Der Sound der Provence

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Benjamin sitzt alleine im Büro. Chris hat ihm eine Nachricht hinterlassen. „Bin beim Soundcheck von Franz Ferdinand und hier hat eine Milla 29 angerufen. 0171-236753“ Gruß CHR2rock. Dahinter hat Chris ein Grinsen gemalt, wie man es sonst in E-Mails und SMS benutzt.

„Ach, das hatte ich ganz vergessen“, schießt es Benjamin durch den trüben Kopf. Der Wein und der Sambuca haben sich ihren Platz im Körper eingefordert. Am Abend hatte Benjamin sich ja mit Milla 29 zum Abendessen verabredet. Er hatte sie in einer der schlaflosen Nächte bei Friendscout 24 kennen gelernt. Ihm reichte schon die Tatsache, dass sie Keith Jarretts „The Köln Konzert“ als eine ihrer Lieblingsplatten angegeben hatte. Alle anderen Frauen standen auf Justin Timberlake oder Robbie Williams und natürlich mochten sie alle Bryan White. Er hatte sich vier Stunden lang in einem privaten Chatraum mit Milla 29 unterhalten. Sie stellte sich als humorvoll heraus und weil all die anderen Blind Dates irgendwie immer platzten, wollte Benjamin es diesmal ernsthaft versuchen. Er verabredete sich mit ihr zum Pizzaessen bei Mamma Mia. Das war heute und Benjamin hatte es vollkommen vergessen.

„Milla Covonovic...“

„Hey, hier ist Benjamin.“

„Wer bitte?“ Pause.

„Benjamin 741 oder was ich da für eine Nummer hatte.“

„Ach ja. Hey“ Sie lacht und Benjamin weiß nicht warum.

„Hey.“

„Ich hatte schon angerufen, ob das klappt heute.“

„Ja, ich habe die Nachricht gesehen.“

„Da war ein Chris dran. Laute Musik und so. Cool.“ Wieder lacht sie. Milla 29 hat eine ziemlich hohe Stimme. Fast krächzend und das ständige Lachen verunsichert Benjamin. „Komisch, plötzlich mit dir zu reden“, lacht Milla 29.

„Ja, das stimmt, irgendwie komisch, das Internet.“

„Wann treffen wir uns denn heute?“, fragt Milla 29

„Um acht?“

„Ja, um acht, und wo?“

„Bei Mamma Mia in Altona?“, sagt Benjamin. Pause.

„Wo ist das denn?“

„Na, in Altona?“ antwortet Benjamin.

„Wo ist denn Altona?“, fragt Milla 29, diesmal ohne zu lachen.

„Na, in Hamburg, eben im Stadtteil Altona. Behringstraße.“

„Wer ist da noch mal?“, fragt Milla 29.

„Benjamin.“

„Nee, ich meine doch deinen Chatnamen.“

„Ach so, Benjamin 741 oder so.“ Pause, dann lacht Milla 29 wieder krächzend.

„741?“

„Ja, 741.“

„Das ist ja jetzt echt schräg.“

Benjamin weiß nicht, was er sagen soll und deshalb fragt er lachend „Wieso denn?“

„Ich komme doch aus Darmstadt, in Hessen.“

Diesmal geht das krächzende Lachen von Milla 29 in eine Art Wiehern über.

„Da gibt es in Frankfurt auch einen Benjamin. Ich glaube, er war die Nummer 783, aber das habe ich mir nicht mehr so genau gemerkt. War ja schon spät und ich war eh breit.“

Jetzt kann er sie so sehr lachen hören, dass man als naher Verwandter oder Freund sich hätte Sorgen machen müssen, dass die Frau erstickt. Doch Benjamin kennt sie nicht und er macht sich keine Sorgen und wartet gelassen, bis der Anfall vorüber ist.

„Von dem hatte ich mir auch die Nummer geben lassen und jetzt habe ich ganz vergessen, dass du das ja in der Plattenfirma warst und er das bei dem Konzertveranstalter.“

„Ach so.“

„Das tut mir jetzt leid und du hattest dich bestimmt so gefreut.“

„Na ja, schon irgendwie.“

„Ich gebe dir noch einen Tipp. Du musst bei der Suche immer die Postleitzahl und die Entfernung in Kilometern angeben, wenn du Frauen suchst. Dann fischst du nicht im falschen Bundesland.“ Wieder ein wieherndes Lachen.

„Fischen, das sagt man doch so bei euch im hohen Norden oder?“ Dann ein Klicken und das Gespräch ist beendet.

