Zeitmanagement und Selbstorganisation in der Wissenschaft

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In der Motivation werden drei Ebenen unterschieden: Die Notwendigkeit, zu überleben und die dazu nötigen Mittel zu beschaffen, bildet die basale Ebene. Wo diese Grundlage brüchig ist, kann Verzweiflung aufkommen.

Die zweite Ebene, nämlich äußere Motivation durch Bestrafungen und Belohnungen, oder in milderer Form durch Kritik und Lob oder Anerkennung, ist alleine und auf Dauer auch nicht ausreichend für das Durchstehen der langen Qualifizierungsphase. Schließlich ist man hierbei von anderen abhängig, von ihrem Wohlwollen, ihrer Akzeptanz und Fairness.

[18]Die höchste Stufe ist die Selbstmotivation durch das Erfahren von Kompetenz, Können und Wissen, von Autonomie und von Sinn im eigenen Tun.4 Bei diesen drei Faktoren schneidet wissenschaftliche Tätigkeit an sich recht gut ab: Sie basiert ja auf Wissen und dessen Anwendung; zudem erlaubt sie trotz aller institutionellen und weichen Zwänge ein überdurchschnittliches Maß an Selbstbestimmung. Allerdings garantiert der Motivationsfaktor Autonomie noch nicht, dass ein angemessener, stabiler und entwicklungsfähiger Platz im System erreicht wird. Was den dritten, intrinsischen Faktor angeht, wird Wissenschaft jenseits von Master, Diplom oder Magister ohnehin von den Menschen als Beruf erwählt, die darin einen Sinn erkennen, der über unmittelbare Nützlichkeit hinausgeht – sei es klassisch gesprochen das Finden von Wahrheit, das Aufzeigen von Schönheit oder das Befördern von Gutem.

 Was hat mich ursprünglich motiviert, eine wissenschaftliche Tätigkeit zu wählen?

 Was motiviert mich heute, dabei zu bleiben?

 Was kann ich tun, um meine intrinsische Motivation zu stärken?

Sicherlich sind Ihnen beim Nachdenken darüber, welche Faktoren Ihre persönliche Situation mit konditionieren, Ideen oder Forderungen zur Verbesserung der äußeren Bedingungen in den Sinn gekommen. Diese sind wichtig, und Sie sollten mit anderen zusammen dafür kämpfen. Allerdings werden Sie das nur dann tun können, wenn Sie Ihre eigenen wissenschaftlichen Projekte und Aufgaben mit gutem Zeitmanagement bewältigen. Da es in deutschsprachigen Universitäten nur wenige akademische Administratoren gibt, die grundsätzlich keine Forschungs- und Lehrpflichten hätten, hängt die Möglichkeit, das System zu verbessern, davon ab, durch eigene Forschung und Lehre im System zu bleiben und sich auch fachlich Reputation zu erwerben.

Nur wenn Sie selbst unter den gegebenen Bedingungen einigermaßen erfolgreich sind, ohne dabei zu zynisch zu werden, also in einer psychisch gesunden und lebenswerten Weise fortkommen, können Sie längerfristig an deren Verbesserung mitarbeiten.

Darum setzt unser Buch bei Ihnen als Individuum an, um zunächst Ihre Selbstorganisation in der Wissenschaft zu optimieren. Dabei nehmen wir [19]Ihr ganzes Leben in den Blick, um nachhaltig lebbare Methoden, Gewohnheiten und Rhythmen zu entwickeln, die zu Ihrer persönlichen Situation passen. Sich auf Kosten anderer wichtiger Lebensbereiche und -ziele im Beruf zu Höchstleistungen zu motivieren, funktioniert nur punktuell und selten auf Dauer – in der Wissenschaft noch weniger als in der Industrie, wo monetäre und andere Anreize stärker und häufiger wirksam sind.

Das hat Konsequenzen im Großen, im Kleinen und speziell im Bereich der Forschung.

