Himmel (jetzt reicht's aber)

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

* * *

Das mulmige Gefühl, einen schweren Fehler begangen zu haben, wollte einfach nicht aus Stephens Gedankenwelt weichen. Oberflächlich betrachtet war es ihm gelungen, einen sicheren und obendrein gut bezahlten Job an Land zu ziehen, hierbei auch noch die Existenz seiner Mutter zu sichern; andererseits aber verursachte ihm die berufliche Zwangsjacke, die er sich

dadurch freiwillig angezogen hatte, erhebliches Unwohlsein. Ein Sieg konnte sich eben mitunter mehr wie eine Niederlage anfühlen. Selbstverständlich spielten hier die Erfahrungen aus zwei unterschiedlichen Erwachsenenleben eine Rolle und auch die Erkenntnis, dass diese dritte Version die unwiderruflich letzte sein würde. Hatte er die Weichen richtig gestellt?

Seit Stunden schon saß Stephen in seinem Jugendzimmer und brütete düstere Gedankengänge aus, beugte sich hierbei grübelnd über die Zeichnung Yggdrasils, welche er mit Feuereifer vervollständigt und sorgfältig um die neuesten Erlebnisse bereichert hatte. Das DIN A 3-Blatt füllte sich schon jetzt bedenklich, wurde zunehmend unübersichtlich. Da half alles nichts – er musste eine entsprechende Grafik auf seinem Rechner generieren, sofern er nicht den Überblick verlieren oder seitliche Blätter an die Zeichnung kleben wollte. Wozu übte er schließlich den Beruf eines Programmierers aus?

Stephen startete das Grafikprogramm seines Rechners. Moment mal … Stephens Miene hellte sich blitzartig auf. »Das ist es! Ich entwickle ein richtig schönes Programm für meinen Eigenbedarf und teste es ausgiebig. Vorher recherchiere ich ordentlich, damit ich alles über die Entstehung dieser Yggdrasil-Theorie weiß; die Erkenntnisse daraus kann ich in die Grafik einbauen.

Danach wird der LAMANTEC AG wieder die Abteilung »Spiele« angegliedert, denn die Leute lieben Mythen und Geheimnisse aus der Vergangenheit. Hoffentlich gelingt es mir wie beim letzten Mal, die Geschäftsführung von dieser Notwendigkeit zu überzeugen – weder habe ich diesmal ein Mitspracherecht, noch sitzt mein Vater mit im Boot. Ach was, ich werde bestimmt einen Weg finden!«, versuchte Steve sich selbst zu beruhigen.

»Ich kann es mir jetzt schon bildlich vorstellen … wenn jemand dann das Programm startet, sieht er erst einmal diesen wunderschönen Baum, umringt von weiß gewandeten Druiden, die gerade ein feierliches Ritual abhalten … Mann, ist das geil!«, murmelte Stephen erfreut und pickte erste Farben für den Baum aus der Skala. Jetzt strahlte der wieder junge Mann wie ein Honigkuchenpferd, vergaß völlig Zeit und Raum.

»Ha! Was, wenn ich dann jeweils nach dem Eintrag der neuesten Erlebnisse des Users durch das Programm berechnen lasse, was die Folgen aus diesen Veränderungen sein könnten, im Wege einer Prognose unter Benutzung einer Wahrscheinlichkeitsrechnung und gleichzeitigem Errechnen möglicher Lösungen bei vorwiegend negativen Entwicklungen? Grafisch gesehen würden bei jeder neu eingetragenen Entscheidung frische Ästchen am Baum wachsen, bis er am Ende des Lebens filigran verzweigt ist. Die erlebten Ereignisse werden auf zartgrünen Blättern in Stichpunkten verewigt; nicht mehr verfolgte Äste welken und sterben ab, die hierauf festgehaltenen Erlebnisse aber werden alle in einer Datenbank archiviert. Den Baum könnte man natürlich mit dem Finger auf dem Touchscreen in sämtliche Ansichten drehen und auch bis in die kleinsten Ästchen hineinzoomen. Sobald also im Textfeld ein bestimmtes Ereignis eingegeben wird, überträgt es das Programm automatisch an die richtige Stelle Yggdrasils. Seitlich bringe ich am besten eine Leiste mit Symbolen an, die stellvertretend für bestimmte, immer wiederkehrende Ereignisse im Leben stehen, das vereinfacht die Anwendung. Also Herzchen fürs Verlieben, eine Gewitterwolke für Streit, den Storch für die Geburt eines Kindes und so weiter … man könnte sogar Fotos von den betroffenen Menschen hochladen, um das Ganze für den jeweiligen User optisch zu personalisieren. Darauf hat die Welt doch gewartet! Einschließlich mir selbst. Da müsste ich dann auf alle möglichen Datensammlungen zugreifen, wie zum Beispiel menschliche Wertvorstellungen, Psychologie, religiöse Ausrichtung. Alle Details eben, die einen Menschen so handeln lassen, wie er es nun mal tut. Unter Berücksichtigung verschiedener Persönlichkeitsmuster und Prägungen. Eigentlich müsste jeder User dann zu Beginn erst einmal persönliche Fragen zu Charakter und Ansichten beantworten, um ein Profil abzuspeichern … so ähnlich wie bei diesen Internet-Kontaktbörsen, nur ehrlicher.«

