Die Brüder von Nazareth

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

6

Galiläa war nach der Niederschlagung des Aufstands von Judas nicht mehr dasselbe. Das Echo der Unruhen lag noch in der Luft. Alle hatten sich dadurch gerettet, dass sie weggelaufen waren. Auch die Familien der Aufständischen flüchteten, denn auch sie erwartete der Tod. Rom war nicht geneigt, jemandem zu vergeben, besonders denjenigen nicht, die es gewagt hatten, gegen die Machthabenden Roms die Hand zu erheben.

Auch die Familie von Judas war genötigt, Rettung zu suchen. Der Schriftgelehrte Zadok sorgte dafür, dass sie weit weggeführt wurden, damit niemand sie ausfindig machen konnte. Nirgendwo in den römischen Provinzen war für sie ein sicherer Platz. Weder in Judäa noch in Syrien oder Ägypten …

Zadok wollte kein Risiko eingehen, die Nachkommen, die Söhne des Aufständischen Judas zu verlieren. Eines Tages sollten sie die Sache ihres Vaters fortsetzen. Deshalb schickte er sie nach Osten, außerhalb der Reichweite des Flusses Jordan zu den Beduinen. Dort wären sie in Sicherheit, bis sie heranwuchsen.

Aber für sich selbst hatte er überhaupt keine Bedenken. Sehr wenig Leute kannten ihn persönlich und wussten, wer er ist und welche Rolle er in der Widerstandsbewegung spielte. Fast alle waren schon tot, die wenigen Lebenden waren bereit, ihr Leben zu opfern, um ihn zu schützen. Für sie war er der Gerechte, jener, der den Weg betrat und auch die anderen überzeugte, ihn mit derselben Hartnäckigkeit und Hingabe zu gehen.

Zadok hatte sich in ein kleines Dorf in der Nähe von Jericho und dem Ufer des Asphaltsees13 zurückgezogen. Es war das Gebiet der ehemaligen Thora14 oder Essener, oder eher jener Essener, die sich mit dem Geschehen im Tempel nicht abfinden konnten. Sie waren vor der Verderbtheit in der hohen Geistlichkeit geflohen, die nicht in Einklang mit dem Gesetz des Moses stand. Sie lehnten die Annahme und Weiterreichen der Opfergabe zu Ehren der Fremden ab, die ihr Land besetzt hatten, oder der Bunten, wie man sie hier nannte.

Die Menschen lebten in Gemeinden, sie teilten alles miteinander, was sie besaßen, arbeiteten gemeinsam, hielten die alten Traditionen zur Reinhaltung ein, kümmerten sich hingebungsvoll um Alte und Kranke, als ob es Brüder wären. Die Geweihten befassten sich mit dem Lesen, dem Abschreiben und der Auslegung der Heiligen Bücher. Sie ehrten gewissenhaft und ehrfurchtsvoll den siebenten Tag, die siebente Woche, den siebenten Monat und das siebente Jahr.

Es waren keine Aufständischen. Deshalb ließ man sie in Ruhe. Sie waren keine Bedrohung, solange sie weit vom Tempel blieben. Außerdem waren die Herrschenden den dort Lebenden wohlgesinnt, da diese sich mit der Herstellung von Opobalsam beschäftigten. Dieses wurde von allen Parfüms wegen seines göttlichen Aromas bevorzugt und in den Städten des Imperiums zu hohen Preisen verkauft.

Hier verfügte Zadok über viel Zeit zum Nachdenken und Beten. Er versuchte, sich zu erklären, warum sich Gott von seinem Volk abgewendet hatte, warum er sie auf solch grausame Art bestrafte, warum jeder Aufstand gegen die Fremden mit Elend endete.

Ist nicht von David verkündet worden, dass dieses Land auf immer und ewig den Juden gehöre? So sagt das Testament zwischen dem Allmächtigen und seinem auserwählten Volk. Weshalb hat dann Gott zugelassen, dass es von Fremden zertreten würde?

Galt das Testament noch oder nicht?

Jeremia15 sprach von einem neuen Herzen und einem neuen Geist, von einem neuen Testament, das Judäa und Israel im kommenden Jahrtausend gegeben würde. Ein neues Testament, das zum Reich Gottes führt.