Für einen Moment sitzt Benjamin an seinem Schreibtisch und starrt einfach nur auf den CD-Stapel, die Zettel, seine Kopfhörer und die Umschläge mit weiteren CDs drin. Mit weiteren Begleitschreiben, die mit Superlativen und bescheidenen Erfolgen protzen. „Wir haben schon in Garbsen, in der Nähe von Hannover bei „Fury in the Slaughterhouse“ im Vorprogramm gespielt“, das war noch vor ihrem Hit „Time to wonder“ oder „Wir würden unsere Musik irgendwie Crossover nennen. Vielleicht mit einer Prise Punk. Ach, hört es Euch einfach an.“

Unten steht dann meistens: „In großer Vorfreude auf ein Feedback“ oder noch schlimmer: „Keep on Rockin“.

Das Telefon klingelt: „Hey, hier ist Monica. Ich soll dich an Becksmen erinnern, sagt Michael und außerdem sollst du gleich Bescheid sagen, wenn du mit George Lavelle gesprochen hast.“

„Alles klar, danke.“

Benjamin ist plötzlich müde, als er den Rolodex mit den Telefonnummern aus zehn Jahren zu sich zieht und unter L, den Namen Lavelle sucht. Tatsächlich, da steht eine Telefonnummer aus München. c/o Christopher Martin und dann in Klammern Manager. Benjamin wählt die Nummer und nach dreimaligem Klingeln geht eine Frau ran. „Brettschneider!“

„Hier ist Benjamin Brechtmann von Phonostar Records. Kann ich bei Ihnen einen George Lavelle oder einen Herrn Christopher Martin erreichen?“

„Wer ist da bitte?“

„Benjamin Brechtmann von Phonostar Records.“ Sie macht eine Pause.

„Christopher Martin ist mein Ex-Freund.“

„Oh“ sagt Benjamin erst nur. „Haben Sie vielleicht eine Telefonnummer?“

Wieder macht sie eine Pause.

„Ich will mit diesem Mann nie wieder etwas zu tun haben und habe Gott sei Dank auch keine Nummer und wenn ich eine hätte, dann würde ich sie verbrennen oder ihm ein paar Killer auf den Hals jagen oder noch besser zu ihm gehen und mit einem flachen Spaten neben seiner Tür auf ihn warten und wenn er mich dann schon vergessen hat....“

„Schon gut“, sagt Benjamin. Es hilft nichts, er muss sich direkt an George Lavelle wenden und irgendwie herausfinden, wo er abgeblieben ist. Wieder setzt die Frau am Telefon an: „Noch besser wäre es, wenn er sich nichts ahnend in sein Auto setzen würde, bei dem ich vorher eine ganze Flasche Öl sorgfältig und so liebevoll, wie er mich immer behandelt hat über seine Bremsen gegossen hätte und ich dann in der nächsten Kurve...“

Plötzlich hat Benjamin einfach keine Lust mehr auf diesen Tag und auf komische Frauenstimmen mit abartigen Vorstellungen aus seinem Telefonhörer. Er beendet das Gespräch, schnappt sich ein paar der CDs, die er sich Zuhause noch anhören muss, schaltet seinen Telesekretär ein und verlässt das Büro.

5

Schon den ganzen Tag ist Benjamin damit beschäftigt die Telefonnummer, eine Adresse oder irgendeine Spur zu finden, die ihn zu George Lavelle führen könnte. Wenn es genauso schwierig ist, die Nummer des ehemaligen Managers herauszufinden (die Auskunft hat keine Nummer), dann kann er auch versuchen George Lavelle direkt zu finden. Doch der scheint genauso verschollen zu sein. Benjamin ruft befreundete Musikjournalisten an. Beim Rolling Stone will man mal im Archiv nachschauen, beim Musikexpress kann man sich gerade noch an den Titel erinnern und bei seinem Freund Karl Schmidtbauer vom Spiegel lässt Benjamin sich sogar dazu hinreißen, den Song „A man falls in love with Judy“ in den Telefonhörer zu singen und erntet dafür ein herzliches Lachen. Gleich doppelt, denn auch Chris ihm gegenüber hat seine Arbeit eingestellt und grinst belustigt, als er seinen Kollegen singen hört. „Mensch Ben, du hast ja ‘ne richtig tolle Stimme, wenn es sein muss.“

„Ich weiß langsam nicht mehr, an wen ich mich noch wenden kann. Es muss doch jemand wissen, wo der Mann geblieben ist. Wir leben in einer vernetzten Welt.“