An diesem Punkt seiner Überlegungen ereilte Stephen die Ernüchterung wie eine kalte Dusche. Verflixt nochmal, er hatte in seinem Eifer ganz vergessen, dass die JoinMe-Lösungen, die weltweiten Zugriff auf schier unvorstellbare Rechenleistungen ermöglichten, im Jahr 2004 noch ebenso wenig existierten wie echte 3 D-Programme; diese Anwendungen würden ja erst in einigen Jahren nach und nach zur Verfügung stehen, das wusste er aus Leben Nr. 2. Der begnadete Programmierer Dan Biterman, der ihm damals bei der Ausarbeitung des Spiels »Die Ikarus-Matrix« zur Seite gestanden hatte, befand sich 2004 noch im Kleinkindalter. Somit blieb Steve derzeit nur übrig, sprichwörtlich etwas kleinere Brötchen zu backen und sich mit den technischen Möglichkeiten der jetzigen Ist-Zeit anzufreunden, den Rest schweren Herzens auf später zu vertagen. Die Verknüpfung und Verarbeitung derart riesiger Datenmengen waren zurzeit einfach noch nicht im erforderlichen Maße machbar.

Aber eines fernen Tages würde das Internet für nahezu jeden Menschen dieser Welt am Beginn seines Lebens zunächst einen kleinen Schössling, später einen mächtigen, alten Baum bereithalten, welcher ein detailliertes Abbild seines Lebens zeigte. Da war Stephen sich fast sicher.

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!« überlegte Stephen etwas desillusioniert. »Dann gibt es das Bäumchen derweil eben nur für meinen Eigenversuch, programmiert aus den begrenzten Mitteln der technischen Steinzeit. Ich werde die Funktionen ausgiebig testen, Fehler beheben und das Programm dem jeweiligen Stand der Technik angleichen. Auch gut! Außerdem kann ich jetzt wenigstens Mutter erklären, wieso diese Zeichnung auf meinem Tisch liegt, die sie so sehr beunruhigt hat. Bislang hat sie nur nichtssagendes Gestammel als Erklärung von mir gehört, was ihre Beunruhigung gleich noch weiter steigerte. Jetzt hingegen kann ich das Grundgerüst programmieren, es ihr zeigen und behaupten, die Zeichnung sei der Entwurf für dieses neue Programm gewesen. Ich werde ihr meine Zukunftsidee erklären, welche eines schönen Tages für turbulente Innovationen bei der LAMANTEC sorgen wird. »The Eternal Destiny Of Yggdrasil«, so werde ich das Projekt nennen! Stephen, mein Junge – du hast dich soeben wieder mal aus einem sehr, sehr tiefen Misthaufen nach oben an die frische Luft gegraben!«, sinnierte er stolz und klopfte sich selbst auf die Schulter. Und steuerte geradewegs wieder auf die gefährlichen Untiefen seines alten Fahrwassers zu.

* * *

Während Stephen damit beschäftigt war, sich und Simon Jansen bei der LAMANTEC einzuarbeiten, ging der Sommer langsam in den Herbst über. Schon fegten erste Stürme über die Deiche und machten Spaziergänge kühl und ungemütlich. Die Nordsee verwandelte sich in eine wenig einladende, trüb-braune Brühe, deren Anblick nun viele Menschen vom Strandbesuch abhielt. Wie unterschiedlich doch das tiefblaue Mittelmeer selbst im Winter auf Stephen gewirkt hatte! Dennoch ließ Stephen McLaman es sich nicht nehmen, oft und lange in Cuxhaven spazieren zu gehen, immer wieder an verschiedenen Stellen.

