Die Brüder von Nazareth

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3

Zwei Jahre später

In der Luft lag ein Dunst, der den Horizont flimmern ließ. Die Bilder der brachliegenden Felder, mit Gestrüpp und einzelnen Bäumen übersät, glänzten unter den sengenden Strahlen der Sonne.

Auf dem staubigen Weg zog sich eine Prozession von Menschen entlang. Hier und da waren unter der Menge auch einige Wagen zu sehen. Männer, Frauen und Kinder strömten aus allen Teilen Galiläa herbei. Die Zeiten und die Wege waren nicht sicher, deshalb bewegten sie sich gruppenweise. Keiner wagte es, allein zu reisen. Man erzählte sich die ungeheuerlichsten Geschichten über Räuber, die den Reisenden auflauerten, um sie auszurauben. Manche bezahlten die Reise mit ihrem Leben.

Ein Esel schleppte sich mit gesenktem Kopf und zog einen mit Stühlen und Tischen beladenen Wagen. Ab und zu wedelte er mit dem Schwanz, um die Fliegen zu vertreiben, die ihn belästigten.

Ein Mann hielt mit einer Hand die Zügel und lief ruhig vor dem Tier einher. In der anderen Hand hielt er einen dicken Stock, auf den er sich stützte. Unter dem langen Gewand waren stramme Waden zu sehen, um die lederne Riemen von Sandalen gebunden waren. Er war nicht groß, eher untersetzt, doch hatte er starke Arme. Auf seinem Kopf trug er ein gewickeltes Tuch, um sich vor der Sonne zu schützen. Er hatte ein breites Gesicht, eine große fleischige Nase und einen kurzgeschnittenen grau melierten Bart. Schon viele Jahre hatte er auf dem Buckel, doch sein Körper war noch rüstig.

Sein Name war Josef, er wohnte in Nazareth. Er hielt seine Familie mit allerlei Arbeiten über Wasser, die er finden konnte, in seinem Heimatort oder auch in den umliegenden Dörfern – als Bauarbeiter, Steinmetz oder Zimmermann. Er stellte auch Wagen her, solche, wie eben der Esel einen zog. Und wenn er keine Arbeit fand, drehte er nicht Däumchen, sondern fertigte Möbel. Darin war er Meister.

Doch sie waren zu Hause schwer zu verkaufen, denn die Menschen waren arm, und deshalb musste er auf die Märkte in den großen Städten ziehen. Er war geschickt, arbeitsam und ehrlich, seinem Namen begegnete man mit allgemeinem Respekt.

Hinter dem Leiterwagen trippelten zwei Knaben daher. Auch sie trugen auf ihren Köpfen ein gewickeltes Tuch, doch die sengende Sonne schien ihnen nichts auszumachen. Sie spürten keinerlei Müdigkeit vom langen Weg, hielten oft an, um einen sonderbar geformten Stein zu bestaunen oder eine sich in der Sonne aalende Eidechse zu verjagen, die augenblicklich davonstob, als sie sie bemerkte. Sie schossen Steinchen mit der Steinschleuder in die Gegend, indem sie wetteiferten, welcher Stein wohl am nächsten neben dem ausgemachten Ziel herunterfiel.

Der etwas stärkere Junge siegte fast immer.

„David besiegte Goliath mit einer solchen Schleuder und wir sind die Nachkommen seines Geschlechts. So sagte unser Vater“, meinte er stolz mit leuchtenden Augen.

Der schwächere von beiden, doch um zwei Köpfe größere Junge, empfand keinerlei Ärger über seine Misserfolge – im Gegenteil. Er war ruhig und irgendwie abwesend. „Nicht die Steinschleuder brachte Goliath um, sondern die Kraft des Geistes von David.“

„Und die Steinschleuder, etwas musste ja den Stein werfen und den Kopf Goliaths treffen“, ließ sein Bruder nicht locker.

Die Jungen hörten nicht auf, zu schwatzen und alles zu kommentieren, was ihnen unter die Augen kam. Es waren die zwei Söhne des Josef – Jakobus, der zum ersten Mal mitkam, und der größere Jeschua, der schon einmal in der Heiligen Stadt war. Sie waren beide aufgeregt und fröhlich, griffen sogar selten zu den Wasserbehältern im Leiterwagen.