1. Im Blick auf Ihr ganzes Leben auch in seiner zeitlichen Erstreckung sind Sie selbst verantwortlich für Ihre Karriere- und Lebensplanung. Es ist bekanntlich längst nicht mehr so, dass spätestens nach einer guten Promotion eine Assistentenstelle zu erwarten ist, auf der man bis zu Habilitation und/oder Verbeamtung bleiben kann, während der Ordinarius die moralische Verpflichtung spürt, seine „Schüler“ irgendwo „unterzubringen“. Es ist natürlich auch nicht mehr so wie für Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts, dass zehn Jahre ohne Publikationen akzeptabel erschienen, während derer ein „Opus magnum“ wie die „Kritik der reinen Vernunft“ erarbeitet werden konnte. Sie müssen wissen, bis wann Sie welche Karriereschritte gehen und was Sie tun wollen, wenn sich die Laufbahn an einem bestimmten Punkt als eine Sackgasse erweist. Das heißt, Sie sollten sich frühzeitig über berufliche Alternativen und deren Vorbereitung Gedanken machen. Sie müssen sich bewusst sein, welchen Preis Sie für die prekäre Freiheit eines Lebens für die Wissenschaft zu bezahlen bereit sind. (Siehe zu diesen großen Fragen besonders das Kapitel II.3.)

Vor allem in der Promotionsphase verfolgen viele knapp Dreißigjährige die Strategie, erst einmal ihr Doktorat zu erwerben, und dann weiterzusehen, ob sich irgendwelche Türen öffnen. Das hat einen hohen Preis: Das Risiko, sich im vierten Lebensjahrzehnt oder zur Lebensmitte ganz neu orientieren zu müssen, während man auf dem Arbeitsmarkt schon als überqualifiziert, zu spezialisiert oder schlicht als zu alt gilt.

Solange Sie nicht hinreichend sicher sind, dass Ihre wissenschaftliche Karriere klappen wird: Entwickeln Sie mindestens einen alternativen Lebensentwurf, am besten auch im Gespräch mit einer Vertrauensperson oder einem Coach. Das ermöglicht Ihnen, frühzeitig Vorsorge zu treffen durch zusätzliche andere Qualifikationen und Netzwerke, und verhindert, dass Sie später das Gefühl bekommen, Ihr Leben in eine Sackgasse gefahren zu haben.

[20]2. Diese Lebens- und Karriereplanung gehört nicht nur zum Zeitmanagement im großen Horizont, sondern hat über die Motivation Einfluss auf die Zeitgestaltung und -nutzung auch im Kleinen und Alltäglichen.

In den Planungshorizonten von Monat, Woche und Tag dürfen Sie Ihre langfristigen Ziele und Alternativszenarien nicht aus dem Blick verlieren. Wer sich vom jeweils Andrängenden treiben läßt, agiert nicht mehr selbstbestimmt. Denken und planen Sie von oben nach unten: vom Wichtigen zum Dringlichen, von den Werten zu den Terminen, von den großen Projekten zu den kleinen Aufgaben. Schaffen Sie in Ihrem Zeitmanagement Raum und regelmäßige Zeitblöcke für das Reflektieren und Planen selbst sowie zuerst für die größeren und langfristigen Ziele. Ein gegebener Raum für Selbstbestimmung wird nur dadurch erweitert, dass er auch genutzt wird.

Soweit Sie selbst über Ihre Zeit verfügen können, passen Sie die Zeiteinteilung auch an Ihre individuellen Ziele und Werte, an Ihren persönlichen Verhaltensstil und an Ihre Lebenssituation an (siehe Kapitel II). Selbstverständlich ist dabei die spezifische Wissenschaftskultur in Ihrem Fach und an Ihrem Institut ebenfalls zu berücksichtigen.

 Wie hohe Umsetzungschancen traue ich meiner eigenen Planung und Selbstbestimmung zu? Bin ich vielleicht bereits in einer Opfer-Mentalität gefangen und lasse mich vom „Wissenschaftsbetrieb“ treiben?

 Kann ich die Frage beantworten, was ich tun würde, wenn der nächste Karriereschritt misslingen sollte? Und was tue ich heute schon für diese Eventualität?

 Setze ich meine großen Ziele auch in den kleineren Planungshorizonten um?

3. Die Planung von Forschungsarbeiten erfordert, Grundregeln des Projektmanagements zu kennen und anzuwenden. Vor allem bei Teamwork, aber auch in der Alleinverantwortung für ein Forschungsprojekt gilt es, von der Sache her, also objektiv sich ergebende Phasen in ihrer logischen Abfolge zu identifizieren und zu planen. Wo kein Forschungsexposé und Zeitplan vorzulegen waren, um etwa eine Förderung zu erhalten, sollten Sie sich das dennoch in Tabellenform erarbeiten (siehe Kapitel VI.1). Wenn Sie die einzelnen Phasen und Teilziele mit Zieldaten versehen und das in die chronologische Planung in Kalenderform integrieren, berücksichtigen Sie auch die Erfordernisse Ihrer subjektiven Lebenslage und „private“ Lebensziele wie außerwissenschaftliche Qualifikationen, Partnerschaft und Familie, andere Interessen und Tätigkeiten, welche für Sie Sinn stiften, Rekreation und Motivation bereitstellen. Wie das geht, erfahren Sie in diesem Buch vor allem ab Kapitel II.3.