Sein Einsiedlerleben war nicht zufällig. Er folgte dem Rat des Propheten Jesaja, der sagte, der Weg Gottes müsste in der Öde vorbereitet werden. Er war schon in die Jahre gekommen und sein einziger Wunsch, bevor er von dieser Erde ginge, war, dass sein Land frei war und dass die Nachkommen von David ihr Land aufs Neue regieren und diese des Aaron die Tempeldienste übernehmen.

Das hatten die Makkabäer16 vor so vielen Jahren geschafft, indem sie die griechischen Eroberer verjagt hatten. Warum sollte nicht auch er das tun? Er hatte die Pflicht …

Als Herodes der Große starb, war Hoffnung aufgekommen. Doch auch damals war der Aufstand gescheitert.

Hat sich Gott wahrhaftig von seinen Kindern abgewandt? Wegen all dieser Sünden …

Der Messias von Israel war verloren, Judas war tot. Nur er allein war geblieben – alle hielten ihn für den Messias von Aaron. Allein durch die Ankunft der beiden Messiasse würden sie sich von den Fremden befreien können. So wie es zwei Säulen am Eingang des Tempels des Salomon gibt – Jachin und Boas. Nur dann würde es einen unabhängigen Staat geben, einen König und einen Hohenpriester.

So steht es in den Büchern.

Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen.17

Aber auch diese beiden Aufstände waren erfolglos.

So sicher glaubte ich an Judas und an mich selbst … In seinen Träumen ist Gott nicht erschienen. Er hat nicht zu ihm gesprochen. Er hat ihn nicht mit seinem Licht geblendet. Er hatte keine Engel zu ihm geschickt. Er war zu stolz, um zu gestehen, er wäre nicht unter seinen Erwählten, unter seinen Schmeichlern.

Die wahren Messiasse sind anders. Und er hätte sie finden müssen. Einer aus dem Geschlecht des Aaron, der im Tempel Dienst tut, und der andere aus dem Geschlecht des David, sodass er Prinz werde, der Prinz des Lichts.

Jedoch müsste vor ihnen ein Prophet erscheinen, der ihre Ankunft verkündete. Das könnte er sein.

Er hatte die Pflicht, weil er der Lehrer war.

Der Lehrer der Gerechtigkeit!

13 Das Tote Meer.

14 Der erste Teil des Tanach, der hebräischen Bibel. Sie besteht aus fünf Büchern Mose.

15 Biblischer Prophet (6. Jh. v. Chr.).

16 Fünf Brüder mit Judas an der Spitze führten den Aufstand der Juden von 167 bis 160 v. Chr. gegen die syrische Dynastie der Seleukiden.

17 Zahlen 24,17.

7

Ein verhaltenes Plätschern von Wasser war zu hören. Es kam vom Mikwe18, das fast den ganzen Raum einnahm. Am Eingang erhob sich eine Wand aus griechischen Säulen mit einem korinthischen Kapitel aus Marmor und die breiten Stufen begannen unmittelbar dahinter und endeten im Wasser. Der Boden vor der Kolonnade war mit Mosaik bedeckt, die geometrische Figuren und Blumen darstellten. Es war ein Werk von speziell aus Rom gerufenen Meistern.

Neben einer der Säulen stand ein Tisch mit einem großen Teller voller verschiedener Früchte und einer silbernen Schale mit Wasser. Auf dem Stuhl daneben lag ein schneeweißes Tuch.

Ein Mann in seinen besten Jahren schritt langsam durch das Wasser. Er hatte, nach der Mode Caesars, kurz geschnittenes Haar und einen dichten krausen Bart. Er trug eine lange, aus dem feinsten Leinen gewebte Robe mit an den Rändern aufgesetzten purpurnen Schmuckfäden. In der Mitte des Bassins hielt er inne, verschränkte seine Arme vor der Brust, schloss die Augen, tauchte langsam ins Wasser und blieb einige Augenblicke unbeweglich so stehen.

Er erhob sich wiederum, strich sich mit den Handflächen über sein breites Gesicht, von dem in dünnen Strahlen das Wasser abfloss. Mit zur Decke erhobenem Kopf begann er flüsternd ein Gebet. Nachdem er geendet hatte, schüttelte er den Kopf und tausend kleine Wassertropfen zerstreuten sich um ihn aus seinen nassen Haaren. Gemächlich trat er zur Treppe.