Benjamin findet die Single bei Ebay. Startgebot 1 Cent. Dann durchforstet er das Internet. Google braucht 0,4 Sekunden um 595 000 Einträge mit dem Namen George Lavelle zu finden. Die Einträge ähneln sich. Wikipedia erzählt die Geschichte von George Lavelle und seinem Hit „A man falls in love with Judy“ und berichtet dann, dass er seit Jahren untergetaucht sei. RTL nennt seinen Namen in der Liste der größten One Hit Wonder. Benjamin klickt auf den TV-Link und sieht eine Gruppe von Tänzerinnen ihre Hintern im brasilianischen, und damit vollkommen unpassenden Stil wackeln. Keiner der ausgewiesenen Musikprofis auf dem Sofa weiß, wo der Mann geblieben ist. Auch Xing, Stay Friends, Studie VZ verzeichnet keinen Eintrag. Ein Link führt zu einem George Lavelle in Fort Lauderdale, der eine Kartonfabrik gegründet hat und damit ein Vermögen angehäuft hat. Da es kein Bild von dem Mann gibt, quält sich Benjamin zwanzig Minuten lang durch den Artikel, bis er an dem Satz anlangt. „George Lavelle died in 1939.“Dafür weiß er nun alles über Verpackungsmaterial, was er wissen muss, falls er mal etwas verschicken möchte. Er will im Moment nichts verschicken.

Eigentlich hätte Benjamin mit derartigen Problemen rechnen müssen, denn als er damals George Lavelle unter Vertrag nahm, gestaltete sich die Verhandlung mit ihm ähnlich schwierig. Bis heute ist George Lavelle der einzige Künstler, den er selbst nur ein einmal getroffen hat. Die Vertragsunterzeichnung lief per Fax und Post und vor allem über den Manager Christopher Martin. Als er ihn kennen lernte, waren unzählige Mitarbeiter von Phonostar Records anwesend und Michael Reichert ließ sich mit George Lavelle anlässlich der Goldenen Schallplatte fotografieren. Benjamin schüttelte ihm lediglich einmal die Hand und sagte: „Hey, tolle Nummer dein Hit“ und Michael Reichert ergänzte: „Mögen da noch viele folgen.“

George Lavelle stand da wie eine Marionette und schüttelte nur die Hände, die ihm entgegen gestreckt wurden. Er sagte wenig. George Lavelle war groß und ziemlich schlank. Er hatte dunkle mittellange Haare und sah blass und fast ein bisschen krank aus. Er passte so gar nicht in das Bild eines Popstars. Er wirkte gehetzt. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er musste gut 20 Jahre älter als Benjamin sein, eigentlich zu alt für einen Popstar. Lavelle stellte sich immer mehr als ein schwieriger Querkopf heraus.

 

Christopher Martin hatte Benjamin mal gestanden, dass es sich bei George Lavelle um die komplizierteste Person handelte, die er jemals getroffen hatte und dass er nicht wusste, wie lange er die Zusammenarbeit noch ertragen konnte. Oft hatte Lavelles Starrköpfigkeit und sein hoher musikalischer Anspruch auch Benjamin schlaflose Nächte bereitet.

Da die Popstarkarriere schneller vorbei sein kann als sie begonnen hat, zwang Phonostar Records George Lavelle damals schnell weitere Stücke aufzunehmen, denn Michael Reichert wollte „das Optimale aus ihm herausholen“, und wenn er so etwas sagte, dann meinte er vor allem Geld. Der sensible Lavelle konnte dem Druck aber nicht standhalten und kündigte schon wenige Monate nach seinem Erfolg entnervt den hoch dotierten Vertrag.

Michael Reichert selbst hatte wieder und wieder versucht ihn zu überreden weiter zu machen, doch Lavelle lehnte ab. Vor allem der plötzliche Ruhm war George Lavelle regelrecht zuwider. Peinlich genau achtete er darauf, dass es möglichst nur wenige Fotos von ihm gab. Außer dem Singlecover gab es nur Schnappschüsse in Klatschzeitungen und sie waren es auch, die Lavelle endgültig verzweifeln ließen. Bei seinem Manager Christopher Martin hatte er sich beschwert, dass er nirgendwo mehr ungestört hingehen konnte und dass jeder seiner Schritte, jeder Restaurantbesuch und jede Unterhaltung mit Frauen ein Thema in der Klatschpresse waren. Lavelle klagte darüber, dass er täglich ein Stück mehr seiner Freiheit einbüßte. „Freiheit, Christopher, Freiheit ist des Menschen höchstes Gut.“ Es war das letzte Gespräch der beiden und Christopher Martin zitierte den Satz bei dem letzten Gespräch mit Benjamin, als sie sich eingestanden, dass aus diesem Mann gar nichts mehr herauszuholen war. George Lavelle verschwand von einem auf den anderen Tag von der Bildfläche. Da es nun auch keinen Vertrag mehr mit ihm gab, ließ man ihn ziehen und hat sich nicht weiter um ihn gekümmert.

