Kooperatives Lernen im Englischunterricht

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2.2.3 Begriffskritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik

Sichtet man die Forschungsliteratur zu KL der letzten Jahre, so findet sich eine deutlich variantenreichere Begriffsverwendung als mit den beiden bisher genannten Definitionen abgedeckt wäre. Abgesehen von Veröffentlichungen, die den Begriff des KL voraussetzen und nicht weiter klären (z. B. Finkbeiner 2000; Law 2011) lassen sich folgende Verwendungen rekonstruieren:

1 Eher weite Definitionen verwenden ein oder zwei der oben genannten Basiselemente und verstehen KL ansonsten als eine recht freie Form eigenverantwortlicher, selbstregulierter, aktiver und offener Gruppenarbeit (Haitink/Haenen 2002; Huber 2001; Jacobs/Farrell 2001; Rankes 1999), in der sogar Ziele und Wege zwischen den Gruppenmitgliedern ausgehandelt werden und gemeinsame Wissenskonstruktion stattfinden soll (Chinnery 2008; Overmann 2002). Kooperation und Kollaboration werden dabei begrifflich nicht unterschieden (Imai 2010).

2 In anderen Studien findet sich ein deutlich engerer Begriff, der nahezu alle Basiselemente sowie die methodische Vorstrukturierung der Interaktion als notwendige definitorische Merkmale von KL umfasst (Ghaith 2002; Sharan 2010). In einer Publikation dieser Gruppe wird die stärker auf Arbeitsteilung angelegte Interaktionsform der Kooperation von der stärker auf eine gemeinsame und koordinierte Definition von Problem und Lösungsweg angelegte Interaktionsform der Kollaboration unterschieden (Dillenbourg et al. 1996).

3 Weitere Studien verwenden einerseits eine enge Definition von KL über die Basiselemente und das Moment der starken Strukturierung, nehmen andererseits innerhalb dieser vorstrukturierten Arrangements aber sehr wohl die Ko-Konstruktion von Wissen an (Dörnyei 1997).

4 In aktuellen unterrichtspraktischen Aufsätzen ist die Orientierung am Grundprinzip des Think-Pair-Share vorherrschend. Es wird entweder explizit genannt (Agethen 2012; Kraus 2012; Küppers 2012) oder implizit deutlich (Blume 2012; Schlinghoff 2012). Im Gegensatz dazu stehen Veröffentlichungen, die bewusst Bezüge zwischen KL und anderen Ansätzen wie Storyline oder Simulation herstellen (Bonnet 2009; Breidbach 2009; Fischer 2009; Stoffregen 2009).

Angesichts dieser Vielfalt von Definitionen erscheint eine zuspitzende Begriffsbestimmung sinnvoll. Dazu liegt ein Vorschlag von Rebecca Oxford (1997) vor. Zur Systematisierung der zahllosen, im Zuge der kommunikativen Wende des Fremdsprachenunterrichts in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Ansätze zur Inszenierung zielsprachlicher Interaktion im Fremdsprachenunterricht greift sie die Unterscheidung von Dillenbourg et al. (1996) auf und schlägt vor, drei Bereiche zu unterscheiden: „Cooperative learning, collaborative learning, and interaction are three ‚communicative strands‘ in the foreign or second language (L2) classroom“ (Oxford 1997, 443).

KL wird von Oxford – mit unwesentlich anderer Schwerpunktsetzung – analog zu den bis hierher referierten Ansätzen über die Basiselemente definiert, v. a. positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit. Die Autorin beschreibt übereinstimmende Befunde zu dessen Wirkungen und benennt Vorgehensweisen bei der Planung kooperativen Unterrichts; ferner unterscheidet sie vier Inszenierungstypen (Teambuilding-Methoden, Arbeitsteilungs-Methoden, Kommunikations-Methoden, Expertisebildungs- und Wiederholungs-Methoden). Aus ihrer Aufzählung wird deutlich, dass damit ausschließlich jene Methoden gemeint sind, die auf das Think-Pair-Share-Prinzip zurückgehen. Als zentrales Charakteristikum arbeitet sie heraus, dass KL ganz bestimmte Ziele – insbesondere im Bereich des sozialen Lernens – verfolgt, deren Erreichen durch eine hohe Vorstrukturierung der Interaktionsformen, die die Lernenden in engen Bahnen leiten, sichergestellt werden solle.