Aufmerksam betrat er einzeln jede der sieben Stufen, bis er das Bassin verlassen hatte. Die an seinem Körper klebende Kleidung unterstrich seine nicht besonders athletische Figur mit dem ausgeprägten dicken Bauch.

Der Mann trat zum Stuhl, nahm das Tuch, wischte sich das Gesicht ab und schlang es sich um den Hals, ging zum Tisch und tauchte seine Handflächen in die silberne Schale, schüttelte sie kurz und griff zum Früchteteller. Er nahm von den dunkelblauen Weintrauben und steckte eine Traube nach der anderen in den Mund.

Hannas ben Seth, oder einfach Annas, wie ihn die Bewohner von Jerusalem nannten, war seit fast zwei Jahren Hoher Tempelpriester. Er war vom Statthalter Syriens Quirinius ernannt worden, als Kaiser Augustus beschloss, Judäa zu einer römischen Provinz auszurufen.

Doch Annas erhielt den Posten nicht geschenkt. Er hatte mit aller Kraft und allen Mitteln darum gekämpft, das grundlegende Hindernis – Herodes Archelaos, den ältesten Sohn und Erbe von Herodes dem Großen – zu beseitigen. Archelaos wollte die Macht nicht mit seinen Brüdern teilen, aber Kaiser Augustus entschied anders. Er teilte das Land und ernannte Archelaos zum Ethnarch, indem er ihm die Macht über Judäa, Edom und Samarien erteilte.

Annas brauchte sich in seiner Mission nicht allzu sehr anzustrengen.

Herodes Archelaos war dermaßen geizig, grausam und dumm, sodass es eine Leichtigkeit war. Um die protestierende Menge zu besänftigen, ließ er die Gefangenen frei und versprach, die Steuern zu senken, doch hob er die Anordnungen nach dem Tod von Herodes dem Großen auf und schlug den Aufstand der Pharisäer brutal nieder, indem er befahl, Tausende von ihnen in Jerusalem zu töten.

Ständig wurden die Hohepriester des Tempels ausgewechselt und er verjagte zum Schluss seine Frau Mariamne, um Glaphyra zu nehmen – die Frau seines früher hingerichteten Bruders Alexander, die damals noch mit Juba II. verheiratet war, dem König von Mauretanien, was das Gesetz von Moses nicht erlaubte.

 

So brachte er alle großen Persönlichkeiten und Priester gegen sich auf, doch ohne sie hätte er nicht mehr weiter regieren können. Sie schickten Kuriere zu Caesar, der nicht zögerte, ihn zu verurteilen und nach Gallien zu verbannen und all seine Titel und Besitz zu entziehen.

Eigentlich verdankte Annas nicht so sehr dem ehemaligen Konsul Quirinius seinen Posten als Coponius – dem römischen Präfekten, der nach Judäa geschickt worden war und dem Statthalter von Syrien untergeordnet war, doch tatsächlich hatte er die Macht in Judäa und Jerusalem. Nur er hatte das Recht, zu begnadigen oder jemanden im Namen von Caesar zum Tode zu verurteilen.

Annas hatte es geschafft, alle Anwärter aus den übrigen drei wohlhabenden priesterlichen Familien auf den Posten auszustechen und die Gunst des neuen Herrschers Roms zu erwerben. Er war auch bei ihm geblieben, nachdem der Aufständische Judas in Galiläa die Revolte wegen der von Rom angeordneten Volkszählung angezettelt hatte. Der Aufstand war niedergeschlagen worden und die Sachen schienen sich beruhigt zu haben. Aber Annas kannte seine Landsleute bestens und wusste, dass jeder kleinste Funke neuen Widerwillen entzünden würde.

„Vater!“

Ein Knabe stürzte mit vor Aufregung heißen Wangen ins Bad. Er atmete schwer und hastig. Offenbar war er auf dem Weg ins Bad gerannt. Es war ein kleiner Junge, nicht einmal einen Anflug eines Bartes hatte er.