Benjamin hatte seit neun Jahren nichts mehr von ihm gehört. Unsterblich ist nur sein Song „A man falls in love with Judy”, den Bryan White nun unbedingt neu aufnehmen wollte. Hätte er nicht einen anderen Song eines normalen Künstlers aussuchen können?

Benjamin hatte plötzlich das Gefühl, der Superstar wolle ihn, den kleinen Talentscout, einfach nur quälen.

Chris ist es, der schließlich eine gute Idee hat. „Ich würde da mal bei der Gema anrufen, die schütten doch alljährlich das Geld an den Künstler aus. Die müssen doch wissen, wohin das geht.“

Benjamin wählt die Nummer der Gema und gelangt zu einer Frau Schmidt, die ihr Leben lang nichts anderes tut, als sehr klein gedruckte Nummern auf Plattenhüllen, so genannte LC Nummern mit Kontonummern zu vereinen und auszurechnen, was der betreffende Künstler in dem laufenden Jahr verdient hat, um den Betrag dann an die Plattenfirma, den Verlag und alle anderen zu überweisen, deren Namen in einen Zusammenhang mit einem Pophit gebracht wird.

Tatsächlich kann man ihm helfen, zumindest auf den ersten Blick. Nur eine Stunde (für eine Art Behörde der Popmusik sehr schnell) klingelt Benjamins Telefon. „Schmidt von der Gema, guten Tag.“

„Schön, dass Sie zurückrufen....“

„Ja, das wird sich herausstellen. Ich habe hier lediglich eine Kontonummer, an die wir das Geld halbjährlich überweisen.“

Benjamin hört, wie sie in ihren Unterlagen wühlt.

„Es ist die Kontonummer einer Bibliothek in Saignon.“

„Was? Warum denn eine Bibliothek? Was sagten sie? In Saigon?“

Chris schaut von seinem Computer auf.

„Saigon? Nine, nine, nine, nineteen nineteen“ singt Chris mehr zu seiner eigenen Belustigung.

„Saigon habe ich nicht gesagt, Herr Brechtmann. Ich habe Saignon gesagt.“

„Aha“, bringt Benjamin heraus. „Wo ist das?“

„Ich arbeite nicht im Reisebüro und auch nicht in der Botschaft. Laut des Namens muss es wie gesagt irgendetwas Französisches, Belgisches oder Karibisches sein. Wollen Sie die Nummer haben? Ist ja nur die Kontonummer.“

„Ja, geben Sie mir die doch mal“, sagt Benjamin, als er auf seinem vollgemüllten Schreibtisch nach einem Stift sucht. Er notiert die Zahlenfolge, bedankt sich und beendet das Gespräch. „Chris, wenn du zwischen Belgien, Frankreich oder der Karibik als Altersruhesitz wählen könntest. Wo würdest Du hin?“

Chris zögert keine Sekunde.

„Karibik. Nur ein Idiot würde sich in Europa zur Ruhe setzen.“

Für einen Moment versucht Benjamin sich Chris mit seiner zerrissenen Hose, seinen Stiefeln, seinen Piercings und Ohrringen an den weißen Stränden der Karibik vorzustellen. Sein silberner Blechstift in der Lippe kochend heiß, seine weißen Hände so schwarz wie seine Fingernägel.

Ein Blick ins Internet gibt Benjamin schnell Aufschluss. Die Bank ist in Frankreich, Saignon in der Provence und tatsächlich, da gibt es sogar eine Bibliothek, die man auf der Internetseite finden kann.

„Chris, die Bibliothek ist in einem Kaff in den Bergen. Hier steht was von Apt oder so.“

Benjamin weiß nicht, wo Apt oder so ist, weiß, um ehrlich zu sein auch nicht ganz genau, wo die Provence ist und auch die Internetseite gibt so gut wie keine Informationen.