Im Gegensatz dazu stehe kollaboratives Lernen, das sich gerade nicht in den engen Bahnen vorgegebener Methoden, sondern vielmehr in der freien, sogar über klar definierte Projekte im engeren Sinne hinausgehenden Arbeit an „broad content-rich ideas“ (ebd., 447) vollziehe. Als zentrale theoretische Bezugspunkte benennt Oxford Deweys Pragmatismus und Vygotskys Sozialkonstruktivismus. Daraus ergäben sich Ziel und Weg dieses Ansatzes. Das Ziel sei nicht die Erreichung klar vorgegebener sozialer oder inhaltlicher Teilfertigkeiten, sondern vielmehr die bewusste, weil reflektierte Akkulturation der Lernenden in eine Lernergemeinschaft. Die dabei zu entwickelnden Fähigkeiten würden dadurch erworben, dass die Lernenden unterstützt durch Lehrende und peers in ihrer Zone der proximalen Entwicklung arbeiteten. Diese Zone könne durch entsprechende Unterstützungsmaßnahmen (scaffolding) ausgeweitet und damit deren Lerneffekte erhöht werden. Als wesentliches Charakteristikum dieses Ansatzes wird herausgearbeitet, dass die Lernenden und Lehrenden eine Gemeinschaft bilden, die durch in gemeinsamer Praxis ausgehandelte soziale und kulturelle Übereinkünfte definiert wird. Hier drängt sich die Idee der Praxisgemeinschaft (Wenger 1998) als Analogie auf, in der Lernen in gemeinsamer Arbeit an großen Themen stattfindet.

Als dritte Inszenierungsform nennt Oxford Interaktion, unter die sie eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, wie z. B. Spiele, Rollenspiele, Simulationen oder dramapädagogische Formate subsumiert. Ein gemeinsames Charakteristikum ergibt sich in ihrer Darstellung für diese Gruppe von Ansätzen nicht, sondern sie würden dadurch verbunden, dass sie Aufgabenformate verwenden, die Interaktionsbereitschaft und zielsprachliche Kommunikation förderten, Raum für unterschiedliche Lernerstile und -strategien ließen und Gruppendynamik berücksichtigten. Dementsprechend werden in der Gegenüberstellung sowohl der Grad der Vorstrukturierung als auch der Grad der Offenheit der Aufgaben als variabel bezeichnet.

Diese dreiteilige Klassifikation macht einerseits auf wichtige kritische Aspekte aufmerksam (vgl. Kap. 2.2.3). Sie trägt aber nur bedingt zu einer Präzisierung des Begriffs bei. So bringt Oxford das KL sehr gut auf den Punkt. Ihre Ausführungen zu kollaborativem Lernen bleiben aber auf der Ebene übergeordneter Ziele (Akkulturation) und Konzepte (scaffolding), so dass es auf der Basis ihrer Überlegungen schwierig ist, kollaboratives Lernen im Unterricht als solches zu erkennen. So wird sie an keiner Stelle konkreter als die genannten „broad content-rich ideas“, so dass unklar bleibt, ob auch Projektarbeit oder task-cycles im Sinne der Aufgabenorientierung (vgl. z. B. Nunan 2005) als kollaboratives Lernen gelten können oder dafür noch zu kleinschrittig sind. Dies gilt noch mehr für den von ihr Interaktion genannten Bereich, der eigentlich eine Restkategorie für nicht in die beiden vorgenannten Gruppen passende Ansätze ist. Auch die Überlegungen von Oxford verweisen somit auf die Notwendigkeit einer begrifflichen Präzisierung, ihre Dreiteilung wirft neue Probleme auf und ist nicht trennscharf. Das terminologische Problem erweist sich damit als ein konzeptuelles Problem. Um den Begriff des KL abschließend klären zu können, müssen daher zunächst seine theoretischen Rahmungen betrachtet werden.