Allmählich veränderte sich die öde Landschaft. Öfter stießen sie auf Schaf- oder Ziegenherden, lichte Zimt- und Olivenhaine waren zu sehen. Die Luft war schon nicht mehr so glühend heiß, wenn sie durch die Nasenflügel strich. Als ob sie von einem leichten Windhauch Feuchtigkeit mitführte, der aus dem Westen kam – dort, wo der rote Diskus der Sonne hing, dort, wo die Wogen des uferlosen Meeres rauschten.

Unversehens führte der Weg in ein breites Tal. Der Esel hielt inne und stieß müde mit den Hufen in den Staub. Vor ihm stand Josef, seine beiden Söhne umarmend, die vor Staunen verstummten.

Im entfernten Tal erschien wie eine Fata Morgana eine von den Sonnenstrahlen leuchtende wunderbare Stadt. Sie war ganz von hohen Steinmauern schützend umgeben. Vor ihnen wimmelte es von Menschen, die aussahen wie Ameisen. Innen waren Gebäude zu sehen, doch eines überragte alle und berauschte das Auge mit seinem Glanz und seiner Schönheit. Es stand auf einem Hügel, der so weiß war, als wäre er mit Schnee bedeckt, und die Sonnenstrahlen spiegelten mit einer solchen Kraft die goldenen Flächen wider, sodass ein jeder die Augen abwandte, um nicht zu erblinden.

„Jerusalem!“, rief Jakobus aus und streckte seine Hand zur Stadt.

„Das Heilige Gotteshaus!“, konnte sich Jeschua nicht enthalten.

4

Der Markt war voller Menschen. Er befand sich am Fuße der westlichen Tempelmauer. Die Händler boten lauthals ihre Ware feil, einige liefen sogar auf die Hauptstraße und luden die besser gekleideten Passanten ein, ihre Läden zu besuchen. Alles, was man sich nur vorstellen konnte, wurde angeboten.

Olivenöl von den Olivenhainen um Jerusalem, Wolle aus Judäa, Leinenstoffe aus Galiläa, Getreide aus Ägypten, getrocknete Feigen aus Zypern, Weihrauch, Zimt, Zimtkassie und andere Gewürze aus Arabien, Vögel, Lämmer, Eier, Obst und Gemüse, auch Wasserhändler gab es.

Selbst goldener und silberner Schmuck, Glasgefäße aus Sidon, Purpurfarbe aus Tyros wurden verkauft, obwohl kaum reiche Bewohner und Gäste der Stadt in der Menge auszumachen waren, die den Markt wie ein wasserführender Fluss am unteren Teil der Stadt überschwemmte.

Die Obersten, die Priester und die Beamten am Hofe und Tempel wohnten im oberen Stadtteil und ließen sich selten unter dem einfachen Volk sehen. Sie hatten ihren eigenen Markt.

Der Esel zog brav den Leiterwagen, ohne sich um das Menschengewühl drumherum zu kümmern. Ihn beschäftigten allein die Fliegen, die ihn störten. Um sie zu vertreiben, wedelte er erregt mit den langen Ohren, schüttelte den Kopf und schlug von Zeit zu Zeit mit dem Schwanz.

Der Weg war eben, mit großen Steinplatten belegt. Die Räder des Leiterwagens klapperten monoton darüber und ihr Lärm ging in dem übrigen Getöse unter.

Josef zog an dem Strick, der dem Esel um den Hals gebunden war. Das Tier gehorchte seinem Herrn und blieb stehen. Der Mann drehte sich um. „Kommt mal!“, rief er den Jungen zu, die hinter dem Wagen gingen.

„Warum haben wir angehalten?“, fragte Jeschua.

„Nimm mal die Zügel und halte den Esel an der Stelle.“

„Vater, sind wir angekommen?“, fragte Jakobus.

„Noch nicht“, meinte der Mann und reichte dem größeren Jungen die Zügel. „Ich muss dem Marktverwalter Zoll bezahlen und dann wird er uns sagen, wo wir den Wagen abladen können.“

Die Jungen stellten sich zu beiden Seiten des Esels, der mit dem Fuß auf das Steinpflaster stampfte, und folgten dem Blick ihres Vaters, der sie zu einem reich gekleideten Mann geleitete.

Dieser saß an einem Tisch, an dessen Seiten zwei Wächter standen. In der Hand hielt er einen Fächer, mit dem er eher die Fliegen verscheuchte, statt Kühlung zu fächeln.