Zuerst hatte er sich vernunftgesteuert gezwungen, hiervon Abstand zu nehmen. Wollte es sich selbst verbieten, in Sachen Lena Nachforschungen vorzunehmen und das Schicksal zu beeinflussen, so sehr er sich das auch gewünscht hätte. Denn vergessen konnte er die gemeinsame Zeit auch in diesem Leben nicht. Dann jedoch hatte er im Internet den Beweis dafür gefunden, dass Lena auch in Version 3 seines Lebens existierte und wie eh und je in Cuxhaven bei den Kellers wohnte. Ihr Gymnasium hatte nicht nur ein Klassenfoto im Netz veröffentlicht, sondern auch das Jahrbuch mit Namen und Adressen sämtlicher Schüler. Das Foto hing nun als Ausdruck wie eine ständige Mahnung über Stephens Bett, angepinnt mit roten Reißzwecken.

Es wäre natürlich ein Einfaches gewesen, ihr einfach vor dem Gymnasium aufzulauern oder vor dem Wohnhaus ihrer Stiefeltern Aufstellung zu nehmen, um sie sehen und sprechen zu können. Doch das dünkte ihm irgendwie falsch. Nein, er wollte sie irgendwo mehr oder weniger zufällig treffen, ihr tief in die Augen sehen und aus dem Augenblick heraus wahrnehmen, ob es ganz von selbst bei ihr funkte. Ob ihre Seele ihn erkannte. Denn in diesem Fall hätte ihnen das Schicksal eine gemeinsame Zukunft vorherbestimmt, auf diesen Test legte er größten Wert; die Lektion, dass man es nicht gewaltsam verbiegen sollte, hatte Stephen nämlich schmerzhaft gelernt.

Weder durfte er wegen dieser Aktion sein eigenes Seelenheil riskieren, noch Lena in die Gefahr bringen, wieder einen Selbstmordversuch zu starten oder in der Psychiatrie zu landen. Je mehr Lebenserfahrung man sich erwarb, desto komplizierter wurde offenbar das Leben, überlegte Stephen. Da war Vorsicht geboten. Oft ergab es sich, dass Steve sich nach seinen Cuxhaven-Einsätzen, die berufsbedingt meist an den Wochenenden oder abends stattfanden, mit seiner Halbschwester Belinda traf; es hatte sich irgendwie eingebürgert, dass einer von beiden ganz unverbindlich per SMS anfragte, was der andere denn heute so treibe. Mal ging die Anfrage von Belinda aus, mal von Stephen – seit Katis Abgang war er ja wieder solo, hatte also jede Menge freie Termine und abgesehen von seiner Mutter und den Arbeitskollegen in der Firma kaum soziale Kontakte.

Dennis gefiel der neue Onkel ganz hervorragend. Immer führte Steve leckere Süßigkeiten oder kleine Geschenke mit sich, wenn Belinda den quirligen kleinen Burschen mitbrachte. Zuerst war es Belinda irgendwie unangenehm gewesen, im Doppelpack zu den Dates einzutreffen. Dann jedoch hatte sie registriert, dass es genau dieser Faktor war, welcher allen Beteiligten einen Heidenspaß bescherte und dass Stephen außerdem prima mit kleinen Kindern umzugehen verstand. Dennis‘ dunkle Hautfarbe störte ihn nicht im Geringsten; Belinda hatte durchaus auch schon gegenteilige Erfahrungen gemacht. So nach dem Motto: »Ich treffe mich gerne mit dir, aber lass bitte das Negerbaby zu Hause!«

 

Nach einem dieser netten Nachmittage, als Stephen nach Hause kam und bei einer Tasse Kaffee entspannt über die Programmierung von Yggdrasil nachdachte, schweiften seine Gedanken wieder einmal zu Lena ab; was mochte sie gerade in diesem Augenblick machen? Er versuchte, sich zu erinnern. Anfang Oktober 2004

… beim ersten Aufeinandertreffen war sie zu diesem Zeitpunkt drauf und dran, ihr Leben in den kühlen Fluten der Nordsee beenden zu wollen, wovor sie ein gewisser Halbengel auftragsgemäß beschützte.