[21]II. Spezifische Herausforderungen – Individuelle Bedingungen

Worum es geht:

Die spezifischen Herausforderungen in der Wissenschaft ergeben sich nicht nur aus institutionellen Rahmenbedingungen, sondern vor allem aus individuellen Faktoren. Auch diese müssen in Rechnung gestellt werden, damit einzelne Methoden der Selbstorganisation nachhaltige Verbesserungen bewirken können. Dazu gehören ein Bewusstsein der eigenen Werte und Klarheit über dadurch bestimmte Rollenbilder, Selbsterkenntnis in Bezug auf individuelle Verhaltenspräferenzen und die Berücksichtigung des ganzen Lebenshorizonts, innerhalb dessen alle großen Lebensziele zu integrieren sind.

„Wir haben nicht zu wenig Zeit, aber wir verschwenden zu viel davon. Auch zur Vollbringung der größten Dinge ist das Leben lang genug, wenn es nur gut angewendet wird.“

Seneca: Von der Kürze des Lebens 1


Orientierung durch Wertbewusstsein und Rollenklarheit

Worum es geht:

Werte steuern Lebensweisen und Entscheidungen und geben Orientierung für das Denken und Handeln des Menschen. Sie prägen die Identität und werden in Zielen operationalisiert. Persönliche Werte entstehen schon sehr früh durch das soziale Umfeld, meist Elternhaus und Schule, und entwickeln sich später weiter aus einer fortlaufenden Wahl und Gewichtung, geformt durch eigene Erfahrungen und Lebensumstände. Wie Sie die Welt und die Menschen sehen, Ihre Zeit gestalten, welchen Arbeitsplatz in welcher Organisation Sie wählen, wie Sie Entscheidungen treffen, wie Sie Ihren Neigungen nachgehen, Ihren Beruf ausüben, die Art und Weise, wie Sie mit Kollegen und Kolleginnen umgehen, sich in ein Team einfügen oder es führen, hängt sehr von den eigenen Werten ab.

 

Sie brauchen eine Vorstellung davon, was Ihnen wirklich wichtig ist, um mit sich, den getroffenen Entscheidungen und Ihrem Lebensstil im Reinen zu sein. Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Werte in der Arbeit zu leben, wird sie Ihnen Freude, Befriedigung und Erfolg bringen. Das Gleiche gilt für Ihr Privatleben.

Unsere Gesellschaft wandelt sich rasch, und entsprechend ist viel von einem generellen Wertewandel zu hören, mit der allgemeinen Tendenz von Pflichtwerten hin

[22]zu Selbstentfaltungswerten und von materiellen zu postmateriellen Werten. Umso wichtiger ist es, einen persönlichen Wertekatalog zu erstellen. Klaffen die eigenen Werte und die der Organisation auseinander, so führt dies zu einer inneren Anspannung, die ein zielgerichtetes Arbeiten nur mehr schwer zulässt. Darum implementieren Unternehmen Instrumente des „Wertemanagements“.

Mithilfe dieses Kapitels können Sie sich bewusster werden, welche Werte für Sie unverzichtbar sind, und welche anderen, vielleicht auch abhängig von der jeweiligen Lebensrolle oder bestehenden äußeren (wirtschaftlichen) Zwängen, nicht immer oder weniger intensiv gelebt werden können. So werden Sie flexibler und zugleich stärker in Ihrem Agieren.

Motive – Zufall oder Selbstverwirklichung?

Werte motivieren Menschen. Welche Motive sind es, die wissenschaftlich Tätige leiten, Phasen der Frustration aushalten und durchstehen lassen und oft sogar in die Selbstausbeutung treiben? Welche Werte bringen Sie z.B. dazu, mehr Zeit als unbedingt notwendig in Projekt X zu investieren, sich für Kollegin Y einzusetzen, eine Funktion in einem nicht prestigeträchtigen Gremium zu übernehmen oder die Ziele anderer vor die eigenen zu stellen?