Josef ging auf den Tisch zu und verbeugte sich. Der Verwalter legte den Fächer beiseite, schaute ihn an und richtete seinen Blick auf den Leiterwagen mit dem Esel. Noch ein Bauer, der hoffte, seine Ware während der Feiertage loszuwerden. Dieser war ein Tischler.

„Zwei Denare12“, sagte der Verwalter.

Josef zog den ledernen Beutel hervor, der unter seiner Kleidung auf dem Rücken gebunden war, öffnete ihn, nahm zwei Moneten heraus und legte sie auf den Tisch. Der Mann hinter dem Tische nahm sie mit seinen fleischigen Fingern und warf sie in eine Holztruhe, die rechts von ihm neben dem Tisch angebracht war.

„Einer meiner Aufpasser wird dir den Weg zeigen“, fügte er hinzu und schnipste mit den Fingern, nahm seinen Fächer wieder und wedelte damit vor seinem Gesicht.

Josef verbeugte sich noch einmal und ging zu seinem Wagen. Ihm folgte ein kleiner untersetzter Mann mit strammen Beinen und Ledersandalen.

Die Buden reihten sich in einer nicht enden wollenden Schlange aneinander. Wiederum trabten die Knaben hinter dem Wagen einher. Sie hielten ihre Augen offen, schauten aufmerksam einmal nach dieser und einmal nach der anderen Seite des Weges. Selten konnten sie so viele fremde Menschen auf einem Platz sehen. Sie waren schon mit ihrem Vater zum Verkauf von Möbeln in Sepphoris gewesen, bevor es zerstört wurde, doch nichts konnte dem Vergleich mit Jerusalem standhalten.

Das hier war die Stadt der Städte.

Wiederum hielt der Leiterwagen. Die Knaben schauten auf ihren Vater. Der Mann, der sie führte, zeigte nach vorn und Josef nickte verständig. Der Platzanweiser drehte sich um und ging in entgegengesetzter Richtung zurück.

Die Stelle zum Abladen war sehr nahe. Im Umkreis waren ebenfalls Möbel und Holzgegenstände zum Verkauf angeordnet. Jeder Händler hatte auf dem Markt einen ganz bestimmten Platz, je nachdem, welche Ware er verkaufte.

Josef hielt den Esel an, den Wagen nach hinten zu schieben, damit dieser auf dem Weg nicht störte. Er schirrte ihn ab, führte ihn nach hinten und band ihn erneut an, nahm ihm den Sack mit dem Körnerfutter ab und lud gemeinsam mit den Jungen die Möbel ab, ordnete sie vor dem Leiterwagen an, sodass jeder der Passanten sie leicht bemerkte.

Die Möbel allein waren nichts Besonderes; einfach, doch stabil und praktisch. Die Stuhllehnen allerdings waren geschnitzt. Die Hand von Josef hatte Blätter, Zweige und Gräser hineingeschnitzt.

 

„Passt auf die Ware auf!“, wandte er sich an die Knaben.

„Wohin gehst du?“, fragte ihn Jakobus.

„Ich werde mich mal bei den anderen Händlern umschauen, um sie zu begrüßen und sie zu befragen, ob sie schon etwas verkauft haben.“

Die Jungen blickten dem Vater nach, bis er anhielt und mit irgendeinem Mann ins Gespräch kam. Sie setzten sich auf zwei der Stühle und schauten auf die Hauptstraße.

„Guck mal! Dort!“, rief Jeschua aus und hob die Hand.

Jakobus folgte der Richtung.

Auf einer viereckigen Steinplatte stand eine Frau. Um ihren Hals war ein Seil gebunden, das ihren Körper entlang hinunterhing. Das Seilende hielt ein Mann, der mit der anderen Hand die Menschen auf der Straße aufforderte, stehen zu bleiben und die Frau zu betrachten. Er drückte ihr eine am Griff aufgezwirbelte Peitsche auf ihren Körper. Jeder der Vorübergehenden konnte den Körper der Frau berühren und sogar nachsehen, ob ihre Zähne gesund wären. Neben dem Stein saß ein kleines Mädchen.

„Warum hat sie einen Strick um den Hals?“, wunderte sich Jeschua. „Warum hat man sie wie einen Esel festgebunden, sie ist ein Mensch!“

„Ich habe schon solche gesehen“, entgegnete Jakobus wichtigtuerisch.

