in die Ferne. Nur einmal die Woche sah jemand aus dem Dorf hier nach dem rechten. Welch einsames Leben mochten die Wärter über Jahrhunderte hier geführt haben. Jetzt standen die kleinen Räume im Inneren der ausladenden Mauern leer, die Tür war stets verschlossen.

Vergeblich hatte an diesem Nachmittag eine Frau an der Tür des Leuchtturms gerüttelt und sich dann auf einen Felsen gesetzt. Sie blickte die hohen Mauern empor, fest und unverrückbar standen sie da, wie gegerbt vom salzigen Wind. Wie ein Symbol für Stärke erschien ihr der Leuchtturm. So wie er den Stürmen des Meeres müsste man den Stürmen des Lebens trotzen.

Wo hatte sie eigentlich hingewollt, als sie sich verfahren hatte auf den kleinen Straßen und ihr Weg sie in der Nähe des Leuchtturms vorbeigeführt hatte? Nur für einen Augenblick hatte sie den Leuchtturm von weitem gesehen, hatte ihr Auto abgestellt, war den schmalen Pfad herunter gewandert und über die Felsen herüber geklettert.

Zeit hatte sie, Zeit für diese kleine Wanderung, Zeit hier zu sitzen, auf dem Felsen über dem Meer, das Haar vom Wind zerzaust. Zeit hatte sie, Zeit nachzudenken, an sich zu denken. Nie hatte sie an sich gedacht, immer nur an anderes. Gedacht an so vieles, aber nie erkannt, was wirklich wichtig und wesentlich war. Sie hatte gelebt, wie man eben lebte. Wer hatte dieses »man« geschaffen?

War es noch Zeit für sie zur Umkehr, noch Zeit für einen Neubeginn? Konnte alles anders sein? Konnte sie frei sein? Was war Freiheit überhaupt? Und wie weit hatte man sein Schicksal selbst in der Hand?

Der Sommer ging zu Ende, oder war er es schon? War es schon Herbst? So unmerklich waren manchmal die Übergänge, ein ewiger Kreislauf von Vergänglichkeit und Wiedergeburt. Was jetzt dahinschwand, verwelkte, verdorrte, zerfiel, daraus würde neues Grün, neues Leben entstehen, im nächsten Frühling.

Wie weit und schön das Meer vor ihr lag, unter einer blauen Kuppel, deren Vollkommenheit die Ewigkeit erahnen ließ, die sie geschaffen hatte und die Unendlichkeit, die sich dahinter verbarg.

Die Sonne näherte sich dem Horizont. Bald würde der Leuchtturm sein Licht in die Nacht senden. Das Wasser stieg langsam höher. Ebbe und Flut, ewiges auf und ab, seit ungezählten Jahren. Wie das ständige auf und ab des Lebens.

Sie musste zurück, ehe die Flut kam und das steigende Wasser ihr den Weg abschnitt. Die Wellen brandeten gegen die Felsen, Spritzer nässten ihre Schuhe. Sie musste sich beeilen.

Sie erreichte den Hügel und stieg nach oben. Dort drehte sie sich um und sah lange auf den Leuchtturm, der inzwischen fast ganz vom Festland abgeschnitten war. Dieses Bild wollte sie niemals vergessen. Dann wandte sie sich ab und ging den schmalen Pfad zurück. Hinter ihr berührte die Sonne fast schon das Wasser. Es würde ein langer Weg zurück sein. Und ein langer Weg lag vor ihr. Wohin führte er sie? Sie würde es erst wissen, wenn sie am Ziel angelangt war.

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