2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen

Die Forschung zu KL ist stark mit den Namen der amerikanischen Psychologen David und Roger Johnson verbunden. Ihr Buch Learning together and alone (1994) und dessen Folgepublikationen (s. u.) haben in umfassender Weise die bis zu seinem Erscheinen verfügbaren empirischen Ergebnisse zusammengefasst und daraus Konzepte für kooperative Formen des Lehrens und Lernens abgeleitet. Sie haben auch den Versuch unternommen, einen theoretischen Rahmen zu formulieren, innerhalb dessen KL beforscht werden kann. Ihre Befunde werden immer wieder als grundlegend und die positiven Wirkungen von KL stützend referiert. Daher bilden ihre Überlegungen den Ausgangspunkt der theoretischen Diskussion.

2.3.1 Gruppendynamik und Motivation

Johnson und Johnson (2015, 2003, 1994) gehen von der Prämisse aus, dass Menschen als soziale Wesen am meisten erreichen, wenn sie Aufgaben gemeinsam bearbeiten. Sowohl ihr Maßstab für Erreichtes als auch ihr Konzept des Bearbeitens von Aufgaben sind weit gefasst. Als Aufgaben – sie verwenden interessanterweise zumeist das Wort effort, das semantisch unmittelbar mit Anstrengung verbunden ist – verstehen sie unterschiedliche Dinge, denen Menschen sich stellen können: einen Berg besteigen, ein Buch schreiben, in der Schule Kompetenzen erwerben. Und Erfolg wird nicht einseitig wirtschaftlich oder in Bezug auf Lernen verstanden, sondern mindestens genauso wichtig nehmen sie emotionale und soziale Wirkungen. Sie gehen davon aus, dass Menschen nicht nur nach Geld oder Wissen streben, sondern auch sich selbst kennenlernen und in für sie gut balancierten sozialen Beziehungen leben wollen.

Dementsprechend enthält ihr theoretischer Rahmen mehrere Elemente. Das erste Element hat mit Schule nur am Rande zu tun. Aus der Forschung zu Gruppendynamik in der allgemeinen Psychologie verwenden sie das Konzept der sozialen Interdependenz1. Sie unterscheiden damit drei Formen, in denen sich soziales Miteinander vollziehen kann und nehmen an, dass diese Formen auch zu unterschiedlichen Wirkungen führen. Positive Interdependenz führe zu produktiver Kooperation. Negative Interdependenz führe zu gegenseitig blockierendem Wettbewerb. Individualisierung erzeuge keine Interdependenz und führe damit auch zu keinem Austausch:

The social interdependence perspective assumes that the way social interdependence is structured determines how individuals interact which, in turn, determines outcomes. Positive interdependence (cooperation) results in promotive interaction as individuals encourage and facilitate each other’s efforts to learn. Negative interdependence (competition) typically results in oppositional interaction as individuals discourage and obstruct each other’s efforts to achieve. In the absence of interdependence (individualistic efforts) there is no interaction as individuals work independently without any interchange with each other (Johnson/Johnson 1994, 39).

 

Diese Perspektive verbinden sie mit zwei theoretischen Ansätzen, die sich fragen, warum und wie Menschen lernen. Mit Jean Piaget nehmen sie an, dass Interaktion für individuelles Lernen unverzichtbar ist. Menschen erkennen in Gesprächen, wo ihre Meinungen, Bewertungen oder Vorstellungen auf unzutreffenden Annahmen beruhen (kognitiver Konflikt) und erhalten so Gelegenheit, ihre Annahmen zu verändern (Akkommodation): Lernen findet statt. In ähnlicher Weise verstehen sie auch Lev Vygotskys sozialkonstruktivistische Ideen, ohne jedoch die Unterschiede zwischen den beiden herauszuarbeiten.