„Wo?“

„Einmal, als ich mit Vater in Sepphoris war.“

„Und warum war ich nicht mit?“

„Du warst krank und warst bei Mama geblieben.“

Jeschua dachte nach, ohne seinen Blick von der Frau zu nehmen. „Und warum ist sie angebunden?“

„Sie ist eine Sklavin, man verkauft sie.“

Plötzlich sprang Jeschua auf. „Komm, gehen wir und gucken wir sie uns an.“

„Aber der Vater hat uns gesagt, wir sollen auf die Möbel aufpassen!“, widersprach ihm sein Bruder.

„Los, wir werfen nur einen Blick und kehren sofort zurück. Vater wird das nicht bemerken“, antwortete Jeschua und zog Jakobus an der Hand.

Es hatten sich einige Leute um die Frau gesammelt und betrachteten sie.

Die beiden Jungen huschten an den Leuten vorbei, sie wollten näher heran, um besser sehen zu können. Jeschua zog Jakobus an der Hand, der widerwillig mitging und sich ständig nach den Möbeln und dem Leiterwagen umdrehte und seinen Vater suchte.

Es war eine dünne Frau, sie hatte lange kohlrabenschwarze Haare und ihren Kopf auf die Brust gesenkt. Sie trug zerschlissene Kleidung mit kurzen Ärmeln und ihre Arme hatte sie vorn verschränkt. Das grobe Tuch langte bis zu ihren Knien, sie war barfuß, sie hatte eine mattbraune Haut. An ihrem Hals hing eine Holztafel, die mit schiefen schwarzen Buchstaben beschrieben war.

Die Frau war nicht von hier. Sie stand wie eine der Statuen unbeweglich auf dem Stein, wie sie in manchen reichen griechischen Häusern in Sepphoris zu finden waren. Das Kind spielte mit einem Spielzeug aus Holz und schenkte den Leuten keinerlei Aufmerksamkeit.

Der Mann, der die Leine hielt, sprach weder Hebräisch noch Aramäisch. Er trug eine dunkelgelbe Toga und seine Glatze glänzte in der Sonne.

Die beiden Knaben verstanden nicht, was dieser sagte. Von Zeit zu Zeit wandte er sich der Frau zu und zeigte mit dem Peitschengriff auf verschiedene Körperteile.

„Was ist das für eine Sprache?“, fragte Jeschua flüsternd.

„Sie gehört nicht zu den Römern, ich habe gehört, wie sich die Soldaten unterhalten. Vielleicht ist es Griechisch.“

„Es muss Griechisch sein“, murmelte Jeschua. „Wieviel will man für sie?“, meinte er laut.

„Du willst sie doch nicht etwa kaufen?“ Die Stimme gehörte einem Mann mit einem ausgemergelten Gesicht und schwarzem krausen Bart und machte sich über den Knaben lustig.

Jeschua schaute ihn ohne jegliche Scheu und Verlegenheit an. „Verstehen Sie seine Sprache?“, fragte er und zeigte auf den Sklavenhändler.

„Ja.“

„Nun, und was ist der Preis?“, wiederholte der Junge seine Frage.

„Du bist noch zu klein für diesen Markt. Besser du kehrst zu deinem Vater zurück, der bestimmt irgendwo in der Nähe ist. Oder du kaufst dir getrocknete Datteln, wenn du Geld hast. Ich kann dir zeigen, wo es die besten gibt“, entgegnete der Mann.

Ein leichter Schatten eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

Jeschua hatte bemerkt, dass dieser das feinste Tuch trug. Niemals hatte sein Vater so etwas getragen. Sicher hatte das ein ganzes Vermögen gekostet. Außerdem funkelte an den Fingern seiner rechten Hand ein massiver Goldring.

Dieser Mensch war reich.

„Ich habe keinen Appetit auf Datteln, ich möchte nur wissen, wieviel man für die Frau und das Kind verlangt“, beharrte Jeschua.

„Lass uns gehen!“, flüsterte Jakobus ängstlich. „Sicher sucht Vater uns schon.“

„Nein!“

„250“, meinte der Mann.

„Was, 250?“, wunderte sich Jeschua.

„Du hattest mich nach dem Preis für die Sklavin gefragt. Sie kostet 250 Denare.“

Jeschua kratzte sich am Kopf.

„Hast du so viel?“, fragte der Unbekannte.

„Auch, wenn ich alle Möbel verkaufen würde, würde ich nicht so viel aufbringen können.“

„Wenn du sie kaufen könntest, wozu würdest du sie denn verwenden?“

„Für nichts.“

„Wie das?“, staunte ehrlich der Mann.