„Was ist los, Eleazar? Man kann ja nicht einmal in Ruhe baden. Gut, dass du mich nicht im Bassin angetroffen hast, du weißt, wie streng die Anforderungen des Hohenpriesters zur Reinhaltung der Rituale sind. Jene teuflischen Pharisäer warten nur darauf, dass ich irgendeine Regel nicht einhalte, und schicken sofort eine Beschwerde hinauf.“

Der Jüngling hielt an und senkte ergeben den Kopf. „Verzeih mir, Vater, aber ich habe Neuigkeiten. Ich habe mit dem Kapitän der Tempelwache gesprochen …“

„Warte, nicht so schnell“, unterbrach ihn Annas. „Nimm dir etwas Obst“, meinte der Vater und zeigte auf den brechend vollen Teller.

„Es ist wichtig!“, bat der Junge.

„Alles ist wichtig, mein Sohn. Besonders in unserer Lage und mit unseren Verpflichtungen, die wir haben – Jerusalem und ihren Bewohnern gegenüber. Deshalb dürfen wir nichts überstürzen und unbedachte Schlussfolgerungen ziehen, die zu verheerenden Folgen führen könnten. Wie oft soll ich dir das sagen?“

Der Junge antwortete nicht sofort. Er trat unruhig auf den einen und den anderen Fuß und konnte vor Aufregung keinen Platz für seine Hände finden, bis er sie hinter dem Rücken verschränkte. „Ja, Vater, ich weiß, dass ich noch viel lernen muss.“

„So ist es. Und nun erzähle mir, welche Nachricht du mir bringst.“

Eleazars Augen bekamen ihren Glanz wieder, doch trotz seiner Erregung bemühte er sich, langsamer und ruhiger zu sprechen, als er es gewohnt war. „Auf dem Markt in der unteren Stadt kam es zu einem Skandal. Der Sohn irgendeines Tischlers hat einen angesehenen Händler verspottet, indem er eine Sklavin kaufen wollte. Natürlich hatte der kein Geld. Es fehlt noch, dass die armseligen Bauern Geld haben, um Sklaven zu kaufen.“

„Gut, und was passierte danach?“

„Der Händler beschwerte sich beim Verwalter des Marktes, der seinerseits den Kapitän der Tempelwache in Kenntnis setzte.“

„Ist der Ruhestörer festgenommen worden?“

„Leider nicht. Der Tischler ist abgehauen.“

„Wie kann denn das passieren?“

„Man hat ihm geholfen“, meinte Eleazar und wartete die Reaktion seines Vaters ab.

Annas schob die Fruchtschale zur Seite und hielt mit dem Kauen inne. „Wer war es denn?“

„Ein sehr reiches und angesehenes Mitglied des Sanhedrin.“

Obwohl er viel gewohnt war, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. Sein Gesicht spannte sich und seine Augen bekamen einen Glanz vor Raublust. „Wer?“, wiederholte er seine Frage.

„Joseph von Arimathäa.“

„Der Zinnhändler?“

„Eben dieser, ich habe den Kapitän angehalten, er sollte Soldaten zu dessen Villa schicken, und wenn der Tischler noch dort ist, sollten sie ihn festnehmen.“

Annas dachte nach. Joseph war wahrhaftig ein angesehener Mann und auch sehr einflussreich. Im Unterschied zu ihm war jener ein Pharisäer. Deshalb war er nur ein Mitglied im Großen Sanhedrin, das aus 71 Personen bestand. Er war ein Teil der Ratsmitglieder, in die Aristokraten und bekannte Persönlichkeiten aufgenommen wurden. Doch diese Gruppe hatte den kleinsten Einfluss auf die Tempelsachen, eines dieser Mitglieder hatte fast keine Chance, in eine wichtige Position oder in das Personal der Gerichtsbarkeit des Sanhedrin gewählt zu werden. Solche Leute wurden eigens von Annas bestimmt.

„Vater, hörst du mir zu?“

„Natürlich höre ich dir zu.“

„Na, was sagst du dazu?“

„Du hast schon richtig gehandelt, aber du brauchst deshalb nicht stolz zu sein. Merke dir, der Stolz ist eines jeden Feind, der regieren will. Und du bist mein erstgeborener Sohn, der Sohn, den ich dem Gott geweiht habe, und eines Tages wirst du mein Amt erben.“

Eleazar hatte sich so über das Lob gefreut, dass er bereit war, sich sofort ins Bassin zu stürzen. Doch das hätte den Vater keineswegs gefallen. Er musste sich beherrschen und ruhig sein, wenn er ihn noch mehr beeindrucken wollte.