Alle bisher benannten Theorien gehen davon aus, dass Menschen einen inneren Antrieb zur Kooperation haben. Sie möchten z. B. Widersprüche in ihrer Weltsicht auflösen und begeben sich daher in den Austausch mit anderen. Johnson und Johnson benennen aber noch eine zweite Sichtweise. Mit Bezug auf unterschiedliche Lern- und Motivationstheorien, verbunden mit Namen wie Skinner, Bandura oder Slavin, verweisen sie darauf, dass Menschen eben nicht nur aus sich heraus handeln. Anstrengungen würden nur dann in Kauf genommen, wenn das Ziel lohne, und externe Anreize könnten die Anstrengungsbereitschaft durchaus fördern. Obwohl die Konflikte zwischen diesen unterschiedlichen Theorierahmen noch lange nicht ausgeräumt seien, hätten die verschiedenen Ansätze eine Vielzahl von Untersuchungen hervorgebracht, die Erkenntnisse zum KL beigesteuert hätten.

2.3.2 Theoriekritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik

Nicht nur aus der Fremdsprachenforschung wird dieser theoretische Rahmen durchaus kritisch betrachtet. Die bereits referierten (vgl. Kap. 2.2.2) Überlegungen von Oxford (1997) lenken den Blick darauf, dass der theoretische Rahmen des KL, so wie Johnson/Johnson ihn konstruieren, keinesfalls unproblematisch ist. Sie argumentiert sehr überzeugend, dass der für KL häufig herangezogene Sozialkonstruktivismus höchstens teilweise zu den rigiden Strukturvorgaben des KL passt. Diese Vorgaben kann man sicherlich als scaffolding betrachten. Allerdings verträgt sich die Vorstrukturierung des KL wenig mit der dem Sozialkonstruktivisums zu Grunde liegenden Idee der kulturellen und sozialen Situierung von Lernprozessen in Lerngemeinschaften, für die umfassende Aushandlungsprozesse grundlegend sind. Man kann Oxfords abweichende Klassifizierung somit auch als Anfrage lesen, ob KL in der Variante hoher methodischer Vorstrukturierung blind für institutionelle und organisationale Effekte sei. Dies wird in der Folge (s. u.) nochmals aus schulpädagogischer Perspektive zum Thema werden.

Neben dieser etwas vorschnellen Vereinnahmung des Sozialkonstruktivismus wird an anderer Stelle (Würffel 2007) darauf hingewiesen, dass auch die Verwendung des Konzepts der positiven Interdependenz bei verschiedenen Autor*innen nicht unproblematisch ist. Unter Bezugnahme auf Huber (1999) führt Würffel aus, dass insbesondere bei Johnson/Johnson die Tendenz herrsche, „mit bestimmten Begriffen immer freier umzugehen und ihre Herkunft nicht konsequent über Quellenangaben zu verdeutlichen“ (Würffel 2007, 9). Das von ihr als umfassende Alternative vorgeschlagene Modell kooperativer Aufgabenbearbeitung, das der Komplexität des Gegenstands Rechnung tragen soll (Würffel 2007, 12ff.), ist eine sehr interessante Alternative, bedarf aber in seiner enormen Breite noch begrifflicher Präzisierung und empirischer Fundierung.