„Ich werde sie freilassen, damit sie nach Hause gehen kann. Keiner verdient, wie ein Tier angebunden zu werden“, entgegnete Jeschua.

Unversehens trennte der Junge sich von der Gruppe und blieb vor dem Händler stehen. „Ich werde sie kaufen“, brachte er mit einer festen und lauten Stimme hervor, sodass es alle hören konnten.

Die Menschen waren still geworden. Der Fremde, der den Strick hielt, sah den Jungen erstaunt an. Er konnte dessen Sprache nicht verstehen.

„Er will sie kaufen“, sagte einer auf Griechisch.

„Du willst sie kaufen!“, rief der Händler und brach in Gelächter aus, das ansteckte und alle lachten. „Habt Ihr das gehört? Dieser zerlumpte Bauernjunge will kaufen …“, überschlug sich auch der Händler. „Und woher willst du so viel Geld hernehmen?“, konnte er gerade noch sagen.

Jeschua senkte nicht den Kopf. Er stand vor dem Händler, doch sein Blick war auf etwas anderes gerichtet. Seine großen Kinderaugen sahen gebannt in das Gesicht der Sklavin. Diese hatte ihren Kopf erhoben und wollte sehen, wer sie kaufen wollte. Sie hatte ein müdes Gesicht, doch ihre Augen …

Jeschua hatte nie in seinem ganzen Leben solch traurige Augen gesehen.

„Ich kann dir 100 Denare geben, sobald wir die Möbel verkauft haben. Wenn es nicht reicht, werden wir den Leiterwagen dazugeben und … den Esel.“

Der Händler hörte auf zu lachen. „He, mein Junge, geh dorthin, woher du gekommen bist, bevor ich zornig werde. Du störst den Handel.“

Jeschua ging nicht vom Fleck.

Der Händler trat vor und beugte sich hinunter, richtete den Peitschengriff auf seine Brust und schubste ihn. „Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe? Wenn du nicht deines Weges gehst, lass ich dich verhaften“.

„Ich gehe nicht fort. Du bist ein Dreckskerl“, fuhr ihn der Kleine an.

Der Händler hielt den Blick noch einige Sekunden auf diesen hartnäckigen und frechen Knirps. „Wache!“, schrie er mit voller Kraft.

Zwei kräftige Hände packten Jeschua unter den Armen und zogen ihn zurück. Sie gehörten dem unbekannten reichen Mann. „Verzeihen Sie, mein Herr“, sprach dieser auf Griechisch. „Sicher hat er einen Sonnenstich, es ist doch nur ein Kind.“

Der Händler wollte von neuem schreien, aber aus seinem Mund kam nur ein Seufzer. Wie sollte auch die vornehme Kleidung des Mannes dem erfahrenen Auge keinen Eindruck machen. So hing doch von einer korrekten Einschätzung des Kunden sein Unterhalt ab.

„So kann man doch nicht reden, jemand hat ihn das gelehrt. Sicher ist sein Vater einer dieser Juden, die einen Aufstand anzetteln. Da muss die Staatsmacht eingreifen“, sagte er schnell.

„Seien Sie unbesorgt, ich vertrete sie.“

„So! Und in welcher Art?“

„Ich bin Mitglied des Sanhedrin.“

„So, ergreifen Sie Maßnahmen, bevor jemand die Stadt anzündet.“

„Selbstverständlich.“

Der Mann zog den sich widersetzenden Jungen aus der Menge. Jakobus rannte erschrocken hinzu. Der Mann kniete nieder und drehte den Knaben mit dem Gesicht zu sich. „Wie heißt du?“

„Jeschua“, antwortete der Kleine, der sich noch immer mühte, von dem Unbekannten los zu kommen.

„Gut, ich bin Joseph. Hat man dich nicht gelehrt, die Älteren zu achten? Ich vermute, dass dir dein Vater und der Rabbiner das nicht nur einmal gesagt haben.“

„Hat Gott das Geschlecht der Israelis nicht aus Ägypten geführt, damit es frei und nicht versklavt wäre?“

Der Mann schaute in die Kinderaugen. Es waren große, unschuldige Augen. Er betrachtete sie, ohne zu zucken. Er ließ den Knaben los und erhob sich. „Na, zeige mir jetzt, wo die Möbel deines Vaters sind.“

„Dort hinten“, zeigte Jeschua mit der Hand. „Warum?“

„Sie müssen auf den Leiterwagen geladen werden.“

„Sie sind aber noch nicht verkauft worden!“

„Jetzt schon.“

„Wie denn das?“

„Ich kaufe sie.“

„Alle?“

„Alle.“

12 Eine römische Silbermünze.

5

Das Haus stand in einem Olivenhain. Das Haus selbst lag auf einem Hügel auf der Ostseite von Jerusalem. Dazwischen erstreckte sich das Kidrontal, an dessen Südseite der Weg nach Bethanien und Jericho führte. Gewaltige Mauern umgaben die Stadt, über der sich der Tempel in all seiner Pracht und von den Sonnenstrahlen erstrahlt erhob.