„Die Bibliothek ist in einem Dorf von 1048 Einwohnern, 150 vor Christus gegründet im Departement Vaucluse. Zwei Hotels, Apt ist 5 km entfernt und jetzt das Wichtigste: Offizielle Webseite „Nein.“ Touristinfo ebenfalls „Nein.“

„Kein Wunder, dass sie da eine Bibliothek brauchen“ lacht Chris und wühlt in seinem CD - Stapel.

„Sprichst du eigentlich Französisch?“ Benjamin weiß, wie sinnlos diese Frage ist und doch stellt er sie, denn er weiß, dass er als nächstes in der Bibliothek anrufen wird, vielleicht die Frage, ob man einen Monsieur Lavelle kennt aus seinem Wörterbuch zusammensetzen können wird und dann? Wird er die Antwort verstehen?

Chris spreizt seinen kleinen Ringfinger mit dem schwarzen Fingernagel ab und spricht, als käme er aus einem Käfig voller Narren:

„Je ne se pas francaise.“ Er lacht. Benjamin lacht nicht. Er lässt sich von der Auslandsauskunft die Nummer der Bibliothek geben und hat plötzlich eine Idee.

Sie heißt Claudia und sie arbeitet in der Promotionabteilung von Phonostar Records. Benjamin hatte sich vor Jahren mal in sie verliebt. Claudia aber nicht in ihn, zumindest nicht so richtig. Trotzdem ist Benjamin es gelungen, sie ins Bett zu kriegen. Vielleicht aus Mitleid, weil Benjamin ihr so viele, geradezu rührende Liebeserklärungen gemacht hat. Alles binnen weniger Stunden auf einer Weihnachtsfeier. Sie begannen eine Beziehung, doch Claudia machte Schluss. Es war kurz vor ihrem Sommerurlaub. Er kann sich daran erinnern, dass sie wie jedes Jahr an die französische Atlantikküste zum Surfen fuhr. Für Benjamin brach eine Welt zusammen, als Claudia braun gebrannt aus dem Urlaub kam und es sich, typisch für eine Promotionabteilung, sehr schnell herumsprach, dass sie nun mit einem französischen Profisurfer liiert war. Benjamin konnte sich nicht helfen, aber irgendwie sah Claudia für ihn glücklicher aus, als in der Zeit, in der sie ihr Bett für ein paar Wochen mit dem stillen Benjamin teilte.

Beiden gelang es eine gute Beziehung aufrecht zu erhalten. Er verabredet sich mit ihr zum Mittag. Er ist immer noch ein bisschen aufgeregt, wenn er sie trifft. Mit ihren kurzen Haaren und ihrer durchtrainierten Figur erinnert sie ihn immer an ein Model für Sportbekleidung. Claudia umweht immer ein Hauch von Abenteuer, wie er oft von Surfern ausgeht.

„Schön dich zu sehen“ sagt sie lächelnd, während sie ihm auch die Wange küsst.

„Gut siehst du aus”, das ist eigentlich immer der erste Satz, den er herausbringt, wenn er sie sieht.

„Komm wir gehen”, sagt sie und greift zu ihrer Jacke. „Italiener?“

„Franzose wäre wohl angemessener”, sagt Benjamin.

„Ach komm, lass das. Fang nicht schon wieder damit an.“

Da Benjamin es nie gelang sie durch ein ähnlich abenteuerliches Surferleben zu überzeugen und er auch nicht gerade ein Alleinunterhalter ist, hat er sie in langen Diskussionen versucht von sich zu überzeugen. Es war zwecklos und am Ende nur noch peinlich für beide Seiten.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, antwortet er ihr jetzt, während sie die Straße zu einem kleinen Italiener mit Stehtischen überqueren.

„An dir habe ich mir schon lange genug die Zähne ausgebissen“.

„Ach Ben.“ Claudia klopft ihm in einer zärtlichen Geste auf den Rücken.

„Wie geht es dir?“ fragt sie mit ehrlichem Interesse. „Gut!“

„Nein, ich meine wie geht es dir wirklich?“, sagt sie, jetzt ein bisschen lächelnd. Beide geben ihre Bestellung auf.

Weil Benjamin es eigentlich selbst nicht weiß und er dazu neigen würde, sich jetzt wieder in sie zu verlieben, nur weil sie ihn so anschaut und sich sogar für sein Wohlbefinden interessiert, kommt er schnell zum Punkt.

„Tja, und nun muss ich da irgendwie in dieser Bibliothek anrufen und fragen, ob man einen George Lavelle kennt“, endet die Geschichte.