„Hat der Kapitän noch etwas gesagt?“

Eleazar dachte nach. „Ach ja, gestern Nacht ist eine Gruppe Samaritaner in den Tempel eingedrungen und sie haben Knochen zwischen die Kolonnaden geworfen, er hat die Wache gerufen, damit sie diese verhaften.“

„Welche Knochen?“, wunderte sich Annas.

„Ich meine, es waren menschliche.“

„Menschliche!“

„So sagte der Kapitän.“

„Und das sagst du mir erst jetzt!“ Das Gesicht des Hohenpriesters rötete sich langsam. Plötzlich hob er die Hand und stieß die Schale vom Tisch. Sie flog hinunter und schlug mit einem ohrenbetäubenden Krach auf das Mosaik. Das Obst verstreute sich auf dem Boden.

„Idiot!“, schrie Annas. „Wann wirst du es lernen, die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu unterscheiden?“

„Was habe ich denn getan?“, rechtfertigte sich Eleazar erschrocken.

„Was? Warum habe ich dich zum Schatzmeister des Tempels ernannt?“

„Damit ich das Geld der Pilger einnehme“, antwortete stotternd der Jüngling.

„Und wer gibt Geld an einem geschändeten Ort?“

Eleazar rieb sich die Hände und wusste nicht, was er antworten sollte. Die Antwort war klar genug.

„Ordne sofort an, man solle den Kapitän der Wache herbeirufen!“, befahl sein Vater. Annas nahm das Tuch von den Schultern weg und beförderte es erzürnt ins Wasser.

18 Rituelles Tauchbad im Judentum.

8

Nikodemus verschwand ungesehen vom Markt und lief zum Kidrontal. Der Strom von Menschen und Vieh behinderte ihn und hielt ihn auf, bis er in die untere Stadt kam. Er hoffte, er würde ins Haus von Joseph kommen, bevor man jemanden von der Tempelwache geschickt hatte.

Die Leute achteten nicht auf den gut gekleideten, rennenden jungen Mann. Seine Sandalen hinterließen Staubwolken und sein Gesicht triefte vor Schweiß. Er kannte den Weg auswendig, er ging ihn wenigstens zweimal am Tag.

Na ja, nicht immer zu Fuß wie jetzt.

Sein Herr war ein einflussreicher Mann und er musste auf dessen Stellung achten. So ritt er manches Mal mit dem Pferd bis zu den Stadttoren und ging von dort zu Fuß, die Tiere brachten die Diener wieder nach Hause.

Nikodemus schlich sich geschickt durch eine Karawane, die sich den ganzen Weg monoton dahinzog, indem er ein Kamel erschreckte und das schrecklich zu schreien begann. Sein Herr musste es am Zügel packen und es beruhigen.

Sobald er die Goldenen Pforten erreicht hatte, bog er zur Seite ab und nahm den gewundenen Weg zum Hügel hinauf. Die Müdigkeit in den Beinen zwang ihn, langsamer zu gehen und nicht zu rennen. Er gelangte zu dem verzweigten Olivenbaum und hielt in dessen Schatten inne, um Atem zu schöpfen und sich etwas auszuruhen. Er nutzte den Augenblick und schaute auf den Weg neben der Festungsmauer.

Es waren keine Reiter oder Wachleute zu sehen.

Er strich sich mit der Handfläche den Schweiß vom Gesicht und schritt weiter.

Nachdem sie sich erholt und gegessen hatten, lud Joseph seine Gäste in das geräumige Zimmer ein, in dem der Hausherr seine Bücher hatte und das er als Arbeitsraum nutzte.

Es war königlich eingerichtet, der Boden bestand aus Mosaikschmuck und die Wände waren mit Blumen und Gräsern bemalt. An einer Wand waren über die ganze Seite Regale angebracht, in denen sorgsam geordnet Schriftrollen lagen. Die Einrichtung zeigte von Meisterhand geschnitzte teure Möbel und die Kanapees waren mit feinen fremdländischen Webereien versehen, an den Wänden waren weiche Kopfkissen aufgereiht, die hochgestellte Gäste sich in den Rücken legten.

Josef aus Nazareth hatte niemals in seinem Leben eine solche Pracht gesehen. Er trat vorsichtig auf dem Mosaik auf, als hätte er Angst, es zu beschädigen. Seine Augen nahmen den ihn umgebenden Luxus gierig auf, seine Nasenflügel sogen ein göttliches Aroma vom feinsten Parfüm auf. Er nickte nur schweigend, als der Hausherr ihn zum Sitzen aufforderte.