Beim zweiten Mal dann hingegen kannte Stephen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wenn er sich recht erinnerte. Daher fehlte ihm auch die Information, wann genau sie nach einem Streit mit ihren Eltern nach Spanien abgedampft war. Hielt sie sich derzeit überhaupt noch in Cuxhaven auf? Es war ihm bisher auf keinem seiner Ausflüge gelungen, ihrer irgendwo ansichtig zu werden. Stephen erschrak bis ins Mark. Verdammt, warum hatte er bisher überhaupt nicht daran gedacht? Wenn alles lief wie in der vorigen Version seines Lebens – und davon war auszugehen – würde Lena bald nach Spanien gehen, um sich selbst neu zu definieren. Aber danach würde sich alles verändern, weil ja weder Lena noch Yolanda auf Stephen treffen konnten, der beider Leben dort maßgeblich beeinflusst hatte. Nach seiner eigenen Auffassung trug er sogar eine zumindest passive Mitschuld an Yolis Tod. Stephen befand sich dieses Mal jedoch in Hamburg; würde Lena ohne sein Zutun in Spanien Fuß fassen können und dort bleiben, er sie vielleicht nie mehr wiedersehen?

Die zu erwartenden Veränderungen konnten für Stephen und den Rest der Welt unabsehbare Folgen haben, diese mögliche Entwicklung drang ihm nun mit unerbittlicher Härte ins Bewusstsein. Wer garantierte denn, dass Lena trotzdem wieder schwanger werden und seine Tochter Jessica, den künftigen Messias, austragen würde? Rein physisch wäre die Empfängnis diesmal bestimmt nicht möglich, es sei denn, der Himmel hatte wieder einmal seine imperativen Finger im Spiel.

Für den Rest dieses Tages, der doch so positiv begonnen hatte, versank Stephen wieder rettungslos in seinen depressiven Grübeleien, vergrub sich tief in seiner Zukunftsangst. Er fühlte sich wie ein alter, kraftloser Greis in einer jungenhaften Verpackung. Wäre es jemals zu Ende? Würde er seinen Seelenfrieden in diesem Leben finden? Momentan sah es nicht danach aus.

* * *

Das Spiegelbild lächelte zurück. Kein Zweifel, sie sah umwerfend aus. Wer hätte das gedacht? Die junge Frau fuhr sich anerkennend durch die dichte, goldblonde Mähne. Wo vorher noch feines, hellbraunes Haar in Schulterlänge ihr hübsches Gesicht eingerahmt hatte, flossen jetzt voluminöse Goldwellen den Rücken hinunter, ließen ihre schlanke Gestalt noch filigraner wirken. Was ein bisschen Farbe und eine Haarverlängerung mittels angeschweißter Strähnen doch alles bewirken konnten!

Sie war bereit. Endlich! Das Mädchen hatte alle erforderlichen Informationen gesammelt, seine gesamten Ersparnisse aufgebraucht und glich im Erscheinungsbild nun durchaus diesem verhassten dunklen Engel, dessen Tage jetzt gezählt wären, wenn alles klappte. Sogar die passenden Klamotten hatte sie sich zugelegt und fühlte sich mit ihrer radikalen Typveränderung mehr als zufrieden. Ein paarmal hatte sie sich in ihrer neuen Aufmachung kurz in der Öffentlichkeit blicken lassen, deren Wirkung auf die Männerwelt getestet; mit großem Erfolg.

Hartnäckigkeit zahlte sich eben stets aus; man musste ein Ziel anvisieren und dann nicht mehr locker lassen, bis man es gegen alle Widerstände erreichte. Das war ihr schon im Elternhaus und in der Schule immer wieder gelungen, wenn auch manchmal erst nach drastisch-theatralischen Einlagen. Spätestens dann, wenn sie den verletzlichen sterbenden Schwan markiert hatte, waren auch die Hartgesottensten weich geworden.

Als Frau musste man nicht hochintelligent sein, um Erfolg zu bekommen. Es reichte, wenn man hübsch aussah und eine gewisse Skrupellosigkeit besaß, da war sie sich sicher. Deshalb hatte sie sich in der Schule auch nicht wirklich um Leistung bemüht. Oft und gerne durchstöberte sie dagegen die Glamour-Magazine, bewunderte all die schönen Frauen, welche es geschafft hatten. Die sich einen erfolgreichen, vermögenden Mann anlachten und nachher für immer ein dekadentes Dasein im Luxus führten, ohne selber einen Finger rühren zu müssen. Ein Leben zwischen Kosmetiksalon, Modeschöpfern und Schönheitschirurgen an den schönsten Orten dieser Welt schien ihr das Paradies zu sein.