An intrinsischer Motivation mangelt es Menschen, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn entscheiden, nicht. Wissenschaft ist kein Beruf, sondern Berufung: „Es ist mein Beruf, es ist mein Leben, es ist meine Liebe.“5 Wissenschaft ist, so will es nicht nur der Mythos, sondern zeigt auch immer wieder die Realität, kein „nine to five“-Job. Arbeit und Freizeit fließen ineinander über. Die eigentliche Forschungstätigkeit findet sehr oft erst in den Abendstunden oder am Wochenende statt. So klagen Teilnehmende unserer Seminare immer wieder, dass es ein Spezifikum im deutschsprachigen Raum sei, dass Forschung zur Privatsache deklariert wird und gleichzeitig den Kern der universitären Tätigkeit darstellt.

Wer weiterkommen will, muss publizieren. In der Praxis beherrschen aber oft administrative Tätigkeiten oder zeitaufwendige Funktionen in Studien- oder Austauschprogrammen den wissenschaftlichen Alltag. Je tiefer in der Hierarchie man angesiedelt ist, umso geringer ist die Chance, sich hier auszuklinken. Wissenschaftliches Tätigsein erfordert also auf lange Sicht gesehen ein sehr hohes Maß an Selbstmotivation und Frustrationstoleranz.

[23]Der Eintritt in die Wissenschaft ist häufig durch Zufall bestimmt. Er geschieht z.B. im Rahmen eines Tutoriums oder einer Projektmitarbeit und resultiert später oft in einem „Wursteln“ von Projekt zu Projekt. „Einmal auf den Zug universitärer Gelehrsamkeit aufgesprungen, ,ergibt‘ sich alles andere von selbst“, wie das häufig ausgedrückt wird. „Es hat sich einfach ergeben. Die Laufbahn war da. Ich habe sie nur mehr beschreiten müssen. Das ging wirklich … relativ von selbst durch diesen Anstoß am Anfang … und so lief das eben weiter. Mehr oder minder wie auf Schienen, muss ich sagen.“6

Doch die „Laufbahn auf Schienen“ hat sich seit dem österreichischen Universitätsorganisationsgesetz von 2002 und vergleichbaren Reformen in anderen Ländern ziemlich aufgehört. Die Frage der Anstellung wird immer mehr zu einem Lotteriespiel. Das „drittmittelfinanzierte“ Leben ist einerseits für die meisten auf Dauer, mit zunehmendem Lebensalter oder wachsenden familiären Verpflichtungen nicht wirklich erstrebenswert. Andererseits hat man jedenfalls nach einer Promotion schon einen guten Teil seines Lebens in die Wissenschaft investiert. Da der Umstieg in die Privatwirtschaft oder Selbständigkeit für über Vierzigjährige oft nur schwer möglich ist, müssen berufliche Motive und Ziele immer wieder reflektiert und Entscheidungen getroffen werden.

 Welchen Stellenwert hat der wissenschaftliche Beruf für mich?

 Inwieweit ist er eine Berufung, inwieweit ein Job?

 Beinhaltet die wissenschaftliche Existenz für mich das Ziel, ein Gebildeter oder eine Intellektuelle zu sein – über die Fachexpertise hinaus?

 Wie viel Zeit bin ich bereit, in meine Berufsrollen zu investieren?

 Wie soll daneben mein Familien- und Privatleben aussehen? Wie will ich es gestalten?

 Wie gut kann ich mit Ungewissheit leben?

 Wie gehe ich mit Frustrationen um?

 Wie gut kann ich mich selbst motivieren?

Klarheit über die motivierenden Werte hilft, eine negative Motivationsdialektik zu vermeiden, von Hoffnung über Verzweiflung zum Trotz.

Dient Wissenschaft der Selbstverwirklichung oder dem Wunsch, einen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten, oder der Wissbegierde und dem Forschungsdrang? Trifft eine dieser Wertkonstellationen zu, so unsere[24] Erfahrung, lässt sich vieles an Frustration, zeitlichem Mehraufwand und Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Überwiegt hingegen das Zufallsprinzip oder fehlen berufliche Alternativen, so wird sich der Weg in der Wissenschaft, so wie er sich heute abzeichnet, nur mit sehr viel Selbstdisziplin gehen lassen.