„Also fragst du, wie das möglich ist, dass ein einfacher Zimmermann aus Galiläa das Glück hat, seine Ware in weniger als einem halben Tag zu verkaufen und obendrein eingeladen wird, in der Kühle des Hauses eines reichen Kaufmanns und Mitglied des Sanhedrin zu verweilen?“

Der Landmann schüttelte den Kopf und rutschte etwas auf dem Kanapee hin und her. Man sah, dass er sich nicht besonders wohlfühlte. „Nun, dieser Gedanke ist mir durch den Kopf gegangen.“

„Es ist egal, die Welt hat sich auf den Kopf gestellt und plötzlich sind die Reichen mitfühlend geworden und wollen den Armen helfen. Oder ein Wunder vor Passah ist geschehen“, setzte der Hausherr seinen Worten hinzu.

Josef von Nazareth räusperte sich. „Es geschehen in unseren Zeiten wohl schwer Wunder. Die Zeiten sind schwierig. Man muss überleben.“

„Du hast recht. Entschuldige, ich werde dich nicht weiter belästigen“, lächelte der Herr des Hauses.

Josef hatte sich wirklich gewundert, was ihm die Ehre verschaffte, von einem so bekannten und angesehenen Mann in sein Haus eingeladen zu werden, als wären sie gleichgestellt und alte gute Freunde. Ihn, einen armen Tischler aus einem kleinen Dorf in Galiläa, der seine Pflichten erfüllte und seine beiden Söhne zu den Feierlichkeiten zum Passah nach Jerusalem geführt hatte.

„Du hast wunderbare Jungen.“

„Danke, es sind gute Kinder. Sie sind gehorsam, helfen mir bei der Arbeit, ohne sich zu beklagen.“

„Wirst du sie in die Synagoge führen?“

„Wie es sich gehört, jeden Sabbat hören sie die Rede des Rabbiners, der aus der Heiligen Schrift liest.“

„Eigentlich sind wir Verwandte.“

Josef hob den Kopf. Er war ehrlich überrascht. „Wieso?“

„Ja, wir sind im weiteren Grade Cousins mit deiner Frau Mariamne.“

Josef verkrampfte seine Finger nervös. Seine Frau hatte nie erwähnt, dass sie einen solch bekannten Verwandten in Jerusalem hat. „Ich hatte keine Ahnung davon“, sagte er einfach.

„Mach dir keine Sorgen, sie hat mich dir gegenüber bestimmt nicht erwähnt. Soviel ich weiß, stammt sie väterlicherseits vom Stamm David ab, mütterlicherseits von Aaron. Das stimmt doch? Ich irre mich da nicht?“

„Nein, nein, Sie haben recht. Mariamne gehört wirklich zu beiden Stämmen.“

Plötzlich wurde das Gespräch der beiden Männer jäh unterbrochen. Ein schwer und hastig atmender junger Mann mit einem von Schweiß genässten Gesicht stürmte ins Zimmer.

„Rabbi …“

„Was ist passiert?“, sprang der Hausherr auf und ging auf ihn zu.

„Sie müssen fortgehen“, antwortete Nikodemus.

„Wer?“

„Die Gäste, die Tempelwache kommt sie suchen.“

Nikodemus berichtete kurz und stockend, wie der Sklavenhändler sich beim Verwalter des Marktes beschwert hatte.

Joseph überlegte und strich sich über den Bart. „Bist du dessen sicher?“

„Wäre ich sonst den ganzen Weg bis hierher gerannt?“

„Wir müssen sie verstecken, sonst werfen sie den Vater der Knaben ins Gefängnis. Und wer weiß, was sie mit ihnen machen werden.“

„Aber hier ist’s nicht möglich, die Schergen werden sie entdecken.“

„Sie werden nicht hier bleiben.“

 

Nikodemus öffnete den Mund, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken.

„Entschuldigen Sie“, wandte sich Joseph an seinen Gast, der dem Gespräch der beiden aufgeregt gefolgt war. „Das ist Nikodemus, mein Vertrauter und Angestellter. Und das ist Josef aus Nazareth.“

Nikodemus grüßte ehrerbietend und drehte sich mit einem fragenden Blick um.