Das Heim von Joseph war groß. Es hatte zwei Etagen, die zweite wurde von Marmorsäulen gehalten, um die sich Reben wie Schlangen wandten.

Neben den Olivenbäumen befanden sich dort auch ein Gemüsegarten und ein Blumengarten. Der Hof war mit weißen, gemeißelten Steinplatten ausgelegt, in der Mitte war ein runder Springbrunnen eingebaut. Auf einem kleinen Felsbrocken war ein Fisch aus Stein, aus dessen weit geöffnetem Maul Wasser sprudelte.

Die Jungen hatten eine solche Pracht noch nie gesehen. Ihre Augen waren weit geöffnet und nahmen all die Herrlichkeiten, die sich ihnen im Garten dieses Hauses boten, in sich auf.

Als ob das kein gewöhnlicher Garten wäre, eben einer, von denen die Heilige Schrift und die Rabbiner in der Synagoge erzählten. Der Garten von Adam und Eva … Eden!

Auch ihre Mäuler standen offen, doch konnten sie keine Worte finden, mit denen sie das, was sie sahen, hätten beschreiben können, als wären sie in eine Zauberwelt versetzt, in einen unwirklichen Traum …

„Habt Ihr Durst?“ Die Stimme gehörte dem Hausherrn – Joseph.

Erst jetzt bemerkten die beiden Knaben, wie trocken ihre Kehlen waren. Sie hatten weder etwas gegessen noch getrunken, seitdem sie in Jerusalem angekommen waren. Sie hatten keinerlei Zeit, um an so etwas zu denken. Die Kinder nickten zustimmend.

„Vielleicht seid Ihr hungrig?“ Joseph hob die Hand und winkte zur Eingangstür. „He, Anna!“

Eine junge Frau winkte zurück und kam näher. Als sie hinzutrat, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste Joseph auf die Wange.

„Das sind die Knaben von Josef aus Nazareth – Jakobus und Jeschua. Und das ist meine Frau Anna“, stellte er sie einander vor.

Die Frau trug eine grüne Robe und eine weiße Haube mit blauen Ornamenten. Sie hatte ein rundes Gesicht, doch frisch und gepflegt, schwarze Augenbrauen und Locken in derselben Farbe guckten unter der Haube hervor. Sie hatte große und warme Augen. Um den Hals trug sie eine feine gedrehte Goldkette. Am linken Handgelenk glänzte ein Armband aus eben demselben Metall. Ihren Körper umgab ein leichter angenehmer Duft, der den Jungen in die Nase stieg.

„Würdest du sie bitte in die Küche führen, sie brauchen etwas zum Essen und Wasser.“

„Dann lass diese kleinen Burschen unsere Gäste sein“, lächelte Anna und gab ihnen ein Zeichen, dass sie ihr folgen sollten.

Joseph rief zwei seiner Diener herbei, die still abseits gestanden hatten. Er befahl ihnen, den Leiterwagen abzuladen und den Esel zu füttern. Die Diener verbeugten sich und gingen, um den Auftrag zu erfüllen.

Josef, der Vater der beiden Jungen, betrachtete ebenfalls mit Begeisterung das Grundstück, in das er geraten war. Er hatte schon viele reiche Häuser in Sepphoris gesehen, Caesarea … aber dieses übertraf alle in Schönheit und Feinheit des Stiles.

 

„Gefällt es dir?“, fragte der Hausherr.

„Es ist wie Balsam für die Augen. Es passt zu einem würdigen Herrn wie Sie.“

„Das habe nicht ich geschaffen, ich habe es von meinem Vater geerbt, Friede seiner Asche. Auch den Handel mit Zinn habe ich geerbt. Unsere Schiffe fahren in jeden Winkel des römischen Imperiums.“

„Das erklärt auch diese Schönheit“, erwiderte der Tischler.