Einmal in diesen Kreisen eingeführt, tat es sicherlich auch nichts mehr zur Sache, ob man sich nach der Hochzeit mit diesem Ehemann weiterhin verstand. Bei der Scheidung gab es meistens einen tollen finanziellen Ausgleich und man konnte sogleich das nächste potentielle Opfer anvisieren, man gehörte ja dazu.

Wahre Liebe? Pah, über diese Illusion, diese flüchtige chemische Reaktion im Gehirn konnte sie nur lachen. Die Männer wollten sowieso alle nur das Eine, diese Erfahrung hatte sie bereits öfters gemacht. »Wham-Bam – thank you, Mam«. Danach wurde man schnell fallen gelassen, war nicht mehr von Interesse. Oder man fristete nach der Hochzeit ein langweiliges Spießerleben, welkte gleichgültig vor sich hin; so wie ihre kleinbürgerlichen Eltern seit Jahrzehnten nebeneinander auf der Couch einer billigen Mietwohnung verrotteten.

Nein, danke! Wer wollte es ihr verübeln, dass sie sich jetzt eben auch mal ein Stück von diesem vielversprechenden Kuchen namens Reichtum abschneiden würde?

* * *

»Du sag mal, Belinda – wie gut kennst du dich mit der alten Kelten-Mystik aus? Du hast doch ein Faible für so was, oder?«

Die Angesprochene strahlte, nickte mit wissendem Blick. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand sich ernstlich für ihre exzentrische Gedankenwelt interessierte. Sie liebte es nun einmal, sich aus dem harten Alltag in eine Welt zurückzuziehen, die bis in die Welt der Götter und Geister hineinreichte. In einen Bereich, der Wunder und unerklärliche Ereignisse möglich machte. Eine faszinierende Zwischenwelt war das, in welcher profane Nervensägen wie ihre Chefin aus dem Kosmetiksalon sicherlich keinen Zugang erhielten. »Ziemlich gut sogar, ich habe mich viel mit den Überlieferungen befasst. Was willst du denn wissen?«

Stephen saß mit seiner Halbschwester an einem Samstagabend in deren schummriger Lieblingskneipe »Schattenreich« in der Altstadt, welche er zuvor noch gar nicht gekannt hatte. Belinda hatte ihn vor einigen Wochen dort eingeführt. Seither waren sie mehrmals hierher zurückgekehrt, da Stephen die Kneipe irgendwie schräg und gar nicht langweilig fand.

Man stieg die schmale Treppe an der Rückseite eines alten Stadthauses hinauf, tastete sich im Halbdunkel in Schlangenlinien durch einen heruntergekommenen Flur, um nicht an die Stapel mit Getränkekästen zu stoßen und landete schließlich vor einer metallenen Tür, aus der die unheimliche Rockmusik der GothicSzene nach draußen drang. Man musste einen Türklopfer in Form einer Fledermaus betätigen, um eingelassen zu werden; natürlich erst nach der optischen Kontrolle durch einen schmächtigen Jungen, der eher wie eine Fantasy-Figur denn wie ein Mensch aus Fleisch und Blut aussah. Der hätte ebenso gut einer finsteren Sage aus der Vorzeit entsprungen sein können, auch wenn Belinda begeistert behauptete, es handele sich um einen äußerst begabten Gitarristen einer angesagten Band.

Es war im Grunde ein Glück, dass der Flur vor dieser Tür in relativer Dunkelheit lag, denn sonst hätte man beim Eintreten in die Kneipe wohl gar nichts mehr erkennen können. Nur ein paar mickrige Kerzen erhellten die Szenerie, deren Konturen sich erst nach einigen Minuten deutlicher herausbildeten und dann zart besaiteten Naturen vermutlich Angst bereitet hätten. Doch die kamen hier gar nicht erst herein; es handelte sich um eine Art Club der Finsternis, wie Stephen seiner Begleiterin beim ersten Besuch grinsend zugeraunt hatte. Einzig hinter dem Bartresen befanden sich dezente Beleuchtungen, damit der Keeper überhaupt seine Flaschen auffinden konnte.