„Merkwürdige Story“, sagt Claudia. Inzwischen haben sie schon den Espresso ausgetrunken.

„Vielleicht gehört ihm die Bibliothek“, sagt sie. Und dann lächelt sie wieder so unschlagbar und sagt: „Das ist doch mal was anderes Benjamin. Das hast du dir doch immer gewünscht.“ Benjamin nickt und küsst sie noch heimlich auf die Wange, kurz bevor sie das Gebäude von Phonostar Records betreten.

6.

„Ich glaube, dir bleibt nichts anderes übrig”, sagt Michael Reichert, während er den Börsenteil sorgfältig faltet und in seinem Lederkoffer verschwinden lässt. Benjamin kann sich lebhaft vorstellen, wie Reichert abends in seiner Designerwohnung sitzt und sein Geld in den Zusammenhang mit den klein gedruckten Zahlen in der Zeitung bringt. Claudia hatte keine guten Nachrichten. In der Bibliothek kannte niemand den Namen George Lavelle und man soll auch nicht besonders freundlich zu Claudia gewesen sein. Benjamin ist es unangenehm sie da hineingezogen zu haben.

„Ich meine, das Geld, das der Titel „A man falls in love with Judy“ Jahr für Jahr einspielt, wird an die Bibliothek überwiesen, da muss George Lavelle doch irgendetwas damit zu tun haben. Was weiß ich, warum ihn da keiner kennt.“

„Und was ist, wenn er inzwischen einen anderen Namen hat?“ fragt Benjamin Michael Reichert kleinlaut.

„Ich weiß es nicht, Ben. Es ist mir eigentlich auch egal. Du hast den Mann damals entdeckt und jetzt bist du es auch, der ihn ausfindig machen muss. Egal wie.“

Reichert faltet die Hände vor sich, so als müsse er sich selbst beruhigen.

„Es gibt keinen wichtigeren Job als diesen für Phonostar Records, Benjamin. Versag jetzt nicht! Fahr da hin, guck dich in der Bibliothek um und finde diesen Mann!“ Michael Reichert macht eine Pause, als wolle er den Worten Zeit geben, auch wirklich da anzukommen, wo sie hingehörten.

„Diese Bibliothek da, in Saigon oder wie das Kaff heißt, bekommt Jahr für Jahr eine unglaubliche Summe von uns überwiesen. Davon können die der ganzen Provence mehr Bildung anbieten als die Gymnasien in ganz Hamburg. Eine kleine Dorfbibliothek scheffelt da das ganz große Geld und ein Mann ist für all das verantwortlich, den keiner kennt? Die verarschen uns.“

Reicherts Hände sind nicht mehr gefaltet. Sie liegen nun nebeneinander auf dem Tisch. Er spricht jetzt bewundernd, wie er es immer tut, wenn er von Menschen erzählt, die viel Geld verdienen und dabei noch eine Kreativität entwickeln, die noch in keinem seiner Börsenblätter erwähnt wurde.

„Das nächste Mal, wenn du dieses Büro hier betrittst, dann leg mir den unterschriebenen Vertrag von George Lavelle hin.“

Jetzt hat Benjamin den Eindruck, dass Reichert die Vorgänge nur aufzählt, so als handle es sich um Routinearbeiten, die tagtäglich in seinem Büro stattfinden. Seine Stimme klingt jetzt so, als würde er sich inmitten eines wunderbaren Traums befinden: „Danach werde ich bei Bruce Butcher in New York anrufen, ihm sagen, dass Deutschland seinen Teil zu dem größten Popwerk aller Zeiten beigetragen hat. Bryan White wird diese Platte aufnehmen, die Fans werden vor Begeisterung weinen, kleine Mädchen werden ihren ersten Orgasmus bekommen, wenn sie in der ersten Reihe stehen und textsicher „A man falls in love with Judy“ mitsingen und milde lächelnd den alten Knacker am Bühnenrand akzeptieren, den du uns aus diesem Kaff zurück auf die Bühne gebracht hast. Wir alle werden sehr, sehr reich und du bekommst den ersten Bonus deines Lebens. So einfach ist das und jetzt geh hin und mach uns alle glücklich.“

 

Das Gespräch, oder besser gesagt, die Phantastereien finden ein jähes Ende, als Monica anruft, um ihm irgendein wichtiges Telefonat durchzustellen. Diesmal will er Benjamin nicht vor seinem Schreibtisch sitzen haben, wenn er telefoniert. Er hat genug von ihm und macht eine Handbewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verjagen.

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