„Meine Frau hat deine Kinder in die Küche geführt. Ich vermute, sie sind müde von den Erlebnissen des Tages und du wirst dem nichts entgegensetzen.“

„Eine solche Großzügigkeit kann ich nicht ausschlagen. Ich weiß nicht, wie ich es danken kann.“

„Denke nicht daran, lass uns hineingehen.“

Beide Männer gingen auf den Hauseingang zu und tauchten in die Kühle ein.

***

Nikodemus war ein hübscher und starker Junge. Trotz seiner Jugend hatte er schon viel von der Welt gesehen, hatte Menschen jeglicher Art getroffen, denen man innerhalb des römischen Imperiums begegnen konnte. Er trug eine knielange Robe aus feinstem Leinen, die mit einem Ledergürtel im Rücken festgeschnallt wurde. Geschlungene Riemen hielten seine Ledersandalen an den strammen Waden. Er arbeitete bei einem der reichsten und geachtetsten Menschen in Jerusalem und Mitglied des Sanhedrin – Joseph.

Er war ein Waisenkind, seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben und sein Vater, ein Schiffskapitän, war von einer seiner Reisen nicht zurückgekehrt. Keiner wusste über sein Schicksal Bescheid. Entweder war sein Schiff in einem Sturm untergegangen oder Räuber hatten es überfallen. Auch er war wie sein Vater ein ehrenhafter Diener.

Josephs Familie hatte ihn aufgenommen und wie ihr eigenes Kind aufgezogen. Sie ermöglichten ihm eine ausgezeichnete Bildung, aber er war von Natur aus klug und geschickt und eignete sich schnell Fertigkeiten an.

Er lernte die Sprachen der Römer, der Griechen und der Araber, wurde zum Sachverständigen in der Buchhaltung und im Handel. Er war derart gut in seiner Arbeit, dass Joseph ihn nicht entbehren konnte, er war zu dessen Vertrauten aufgestiegen, eine unersetzbare Hilfe und rechte Hand in dessen Angelegenheiten. Doch er war nicht nur einer seiner wertvollen Diener, er behandelte ihn wie seinen kleinen Bruder.

Der Bursche lief schnell, ohne auf die neckenden Blicke zu achten, die ihm die unverheirateten, mit Kopftüchern verhüllten Jungfern zuwarfen. Sein Gesicht war ernst und es hätte nicht anders sein können.

Ein kleiner Knirps rannte schweißtriefend und atemlos auf ihn zu und war den ganzen Weg von der unteren Stadt hergerannt, um seines Entgelts würdig zu sein.

Er hatte eine Nachricht für Nikodemus.

Nachdem der Junge sich vergewissert hatte, dass er den richtigen Mann gefunden hatte, nahm er ein zusammengefaltetes Stück Pergament heraus und überreichte es ihm mit strahlenden Augen.

Nikodemus nahm es entgegen, faltete es auseinander und las es. Es war eine Nachricht von Joseph. Sie war kurz. Er sollte auf den Markt im unteren Teil der Stadt gehen und einen griechischen Sklavenhändler beobachten.

Nikodemus hob den Kopf, griff in den Beutel, der ihm um die Hüften hing, nahm eine Münze heraus und warf sie in die Luft. Schnell schnappte der Knabe sie sich, schloss sie fest in seine Faust wie eine Kostbarkeit, verbeugte sich ein wenig und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Noch immer summte der Markt wie ein Bienenschwarm. Die Händler boten ihre Ware feil und die Käufer bewegten sich wie ein träge dahinfließender Strom die Hauptstraße entlang.

Nikodemus verlangsamte erst dann seinen Schritt, als er den länglichen Stein bemerkte, auf dem man die Sklaven zum Kauf feilbot. Im Inneren hörte er sein Herz stark klopfen. Unterwegs hatte er sich gewundert, warum Joseph ihm einen solch eigenartigen Auftrag erteilt hatte, doch war er ihm hörig und er wusste, dass es etwas Wichtiges war, sonst hätte er einen anderen Diener des Handelskantors damit beauftragt und nicht ihn.

Um den Stein stand ein Haufen Menschen herum, aber niemand beachtete die entblößte, auf dem Stein stehende Sklavin. Alle horchten gebannt auf das in Griechisch geführte Gespräch zwischen zwei Personen in reicher Kleidung.