Heute war leider der kleine Tisch in der hintersten Ecke schon besetzt gewesen, den sich die beiden sonst immer sicherten; somit mussten sie weiter nach vorne, in die Nähe der dröhnenden Musikanlage. »Also, es geht zunächst einmal um diesen Baum, die Weltenesche. Sagt dir die Bezeichnung »Yggdrasil« irgendetwas?«, rief Stephen seiner Begleiterin über den Tisch hinweg zu, formte seine Hände hierbei wie einen Trichter vor seinem Mund.«

»WAS!?« Ich verstehe kein Wort!« Belinda beugte sich über den Tisch und formte ebenfalls einen Behelfs-Trichter, jedoch vor dem rechten Ohr. Die schwarzen Rüschen an den Manschetten ihrer Bluse drapierten sich dabei dekorativ um die schmalen Handgelenke. Man hatte die Bässe des düsteren Rocksongs, dessen Klänge bedrohlich durch den Club der Finsternis waberten, soeben noch lauter eingestellt. Sie wummerten nun schon fast schmerzhaft, erzeugten eine deutliche Resonanz im Zwerchfell. Dazu röhrte eine rüde nordische Rock-Band einen tragischen Text über Ragnarök, den Tag des Jüngsten Gerichts.

»Mann, ist das heute laut hier! Ich glaube, Unterhaltung macht keinen Sinn! Weißt Du was? Wir trinken wie immer ein Guinness, dann verdrücken wir uns irgendwo hin, wo sie leisere Töne anschlagen, einverstanden?«, brüllte Stephen.

»Klar!« Belinda nickte belustigt und machte dem offensichtlich zugekifften Barkeeper ein Zeichen, welcher träge ebenfalls nickte und behäbig zwei Flaschen aus dem Kühlschrank auf die Theke beförderte.

Als das dunkle Bier wenig später vor ihnen auf dem urigen Holztisch stand, lehnten sich Stephen und Belinda auf ihren Sitzbänken zurück, ließen die Atmosphäre auf sich wirken. Die Szene hatte etwas Unwirkliches, in Stephens Kopf entstanden in dieser Dunkelheit unwillkürlich phantasievolle Bilder.

Plötzlich beschlich ihn das unheimliche Gefühl, mit seiner schweigenden Halbschwester auf einer finsteren Waldlichtung zu sitzen. Die vielen verschnörkelten Silberringe an ihren Händen schimmerten im selben kühlen, weißlich-fahlen Licht wie der Mond, dessen schwaches Licht die Szenerie dürftig erhellte.

Schatten im Hintergrund simulierten die krallenartigen Äste toter, vom Regen durchnässter Bäume und die gelegentlich vorbeihuschenden Gäste, die sich in Wirklichkeit nur ihren Weg zur Toilette suchen mochten, konnte man sich mühelos als lauernde, schleichende Tiere vorstellen. Während im Song Ragnarök krachend nach und nach in eine bedrückende, wahrhaft trostlose Stille überging, sah Stephen das Flackern der Kerzen als kleine Feuer, die in einer brennenden Stadt die Fenster erleuchteten. Nein, in dieser Kneipe brauchte es keine Drogen oder Rituale, um in die »Anderswelt«, wie Belinda das nannte, hinüber zu dämmern.

Der nächste Song. Jetzt beschrieb jemand ausgiebig seinen intensivsten Drogenrausch, untermalt von klagenden, langgezogenen Tönen. »Muss wohl ein Horrortrip gewesen sein«, dachte Steve amüsiert. Er betrachtete Belinda, welche ebenso geistig abwesend zu sein schien wie er selbst. Wie mochte sie den Song und ihre Umgebung erleben, hatte sie ähnliche Visionen? Er würde sie später danach fragen.

In diesem Licht, mit versonnenem Blick und dem zarten Lächeln im Gesicht erinnerte sie ihn so sehr an Lena, dass ihm augenblicklich schwer ums Herz wurde. Sie war eine der wenigen Frauen hier, die ihr Haar nicht schwarz gefärbt trugen; so schimmerten einzelne Reflexe ihres langen Haares wie ein Lichtblick aus der Dunkelheit, tanzten bei jeder Kopfbewegung gleich kleinen Irrlichtern an den Strähnen hinunter.

Als er sie einmal nach dem Grund für das Beibehalten ihrer Naturfarbe fragte, hatte sie geantwortet, sie beuge sich überhaupt keinen Konventionen, das wäre ja noch schöner. Auch nicht denen der Szene. Das hatte Stephen immens beeindruckt, er schätzte Individualität. Sie machte einen Menschen einzigartig.