Zwei darin vorgeschlagene begriffliche Klärungen können allerdings unmittelbar aufgenommen werden. Zum einen diskutiert sie unterschiedliche Positionen zu KL und schlägt vor, nicht unterschiedliche Termini (z. B. Kooperation vs. Kollaboration) zu verwenden, sondern den Grad der Kooperativität einer jeweiligen Aufgabe oder Gruppenarbeit zu bestimmen. Dazu empfehle sich einerseits eine Bestimmung des „Strukturierungsgrades des Arbeitsprozesses durch die Aufgabe“ (Würffel 2007, 5) und andererseits „die Art und Weise der Wissenskonstruktion“ (ebd.), wobei schwache Kooperativität vorliege, wenn die Strukturierung hoch sei und die Wissenskonstruktion individuell erfolge. Starke Kooperativität sei hingegen gegeben, wenn die Strukturierung niedrig sei und die Wissenskonstruktion interaktiv-kollektiv erfolge. Diese Konzeptualisierung ist sehr sinnvoll, denn sie trägt der oben genannten Tatsache Rechnung, dass bestimmte Aufgabenformate oder Methoden zwar Strukturierung und Wissenskonstruktion beeinflussen, dass sich deren tatsächliche Ausprägung aber erst in der konkreten Interaktion selbst ergibt.

Die zweite sehr sinnvolle Anregung besteht darin, die verwirrenden Detaillierungen der Diskussion um unterschiedliche Arten der Interdependenz auf die grundlegende Unterscheidung von positiver und negativer Interdependenz zurück zu führen:

Fassen wir zusammen: Soziale Interdependenz muss gegeben sein, damit von einer Gruppe gesprochen werden kann. Je nach Charakter der Verflechtung der Ziele der Gruppenmitglieder kann es eine positive oder eine negative soziale Interdependenz geben. Die Wahl eines kooperativen oder eines kompetitiven Verhaltens des Einzelnen in der Gruppe oder zwischen Gruppen geschieht in Abhängigkeit von der Interdependenzstruktur und d.h. letztlich in Abhängigkeit vom Charakter des gemeinsamen Ziels (bzw. der Verflechtung der individuellen Ziele) (Würffel 2007, 11).

Damit richtet sich das Augenmerk auch weniger darauf, theoretisch über unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten oder bestimmten Methoden innewohnende Qualitäten zu spekulieren. Vielmehr ermöglicht es, mit der einfachen Unterscheidung zwischen positiver und negativer Interdependenz und damit zwischen kooperativen, kompetitiven und individualisierenden Situationen in die empirische Untersuchung zu gehen und dort zu ermitteln, welche Differenzierungen unterschiedlicher Facetten von Interdependenz auftreten.

Dass derartige Präzisierungen bedeutungsvoll sind, wird sowohl theoretisch als auch empirisch nahegelegt. Zum einen dürfte es relevant sein, um welche Art von Zielen es sich in konkreten Aufgabensituationen handelt. In ihrem Forschungsüberblick und den von ihnen referierten eigenen Untersuchungen kommen Buchs/Butera (2015) zu dem Ergebnis, dass die Kooperativität von Gruppenarbeiten und damit die Lernzuwächse dann größer seien, wenn die Schüler*innen Könnensziele (mastery goals) und nicht Leistungsziele (performance goals) verfolgen. Könnensziele seien vorhanden, wenn den Schüler*innen deutlich ist, in welcher Weise sich ihr Können und das ihrer Mitlernenden durch die Gruppenarbeit erweitern soll und wird. Dadurch werde Kooperativität erhöht. Leistungsziele seien hingegen vorhanden, wenn es darum gehe, ein bestimmtes Produkt, das an einem Standard gemessen wird, zu produzieren. Dadurch werde die Kooperativität der Gruppe vermindert und das Konkurrenzprinzip käme zum Tragen:

Moreover, it seems to us that it is particularly important to frame the team goal in terms of mutual responsibility for individual learning of each member and not merely in terms of a group product. The common goal of the team must be to ensure that every member understands, masters, and integrates the materials on which the team is working (Buchs/Butera 2015, 202).