Einer hatte eine Glatze und trug eine dunkelgelbe Toga. Aufgeregt erklärte er ununterbrochen gestikulierend etwas mit der linken Hand. Seine rechte war damit beschäftigt, den um den Hals der Sklavin gebundenen Strick zu halten. Neben dem ihm zuhörenden dicken Mann standen zwei starke Männer mit Schlagstöcken.

Nikodemus hatte ihn sofort erkannt. Es war der Verwalter des Marktes. Ein schlauer und neidischer Mann, dessen Gier keine Grenzen kannte. Der junge Mann bahnte sich einen Weg zu ihm. „Was geht hier vor?“, fragte einer aus der Menge leise.

Bevor er dessen Neugier stillte, sah er diesen verdächtig an. „Der Sklavenhändler ist über einen zerlumpten Knirps wütend, der ihm die Sklavin abkaufen wollte. Er meint, das Kind wäre wahrhaftig der Sohn eines Aufständischen, der ihn das gelehrt hätte, und verlangte, dass der Verwalter sofort Maßnahmen ergriff.“

„Und wo ist das Kind?“

„Irgendein Wichtigtuer stellte sich als Mitglied der Sanhedrin vor, ergriff ihn und führte ihn fort. Gut, dass er das getan hat, da ich mir nicht hätte vorstellen können, was hätte geschehen können“, flüsterte der Mann.

Nikodemus dankte mit einem Kopfnicken und konzentrierte sich auf das Gespräch.

„Sie müssen das der Obrigkeit melden. In kurzer Zeit ist Passah und alle möglichen Räuber treiben sich hier herum. Da kann doch einem die Idee kommen, sich als Messias auszugeben“, meinte mit ernster Miene ein Händler.

„Was ist denn schon passiert? Eine Rotznase von Bauer hat sich einen Spaß gemacht. Und den hat doch gerade ein Mitglied des Sanhedrin aufgegriffen“, entgegnete der Verwalter feindselig.

Er hatte noch immer Wut, dass er den angenehmen Schatten hatte verlassen und den Weg hierher machen müssen, um sich das Geschwätz dieses Sklavenhändlers anzuhören. Und obendrein war er kein Jude. Das aber verlangte sein Dienst. Außer die Markttaxen einzunehmen, hatte er auch auf die Einhaltung der Regeln zu achten – besonders, wenn wichtige Feiertage anstanden. Jedwede Störung musste vermieden werden, sonst würde er seinen Posten verlieren, auf den manch anderer sehr scharf war.

„Da hat sich einer einen Spaß gemacht! Denken Sie das so? Ein zerlumpter Bauernjunge treibt seinen Spaß mit mir, einem angesehenen Kaufmann wie mir? Nein, nein, mit mir können sie das nicht machen. Ich sage Ihnen, jemand hat ihm das beigebracht. Jemand, der vor diesen wichtigen Feiertagen Unzufriedenheit und Hass unter den Leuten schüren will. Wenn Sie keine Maßnahmen ergreifen, werde ich mich an jemand anderes wenden …“

„Gut, gut“, fand sich der Verwalter damit ab.

Der Händler bestand darauf und auch viele Leute hatten gehört, was passiert war. Die Sache hätte sofort ins Gespräch und in unerwünschte Ohren kommen können.

„Ich werde die Tempelwache informieren. Hat jemand wenigstens gesehen, mit wem der Junge hier war?“

„Mit einem Tischler, sie hatten einen Leiterwagen mit einem Esel.“

Der Verwalter runzelte seine dichten Augenbrauen, suchte in seinem Gedächtnis und erinnerte sich sofort an den Bauern, der seine zwei Denare gezahlt hatte, damit er seine Ware auf dem Markt verkaufen konnte. „Und das Mitglied des Sanhedrin, hat er sich vorgestellt?“

„Nein, ich habe vergessen, nach seinem Namen zu fragen. Aber es war kein alter Mann, er sprach ausgezeichnet Griechisch.“

„Gut, wie ich schon gesagt habe, ich werde die Tempelwache informieren.“ Der Verwalter drehte sich um und rief seine Wächter, die miteinander zu sprechen begannen, doch Nikodemus konnte sie nicht mehr hören.

Er hatte genug erfahren. Ihm war klar, wer dieses Mitglied des Sanhedrin war, der den Bauernjungen geschnappt hatte. Doch zweifelsohne würde auch der Verwalter in Kürze dessen Namen herausfinden. Er hatte Augen und Ohren in jedem Winkel vom Markt.

Er wusste, was er zu tun hatte.