Sein Herr gab ihm ein Zeichen, dass er sich beruhigen sollte. „Warum gehst du nicht in die Küche und nimmst ein kühlendes Getränk?“

Nikodemus nickte und folgte seinem Rat.

„Ist irgendetwas passiert?“, fragte der Tischler.

„Eigentlich, ja. Eine Gefahr ist aufgetaucht, die wir bannen müssen.“

„Was für eine Gefahr?“, wunderte sich der Gast.

„Ich muss gestehen, dass ich die Möbel nicht gekauft habe, weil ich sie brauchte, sondern weil wir schnellstens den Markt verlassen mussten.“ Der Herr des Hauses erzählte, wie dessen Sohn Jeschua versucht hatte, eine Sklavin von einem griechischen Händler abzukaufen, der sich über das Kind geärgert und sich beim Verwalter beschwert hatte.

„Und was machen wir jetzt? Was haben wir da angerichtet?“, begann der Gast zu jammern.

„Mach dir keine Sorgen. Es wird weder dir noch den Jungen etwas passieren.“

„Und wenn die Schergen kommen?“, sagte Josef von Nazareth erschrocken.

„Wenn sie kommen, werden sie Euch nicht finden“, entgegnete der Hausherr, lächelte und klopfte dem Mann beruhigend auf die Schulter.“

„Wie denn das?“

„Nikodemus wird Euch an einen sicheren Ort bringen.“

„Wohin?“

„In die Nähe von Jericho. Ich habe dort einen bekannten Lehrer, der deine Söhne als seine Schüler annehmen wird.“

„Meine Kinder?“

„Ja, nur sie. Du gehst auf einem Umweg zurück nach Nazareth, damit die Wache dich nicht findet.“

Der Bauer wusste nicht, was er sagen sollte. Dieser Vorschlag hatte ihn sehr verwirrt. Doch hatte er zu diesem freundlichen Mann Vertrauen. Er hatte selbst gesagt, dass er ein weiter Verwandter seiner Frau war. Er wusste, woher ihre Eltern abstammten. Doch wusste er auch, wie grausam die Herrschenden in Jerusalem sein können. Besonders vor dem Passahfest. Er hatte von allerhand Geschichten gehört, bei denen die armen Leute wegen geringerer Vergehen ins Gefängnis geworfen wurden. Und sein Jeschua … „Was hast du getan, mein Sohn!“, flüsterte er.

„Wir haben keine Zeit.“

„Das heißt, ich muss mich von den Knaben trennen?“

„Es muss sein, sonst werden sie verhaftet. Sie werden in guten Händen sein. Ich gebe dir mein Wort, es wird ihnen nichts Böses geschehen. Und wenn Zeit vergangen ist und es sich beruhigt hat, wirst du sie wiedersehen können. Glaube mir, Ihr müsst fort. Wenn man Euch fängt, kann auch ich Euch nicht helfen.“ Joseph sah seinem Gast direkt in die Augen. Er bedauerte diesen Vater, der so überraschenderweise eine schnelle und schwere Entscheidung treffen musste, doch die Situation erforderte es. „Und?“

„Nun, es soll so sein. Aber …“

„Ist da noch etwas anderes?“

Der Gast steckte seine Hand unter die Kleidung und holte einen Lederbeutel heraus, öffnete ihn und suchte darin, hielt die Hand dem Gastgeber hin, auf der eine silberne Münze mit einem Adler am Bug eines Schiffes eingeprägt war. „Wir haben es nicht geschafft, dem Gott ein Opfer zu bringen.“

Joseph legte dem Tischler die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, ich werde persönlich für dich und deine Familie dem Gott ein Opfer bringen.“

„Ich muss doch das Geld für das Geflügel zahlen …“

„Das ist nicht nötig, ich werde es tun. Habe Vertrauen zu mir. Dieser halbe Silberschekel ist genug.“

Als der Gast hinausgegangen war, lief Joseph eilig zur Wand, an der ein Tisch lehnte. Er setzte sich auf den Stuhl und nahm ein Stück Papyrus heraus, tauchte die Feder ins Tintenfass und begann zu schreiben.

Es war ein Brief an den Schriftgelehrten Zadok.

Er hatte das gefunden, was dieser gesucht hatte.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?