Der Zufall wollte es, dass Stephen und Belinda gleichzeitig ihr leeres Bierglas auf den Tisch zurückstellten. Sie nickten sich zu, standen im selben Moment auf und strebten dann in Richtung Ausgang, nachdem Belinda dem unzurechnungsfähigen Barmann noch einen Geldschein auf dem Tresen hinterlassen hatte.

 

Gerne hätte Steve die Rechnung übernommen, aber Belinda besaß anscheinend eine ganze Menge von Vaters Genen. Diejenigen mit dem schottischen Stolz, welcher einem die Annahme von allzu vielen Geschenken unmöglich machte, weil man ansonsten zu befürchten hatte, von anderen Menschen im Rahmen einer verpflichtenden Abhängigkeit beherrscht zu werden. So akzeptierte Stephen Belindas »einmal ich, einmal du«-Regel relativ widerstandslos, obgleich er ein Vielfaches von Belindas kargem Lohn verdiente.

Die Metalltüre fiel ins Schloss, was die Geräuschkulisse gleich erheblich dämpfte; Belinda und Stephen standen nun wieder im Flur und überlegten laut, wo sie anschließend hingehen sollten.

»Also, ich hätte noch so 2 Stündchen Zeit«, überlegte Belinda.

»Dann möchte mein Babysitter bestimmt nach Hause. Weißt du, ich musste mir heute extra einen Studenten mieten, denn meine beste Freundin Sarah hatte selber ein wichtiges Date! Das wollte ich ihr natürlich nicht versauen, auch wenn bei ihr so ziemlich alle Dates fürchterlich wichtig sind; sie frönt einem klitzekleinen Hang zu Übertreibungen, die Gute. Lass mal sehen … kennst du das kleine Café »Da Giacomo« in der Nähe vom Kosmetiksalon, in dem ich arbeite?«

»Wo es den genialen Latte Macchiato gibt?«, fragte Stephen erstaunt. Belinda überraschte ihn immer wieder. Er konnte kaum glauben, dass er sie bis vor kurzem über mehrere Jahre hinweg nicht gesehen hatte, so vertraut erschien ihm ihre Gesellschaft. Vielleicht lag es ja auch daran, dass sie Lena erschreckend ähnlich war und überdies genau wie diese zur Hälfte aus seinem eigenen Vater bestand.

»Genau da, richtig geraten! Die haben so bis um Eins geöffnet, am Abend mixen sie sogar hervorragende Cocktails. Was ist, machen wir einen Spaziergang dorthin und testen das Zeug?« Belinda hakte sich bei Stephen unter, schritt mit ihren hohen Absätzen sicher über das Kopfsteinpflaster.

Auch das kannte Stephen. Die Spanierin Yoli hatte es geliebt, solche Mörderhaken mit anmutiger Eleganz an ihren zarten Füßen zu tragen, obwohl sie als Kellnerin jeden Abend kilometerweit laufen musste.

Yoli … welch ein Glück für sie, dass sie ihm in diesem Leben nicht begegnen würde. Ein Schuldgefühl weniger.

* * *

Lena Keller saß konzentriert am Küchentisch, hatte mehrere Bücher um sich herum ausgebreitet. Oft nutzte sie die Abendstunden, um ihre Hausaufgaben noch einmal zu überprüfen oder um etwas auswendig zu lernen. Ihre Stiefmutter Meike bügelte singend im Schlafzimmer, die Stiefgeschwister Maja und Mark hatten es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht.

»Meike, ich bin da!« Mit schweren Schritten polterte Piet den Flur entlang, der eben seinen langen Arbeitstag in der Schreinerei beendet hatte. Er steckte den Kopf zur Küchentür herein.

»Meike?!« Als er stattdessen Lena am Tisch sitzen sah, verfinsterte sich seine Miene. »Was sitzt DU denn schon wieder hier? Du hast ein eigenes Zimmer und ich möchte jetzt zu Abend essen, wenn du gestattest!«

Lena seufzte und packte zügig ihre Lernutensilien zusammen. Eigentlich mochte sie Piet und er mochte sie, seit seine Frau Lena als kleines Kind aus dem Kindergarten mit nach Hause gebracht hatte. Damals war Lenas alleinerziehende Mutter plötzlich spurlos verschwunden und er hatte schließlich einer Adoption zugestimmt, weil seine Frau ganz vernarrt in die Kleine gewesen war und sie keinesfalls dem Jugendamt überlassen wollte.