Lehre, Forschung und Administration –Die Kunst, allen Berufsrollen gerecht zu werden

Wie viele Rollen von Ihnen gelebt werden, hängt von Ihrer momentanen beruflichen und privaten Lebenssituation ab. Wie Sie diese ausfüllen möchten, hängt von Ihnen selbst, also Ihren Zielen, Prioritäten, Erwartungen und Werten ab. Vor allem Ihre Werte bestimmen, wie viel Zeit Sie – jenseits des Minimums – in verschiedene Aufgaben investieren.

Per definitionem beschreibt und erklärt die Rollentheorie einerseits die Rollenerwartungen und -festlegungen und andererseits, welche Spiel- und Handlungsfreiräume dem Individuum in einer Rolle offenstehen. Sie beschäftigt sich damit, wie gesellschaftlich vorgegebene Rollen erlernt, verinnerlicht, ausgefüllt und modifiziert werden.

Das eigene Rollenbild zu entwerfen, es immer wieder weiter zu entwickeln und zu pflegen, ist eines der Geheimnisse erfolgreicher Lebensentwürfe. Machen Sie es sich zur Gewohnheit, Ihre Rollen regelmäßig einer Inspektion zu unterwerfen, um herauszufinden, ob Sie sich noch auf dem richtigen Weg befinden und über genügend Ressourcen für die Erledigung aller Aufgaben verfügen. Aber auch Lebensvision und -ziele sollten immer wieder überprüft und gegebenenfalls adaptiert werden.

 Ist in meinem persönlichen Rollenbild die Lehre prioritär oder verstehe ich mich selbst eher als forschungsorientiert?

 Sehe ich meine Rolle primär im Umfeld meiner Universität oder will ich eine internationale Wirkung entfalten?

 Wie sieht meine ideale Balance zwischen berufsrelevanten und privaten Rollen aus?

Wann immer Sie eine neue Position antreten, stellen Sie sich selbstkritisch und ganz unbeschönigt die Frage, welche Aufgaben damit verbunden sind, ob diese in Ihren Lebensentwurf passen und wie Sie sie ausfüllen möchten. Insbesondere wenn Sie Führungsverantwortung übernehmen, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass Sie damit ein gänzlich neues [25]und anderes Aufgabengebiet übernehmen, oft fern der bisherigen Expertentätigkeit. Hier gilt es vor allem ein Team zusammenzuhalten, Konflikte zu schlichten, Gelder aufzutreiben und sich und die Organisation zu vermarkten.

Ob Sie sich hier eher als ein Handlungssubjekt mit der notwendigen Leichtigkeit und Gestaltungsmöglichkeit sehen oder als eine Person, der das Leben immer wieder Rollen oktroyiert, entscheidet in hohem Ausmaß darüber, wie selbstbestimmt und autonom Sie sich erleben. Wer versucht, allen (vermuteten) Rollenerwartungen der anderen zu entsprechen, kann sehr rasch in einen Teufelskreislauf geraten nach dem Motto „Allen Recht getan ist eine Kunst, die niemand kann“. Vorbilder helfen hier auch nicht immer weiter. Zu sehr hat sich das Berufsleben in den letzten Jahren verändert mit seiner Forderung nach steter zeitlicher Flexibilität, örtlicher Mobilität, Geschwindigkeit im Tun und Erreichbarkeit rund um die Uhr. Es bedarf hier einer konsequenten Festlegung und Absteckung des eigenen Weges, um nicht zum Handlanger anderer Interessen zu werden. Denn ob man sich als Gestalter bzw. Gestalterin oder als Opfer seiner Rollen erlebt, bedeutet einen großen Unterschied für die Lebenszufriedenheit. Das Gefühl, das eigene Leben selbst in der Hand zu haben, ist die beste und einfachste Prophylaxe gegen Burnout.

Mögliche Rollen: 7

 Forschung

 Lehre

 Autor/Autorin bzw. Herausgeber/Herausgeberin

 Organisation von Kongressen und Tagungen

 Vortragende/-r

 Mentoring

 Gutachten

 Gremientätigkeit

 Führungskraft

 Kollege/Kollegin

 „Lokalmatador“ oder „global player“?

 Private Rollen: Sohn/Tochter, Freund/in, Vater/Mutter etc.