Zum anderen scheint nicht nur die Art des Ziels, sondern auch dessen Urheberschaft relevant zu sein. Die Motivationsforschung verweist darauf, dass die Motivation, ein Ziel zu erreichen, unmittelbar damit verbunden sei, wie stark man das Ziel als von sich selbst gesetzt wahrnimmt und es sich damit zu eigen mache. (Johnson/Johnson 2003, 138–139) Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von ownership und formulieren den Zusammenhang wie folgt: „Involvement leads to ownership which leads to motivation and commitment“ (ebd.). In diesem Sinne setzt Kooperativität nicht nur das Vorhandensein gemeinsamer Ziele voraus. Diese Ziele müssen auch gemeinsam verhandelt und sich von den Akteuren zu eigen gemacht werden. Dies wiederum korrespondiert mit Deweys Unterscheidung zwischen cooperativeness und community.

The parts of a machine work with a maximum of cooperativeness for a common result, but they do not form a community. If, however, they were all cognizant of the common end and all interested in it so that they regulated their specific activity in view of it, then they would form a community. Each would have to know what the other was about and would have to have some way of keeping the other informed as to his own purpose and progress. Consensus demands communication (Dewey 2008 [1916], 10).

Während Johnson/Johnson aus individualpsychologischer Perspektive argumentieren, dass nur verhandelte Ziele Motivation erzeugen, sieht Dewey genau in dieser Kommunikation über gemeinsame Ziele den entscheidenden Prozess der Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsform und der Weitergabe kultureller Wissensbestände. Somit treffen sich psychologische und soziologische Perspektive. Und damit kann ein weiteres soziales Phänomen in den Blick genommen werden, das in psychologischer Perspektive verborgen bleibt.

Aktuelle Arbeiten aus der Schulpädagogik (u.a. Rabenstein 2007) machen darauf aufmerksam, dass die neuen Unterrichtsformen, insbesondere KL und Individualisierung keinesfalls ideologisch unschuldig sind, sondern dass sich hier die Problematik von Macht und Kontrolle in neuer Weise stellt. Ausgehend von dem durch Bellmann und Waldow (2006) formulierten Befund, dass das für die neuen Unterrichtsformen zentrale „Leitbild des selbständigen Schülers“ sowohl mit der reformpädagogischen Idee von Lernen als selbständiger und auf Emanzipation zielender Tätigkeit, als auch mit der neoliberalen Idee des sich selbst managenden, entsolidarisierten Individualunternehmers vereinbar sei, schlägt Rabenstein vor, „dass Unterrichtsmethoden, die oft im Sinne eines Autonomie- und Selbstbestimmungszuwachses der Akteure entwickelt und eingesetzt werden, als Teil strategischer Machtbeziehungen untersucht und bezüglich der in ihnen reproduzierten Herrschaftsverhältnisse einer Kritik unterzogen werden“ sollten (Rabenstein 2007, 40). Dazu seien Foucaults Machttheorie und Diskursanalyse sehr gut geeignet, da sie mit der Idee der Gouvernementalität die Ausübung von Macht nicht notwendigerweise als Anwendung äußerer Gewalt, sondern vielmehr als Beeinflussung der Selbststeuerung der Individuen konzeptualisieren: „Es handelt sich also nicht nur um Techniken, Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was die Regierenden wollen, sondern um Techniken, die sowohl Zwang ausüben, als auch sicher stellen, dass das Selbst auf sich selbst einwirkt“ (ebd., 42). Dabei ist es sehr wichtig festzustellen, dass Macht an sich in diesem Modell nicht als notwendig negativ, sondern vielmehr als eine unhintergehbare interaktionale Tatsache aufgefasst wird. Negativ wird sie erst, wenn sie – z. B. in ausgeprägt asymmetrischen Konstellationen – in einseitige Herrschaft übergeht.