In letzter Zeit jedoch häuften sich die Konflikte zwischen Lena und ihrem Stiefvater, obwohl Lena ein wirklich verträgliches Mädchen war und sich stets bemühte, ihm nicht negativ aufzufallen. Es war auch weniger das, was Lena TAT, was Piet störte; es war vielmehr das, was sie NICHT tat oder was sie unbewusst für ihn darstellte.

Die Kellers kannte man als bodenständige, alt eingesessene Familie. Ein fleißiger Schreiner, der anpacken konnte und seine Meinung geradeheraus gegenüber jedermann ohne schnörkelige Verpackung vertrat. Dazu eine kleine, rundliche Frau mit liebem Gesicht, die einen Kindergarten leitete und ansonsten für ihre Familie da war, ohne hierbei ehrgeizige Ziele zu verfolgen. Mark und Maja, deren leibliche Kinder, waren ähnlich strukturiert und passten sehr gut in dieses Lebenskonzept.

Lena, das Adoptivkind, unterschied sich hingegen schon optisch wesentlich von den anderen Familienmitgliedern. Sie hatte nichts Derbes oder Gewöhnliches an sich. Wie eine zarte, rotblonde Elfe träumte sie sich durchs Leben. Sie liebte vor allen Dingen Bücher und die Kunst, benahm sich meistens ausgesprochen introvertiert. Man konnte nie erahnen, was sie gerade dachte, während sie unergründlich vor sich hin lächelte. Genau dieser Umstand war Piet mehr als unheimlich. Mit so etwas konnte er nicht umgehen, er hatte es nie gelernt.

Noch schlimmer jedoch erschien ihm Lenas passives Wesen. Tat ihr jemand etwas an, so nahm sie es hin, ohne sich zu wehren. Piet verachtete Menschen, die sich als armes Opferlamm zu erkennen gaben; er hielt das für ein Zeichen von erbärmlicher Schwäche. Man konnte diesem Mädchen sagen und beibringen, was immer man wollte: es wich keinen Deut von seinem selbstzerstörerischen Kurs ab. Und mittlerweile war der Punkt gekommen, an welchem Piet Keller dies nicht mehr zu tolerieren gedachte. Er arbeitete hart und verspürte einen Bärenhunger, da konnte er in der Küche einfach kein vergeistigtes Fabelwesen gebrauchen, das seine Nase in Bücher steckte.

Lena hatte sich zwischenzeitlich in ihr Zimmer verdrückt, um nicht wieder der Grund für einen handfesten Streit zwischen Mama Meike und dem mürrischen Piet zu werden; dennoch schien sich genau ein solcher gerade anzubahnen, sie konnte es deutlich durch die geschlossene Tür bis hin zu ihrem Schreibtisch hören. Wieder einmal war sie selbst der Anlass, ohne bewusst etwas Falsches getan zu haben.

Für einen harmoniesüchtigen Menschen von Lenas Struktur war so etwas schwer zu ertragen, die Traurigkeit bohrte sich mit jedem aufgeschnappten Wort lähmend in ihr Herz. Dabei hatte sie sich so sehr auf ihr neues Buch gefreut – wie fast immer handelte es sich um eine romantische Fantasy-Geschichte. Nein, hier würde sie ihre Neuerwerbung nicht in Ruhe und Frieden lesen können, nicht mitten in dieser negativen Geräuschkulisse.

Lena schlüpfte in ihre Schuhe und fasste den Beschluss, in das kleine, gemütliche Café zu gehen, welches sie neulich nach der Schule entdeckt hatte. Dort konnte man sich schön an den kleinen Tisch an der Ecke setzen und war ungestört. Jetzt freute sie sich doch auf den Lesegenuss!

* * *

Lachend und scherzend trafen Belinda und Stephen beim »Giacomo« ein; soeben hatte Belinda ihren Begleiter für den kommenden Samstag zu sich nach Hause eingeladen. Das erschien ihr als sicherste Methode, um in Ruhe über Yggdrasil diskutieren zu können; außerdem glaubte sie sich zu erinnern, dass sie ein paar erläuternde Zeichnungen in einem ihrer Bücher gesehen hatte. Die hätte sie Stephen gerne gezeigt, genau wie ihre kleine gemütliche Mietwohnung und das Fotoalbum, welches Bilder von ihrem kurzen Ausflug in die Vereinigten Staaten von Amerika beherbergte. Sicher würden Stephen die Fotos aus Kalifornien gefallen.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?