Die meisten Rollen lassen sich noch in Unterrollen aufteilen, die wiederum die unterschiedlichsten und oft völlig gegensätzlichen Anforderungen an Sie stellen. Extrovertiert und Menschen zugewandt in der Lehre, akribisch [26]genau und auch des Alleinseins fähig in der Forschung, rhetorisch brillant und sprachkundig bei Vorträgen, einfühlsam und zielgerichtet zugleich bei Besprechungen und beim Netzwerken, effizient in der Administration... All diese Qualitäten in sich zu vereinen, erinnert an die Forderung nach einem wissenschaftlichen „Wunderwuzzi“, der Sie kaum gerecht werden können. Sie müssen also Prioritäten setzen, die Weiterentwicklung mancher Fähigkeiten in langfristigen Plänen auf später verschieben und Kompromisse schließen. Halten Sie sich an Ihre ganz persönlichen Rollendefinitionen8 und konzentrieren sich auf die Stärken in den einzelnen Rollen, denn nur so können Sie Exzellenz entwickeln.

 Welche und wie viele Lebens- und Berufsrollen kann und möchte ich derzeit wahrnehmen?

 Wie möchte ich die einzelnen Rollen leben?

 Wie werde ich den unterschiedlichen Anforderungen, die die einzelnen Rollen an mich stellen, gerecht? Wo sehe ich meine Stärken, aber auch Schwächen?

 Was, glaube ich, erwarten andere (Organisation, Vorgesetzte, Kollegen/ Kolleginnen, Gesellschaft, Familie, Freunde) von mir in diesen Rollen?

 Werde ich diesen Erwartungen gerecht bzw. möchte ich das überhaupt?

 Wie werde ich mit der Diskrepanz zwischen Erwartungen anderer und meinen eigenen Erwartungen an die unterschiedlichen Rollen umgehen?

Werden Sie sich über Ihre Rollen und Aufgaben klar und wie Sie diese erfüllen möchten, insbesondere wenn Sie sich beruflich (neu) orientieren. Je eher Sie dies tun, umso besser können nicht nur Sie selbst, sondern auch Ihre Umgebung sich darauf einstellen.

Halten Sie sich dabei nicht zu sehr an die Vorstellungen der anderen oder an erlebte Vorbilder, sondern schaffen Sie eine für Sie maßgeschneiderte Lösung.

Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit zur Standortbestimmung, priorisieren Sie Ihre Rollen, reflektieren Sie die Ziele, die Sie sich darin stecken. Haben Sie den Mut, Rollen und Aufgaben aufzugeben. Halten Sie sich dabei an das Prinzip: Wann immer ein Bereich dazukommt, wird etwas anderes abgegeben oder reduziert.

Oft liegt die Herausforderung gar nicht in der Vielzahl an Rollen und der Zeit, die sie kosten, sondern in der Energie, die hier investiert wird. Überprüfen[27] Sie also regelmäßig, ob es auch die für Sie selbst wirklich wichtigen Rollen sind, für die Sie die meiste Energie aufbringen.

Das Leben ist natürlich häufig ein Kompromiss. Gegen den Strom zu schwimmen, kostet oft unnötig Kraft. Überlegen Sie daher, wo Sie Kompromisse machen können und wollen. Bedenken Sie aber auch, dass ein Leben gegen die eigenen Werte und Vorstellungen auf Dauer zu Unzufriedenheit oder sogar Burnout führen kann.

 

Wertediskrepanzen

Wann immer Sie berufliche Entscheidungen zu treffen haben, sollten Sie die Werte, die in der betreffenden Organisation gelebt werden, überprüfen und mit Ihren eigenen vergleichen.9 Überlegen Sie, in welcher Unternehmenskultur Sie sich wohlfühlen und Ihr Bestes bringen können. Entscheidende Faktoren können etwa die Größe einer Organisation, die Anzahl der Subeinheiten, die Frage der Internationalität, herrschende Strukturen, Verwaltungsabläufe, Hierarchien sowie der Umgang miteinander sein.

Sehr oft werden wissenschaftliche Institutionen im Vorfeld glorifiziert. Da die Beschäftigung mit Wissenschaft einer „besseren Sache“ dient, müssen zwangsläufig auch die Akteure „bessere Menschen“ sein, so die Vermutung des wissenschaftlichen Nachwuchses.10 Umso größer ist natürlich später die Enttäuschung, wenn die beim Bewerbungsgespräch besprochenen, oft sogar in Leitbildern niedergeschriebenen Werte im Alltag nicht gelebt werden. Solche Erfahrungen können sein, dass statt eines Miteinanders Konkurrenzdenken vorherrscht und Entscheidungen nicht auf sachlichen, sondern rein emotionalen oder taktischen Überlegungen beruhen. Es kann aber auch sein, dass sich der Job immer mehr zu einer administrativen Tätigkeit entwickelt, die mit unvorhergesehenen Repressalien eingefordert wird, und dass Habilitierte sich um ihre Zukunft und [28]somit ihren Lebensentwurf betrogen sehen, da mündliche Zusagen von heute auf morgen ihre Gültigkeit verlieren.