In der Analyse zweier unterschiedlicher unterrichtlicher Phänomene zeigt sich, dass die sogenannten neuen Unterrichtsformen in der Tat neue Verhaltensimperative mit sich bringen. Während die ethnographische Unterrichtsforschung (Breidenstein 2006) herausgearbeitet hat, dass Schüler*innen in ihrem unterrichtlichen Handeln in erster Linie ein Lernaktivität suggerierendes Geschäftigsein zur Schau stellen, zeigen sich in den neuen Unterrichtsformen Reflexivität und individuelle Sinnkonstruktion als von den Schüler*innen darzustellende Prinzipien, gleichgültig, ob beides vorhanden ist oder nicht.

Sich selbst als ein sich reflektierendes und entwickelndes Subjekt gilt es nach außen zu präsentieren […]. Eingeübt wird so auf Seiten der Schüler den schulischen Anforderungen – zumindest nach außen – einen subjektiven Bedeutungsgehalt zu unterstellen bzw. diesen zu demonstrieren (Rabenstein 2007, 47f.).

Auf der Basis der vorgenommenen Analysen kann noch nicht endgültig festgestellt werden, ob die Imperative der Reflexivität und Sinnkonstruktion auch zu einer tieferen Auseinandersetzung und subjektiven Identifikation mit unterrichtlichen Gegenständen und eigenen Lernprozessen führen, oder ob der „Schülerjob“ (Breidenstein 2006) lediglich um eine neue oberflächlich darzustellende Facette erweitert wurde. Die Untersuchungen zeigen aber sehr deutlich, dass Fragen der Macht und Herrschaft in den neuen Unterrichtsformen – und damit auch beim KL – von großer Bedeutung sind. Sie legen außerdem nahe, dass sich Macht und Herrschaft hier in subtilerer Form als in äußerer Disziplinierung zeigen können, und dass dazu Konzepte wie z. B. Foucaults Gouvernementalität, die Macht als von außen bewirkte, aber innerlich vollzogene Selbstkontrolle der Subjekte auffassen, besonders geeignet sind.

 

Dieser Befund ist auch relevant für das Verhältnis von KL und Individualisierung bzw. Lernerautonomie. Einerseits kann nämlich davon ausgegangen werden, dass KL und Individualisierung zwei Seiten einer Medaille sind. So wird vermutet, dass die Verinnerlichung des in kooperativen Lernumgebungen erhaltenen Feedbacks zu erhöhter Reflexivität in Bezug auf Inhalte und Lernprozesse führt, so dass Lernerautonomie gerade nicht in individualisierten, sondern v. a. in kooperativen Lernumgebungen mit interdependenter Interaktionsstruktur erworben werden kann (Benson 2001, 12, 14). Andererseits gibt Benson für Lernerautonomie zu bedenken, dass nicht die oberflächliche Sozialform, sondern vielmehr die tatsächlichen Interaktionsstrukturen und damit Machtverhältnisse entscheidend sind:

Changes designed to give more control to learners are implemented in order to achieve reductions in unit costs and are accompanied by measures that ensure that little real power is actually transferred (Benson 2001, 19).

Damit kommt die Forschung zu Lernerautonomie im Fremdsprachenunterricht zum selben Ergebnis wie die Schulpädagogik, indem sie es für die Beforschung neuer Unterrichtsformen für unverzichtbar erachtet, Interaktions- und Machtstrukturen in den Blick zu nehmen.

Insgesamt lässt sich resümieren, dass es in der Forschung zu KL – insbesondere in den seit langem etablierten Ansätzen – Inkonsistenzen und blinde Flecken gibt. Zu deren Korrektur liegen aber sehr kluge Überlegungen vor, die in dieser Untersuchung berücksichtigt werden. Dadurch wird es möglich sein, für die einzelnen Teilstudien tragfähige theoretische Rahmungen zu entwickeln. Dies wird in der Zusammenfassung (vgl. Kap. 2.2.5) und in den folgenden Kapiteln konkretisiert.