Organisationswandel bedeutet sehr oft auch Wertewandel. So berichten unsere Seminarteilnehmer und -teilnehmerinnen immer wieder, dass viele der Qualitäten, deretwegen sie sich für den Arbeitgeber Universität entschieden hätten, verloren gegangen seien. Dies führt zu einer wachsenden Unzufriedenheit, die sich wiederum immer stärker auf die Leistung und das eigene Arbeitsverhalten auswirkt. Es fehlt etwa Zeit für gute Gespräche sowohl fachlicher Natur als auch für Zwischenmenschliches. Unsichere Karriere- und Vertragsverhältnisse sowie zunehmender Druck unterbinden das gemeinsame Denken und Tun, weshalb Wissen und Ideen oft nicht mehr ausgetauscht, sondern im Geheimen entwickelt werden.

Freiheit in der Zeit- und Arbeitseinteilung, selbständiges Arbeiten, Selbstbestimmung sind unserer Erfahrung nach sehr oft Motive, sich für die Wissenschaft und den Arbeitsort Universität zu entscheiden. Wie im Kapitel I. erläutert, erfordert diese Freiheit aber auch ein hohes Maß an Selbstdisziplin und eine Selbstverpflichtung zu den gesteckten Zielen. Was man vermeiden wollte, nämlich die Bestimmung durch andere, bedeutet nun, sich selbst disziplinieren zu müssen. Das heißt, konsequent zu planen, Tagesstrukturen einzuhalten, den wichtigen Arbeiten Priorität einzuräumen und sich nicht in den vielen nebensächlichen Tätigkeiten zu verlieren. Denn oft ist niemand da, der Abgabetermine einfordert, Arbeitsfortschritte wahrnimmt, Probleme bespricht oder ganz einfach im Arbeitsalltag unterstützt. Es fehlt das Feedback, das gerade für junge Menschen so wichtig wäre, um zu wissen, ob man fachlich und auch persönlich auf dem richtigen Weg ist.

Diese Realität führt sehr oft zu einem Verschieben von Fristen und Terminen, zu Selbstzweifeln über den eingeschlagenen Weg und einzelne Tätigkeiten, schließlich zu wachsender Unzufriedenheit mit sich selbst. Die Freiheit im rechten Maß nützen zu können, ist eine Kunst, die es oft erst zu erlernen gilt.

Vergleichen Sie bei beruflichen Entscheidungen Ihre Werte und jene der Organisation. Rechnen Sie aber auch damit, dass es hier zu Änderungen kommen kann. Versuchen Sie gegebenenfalls, mit den veränderten Bedingungen produktiv umzugehen anstatt gegen nicht Veränderbares ständig anzukämpfen.

Jede Sache hat – mindestens – zwei Seiten. Wenn Sie vermehrt mit administrativen Belangen betraut werden, so kostet dies Zeit, aber Sie lernen auch eine Menge dazu (z.B. Projekt- und Personalorganisation, Rechnungswesen[29] etc.), was Ihnen später in einer Leitungsfunktion zugute kommen kann.

Sehen Sie Ihre Situation fallweise mit distanziertem Blick, so als ob jemand anderer betroffen wäre.

Lernen Sie, mit Konkurrenzsituationen umzugehen, Angriffe nicht zu ernst und auch nicht (zu) persönlich zu nehmen. Distanz erweitert Ihr persönliches Handlungsrepertoire und damit Ihre Souveränität.

Bedenken Sie, dass Freiheit und Selbstbestimmung einen Preis haben. Ohne eine gute Planung, materielle Bescheidenheit und Selbstdisziplin werden Sie Ihre Ziele nur schwer erreichen.

Werteprofil

Werte sind lebensbegleitend und identitätsstiftend. Trotzdem können sich Ihre Werte im Lebensablauf und von Rolle zu Rolle verschieben. Was privat an erster Stelle steht, ist möglicherweise beruflich weniger wichtig oder kann hier vielleicht im Moment nicht gelebt werden. Auch innerhalb der beruflichen Rollen wird es immer wieder zu Verschiebungen kommen, meist ausgelöst durch persönliche Erfahrungen oder existenzielle Notwendigkeiten. Wenn Sie eine Familie erhalten müssen, werden Sie sich vermutlich weniger für rein ideelle Tätigkeiten und eher für lukrative Aufgaben (bezahlte Gutachten, Projekte mit der Wirtschaft u.Ä.) entscheiden.

Wenn Sie sich hier immer wieder Klarheit über das Verhältnis zwischen Ihren Wünschen und der momentanen Lebens- bzw. Berufsrealität verschaffen, wird das Ihrem Wohlbefinden und Energiehaushalt, Ihrer Zielgerichtetheit und Leistungsfähigkeit gut tun.

Eine Priorisierung Ihrer Werte als Mensch, bei der Arbeit und in unterschiedlichen Rollen verhilft Ihnen zu mehr Klarheit bei Entscheidungen und im Umgang mit Zeit: Vielleicht ist es Ihnen wichtig, bei der Benotung von Prüfungsarbeiten besondere Fairness walten zu lassen. Das bedeutet eine zeitliche Investition in die Erarbeitung von Bewertungskriterien, die klar nachvollziehbar sind. Wenn Ihnen viel an einem guten Klima im Team liegt, dann werden Sie wahrscheinlich Zeit für konstruktive Gespräche reservieren. Vielleicht können Sie Ihre Arbeit erst dann zur Seite legen und mit einem guten Gefühl nach Hause gehen, wenn Sie Ordnung und Struktur in Ihren Unterlagen oder auf Ihrem Schreibtisch geschaffen haben. Dann sollten Sie dies für Ihre eigene Zufriedenheit tun, ohne aber auf allen Gebieten möglichen perfektionistischen Ansprüchen nachzugeben.

Sie brauchen ein persönliches Qualitätsmanagement, sodass Ihre Arbeitsweise möglichst gut Ihrem Werteprofil entspricht. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass manche Werte polar zueinander und damit nicht gleichzeitig verwirklichbar sind. Sie kontrastieren, ohne einen ausschließenden Gegensatz zu bilden, der eine Entweder-oder-Entscheidung erforderte. Genauigkeit und Schnelligkeit des Arbeitens etwa sind beides positive Werte (gegensätzliche Unwerte wären Schlamperei und Trödelei), oder Sie müssen bei einer gegebenen Aufgabe entscheiden, auf wie viel Geschwindigkeit Sie verzichten, um hinreichend genau zu arbeiten und wie Sie Ihren Perfektionismus zähmen, um schnell genug zu sein.

In Bezug auf Benotungen wären Gerechtigkeit und Nachsicht (oder Rücksicht z.B. auf sprachliche Schwierigkeiten bei ausländischen Studierenden) ein ähnliches polares Wertepaar. Zwischen einer Haltung, die mit der Maxime „fiat iustitia, pereat mundus“ charakterisiert wird, und dem Unwert der Ungerechtigkeit gibt es ein Spannungsfeld zwischen wertvoller Gerechtigkeit und ebenso wertvoller Milde oder Billigkeit. In Anbetracht einer Herausforderung oder Gefahr geht es beispielsweise nicht nur um den Gegensatz von Mut und Feigheit, sondern auch um die Kontraste von Mut und Vorsicht zwischen den Untugenden und Unwerten des Übermuts und der Feigheit.11

[30]

Wenn wir kritisiert werden, neigen wir oft dazu, unser Verhalten vom entgegengesetzten Unwert abzuheben („Ich kann doch nicht ewig dieses Kapitel verbessern“ oder „Ich kann doch keinen schlampigen Beitrag einreichen“). Doch die Kunst besteht darin, die rechte Mitte zu verwirklichen, die sowohl sachangemessen wie auch mit den eigenen Werten kompatibel ist.

Es gibt Werte, die Sie um Ihrer selbst willen auf jeden Fall einlösen müssen, und solche, auf die Sie fallweise verzichten können. Werden Sie sich [31]der Beweggründe und Motive Ihres Handelns bewusst und erstellen Sie einen nach Rollen gegliederten Wertekatalog. Bewusstheit schafft Handlungskompetenz und befreit Sie aus einer Opferrolle.