Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen – Kommentar

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Teil I Aufgaben und Organisation der Ordnungsbehörden

Schönenbroicher

§ 1 Aufgaben der Ordnungsbehörden

(1) Die Ordnungsbehörden haben die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr).

(2) Die Ordnungsbehörden führen diese Aufgaben nach den hierfür erlassenen besonderen Gesetzen und Verordnungen durch. Soweit gesetzliche Vorschriften fehlen oder eine abschließende Regelung nicht enthalten, treffen die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nach diesem Gesetz.

(3) Andere Aufgaben nehmen die Ordnungsbehörden nach den Vorschriften dieses Gesetzes insoweit wahr, als es durch Gesetz oder Verordnung bestimmt ist.

I. Allgemeines zum Anwendungsbereich des OBG
1. Regelungstechnik des Gesetzgebers in § 1

1

Der Anwendungsbereich des OBG ist nur in einer Zusammenschau der drei Absätze des § 1 zu bestimmen. Ausgangspunkt der Regelung sind nicht die Umschreibung des Anwendungsbereichs oder die Definition der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr, sondern die „Aufgaben der Ordnungsbehörden“. Das Gesetz setzt also bei einer Zuständigkeitszuschreibung an Behörden (nicht Körperschaften)[1] an, in den Mittelpunkt der Regelung wird „die Ordnungsbehörde“ gerückt, die letztlich indes (nur) Teil einer Behörde einer Gebietskörperschaft ist[2].

2

Warum der OBG-Gesetzgeber diese merkwürdige Regelungstechnik wählte, wird klar, wenn man sich die historische Entwicklung des Polizei- und Kommunalrechts in Nordrhein-Westfalen seit 1945 vergegenwärtigt[3]. Die Polizei blieb nach 1945 rein staatliche Angelegenheit, wobei die Landräte als Kreispolizeibehörden im Wege der Organleihe einbezogen wurden. Die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr dagegen wurde zum geringen Teil noch von staatlichen Sonderbehörden vollzogen, weitgehend aber von kommunalen Gebietskörperschaften, den Gemeinden und Kreisen.

3

Abs. 1 trifft vor diesem Hintergrund eine allgemeine Aufgabenzuschreibung an die Ordnungsbehörden, was die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr in NRW angeht. Nach Abs. 2 Satz 1 führen die Ordnungsbehörden „diese Aufgaben“ der Gefahrenabwehr nach den hierfür erlassenen besonderen Gesetzen und Verordnungen durch. Aus der Formulierung „hierfür erlassenen“ wird man ableiten können, dass ein Handeln als Ordnungsbehörde aus Sicht des OBG zumindest dann anzunehmen ist, wenn in „besonderen Gesetzen und Verordnungen“ Behörden als „Ordnungsbehörden“ bezeichnet werden, wie in § 60 Abs. 1 BauO. Dann gilt für die als Ordnungsbehörden handelnden Behörden zunächst die spezialgesetzliche Rechtsmaterie (etwa die BauO). Soweit bundesgesetzliche Vorschriften Recht der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr enthalten, führen die Ordnungsbehörden dies nach diesen Vorschriften aus. Nach Abs. 2 Satz 2 treffen die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nach diesem Gesetz, soweit gesetzliche Vorschriften fehlen oder eine abschließende Regelung nicht enthalten ist. Diese Vorschrift dokumentiert den Anspruch des OBG, Grundnorm der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr zu sein, soweit diese spezialgesetzlich nicht geregelt ist; maßgebend für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des OBG ist danach, ob „notwendige Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ vorliegen. Nach Abs. 3 nehmen die Ordnungsbehörden andere Aufgaben „nach den Vorschriften dieses Gesetzes insoweit wahr, als es durch Gesetz oder Verordnung bestimmt ist“. Dies bedeutet: Wird in einer Norm auf das OBG verwiesen, obwohl es nicht um Gefahrenabwehr geht, gilt gleichwohl das OBG, und seine Vorschriften sind anwendbar[4].

4

Gesetzgebungstechnisch ereignet sich in § 1 also Folgendes: Der Gesetzgeber kreiert für die Aufgabe nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr eigens einen besonderen Typ Behörde, nämlich „die Ordnungsbehörde“ (§ 3), welcher er die Aufgaben nach dem OBG zuweist und für die er Regelungen (auch) insoweit trifft, als andere Gesetzgeber (des Bundes oder Landes) Aufgaben der Gefahrenabwehr spezialgesetzlich formulieren (Abs. 2 Satz 1) bzw. dies unterlassen (Abs. 2 Satz 2). Schließlich bestimmt der Gesetzgeber, dass das OBG auch dann gilt, wenn Ordnungsbehörden nicht Aufgaben der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr wahrnehmen, soweit dies durch eine spezielle Norm bestimmt ist (Abs. 3).

2. Zuständigkeiten bei Gefahr im Verzug und Selbstverständnis der Ordnungsbehörden

5

Die allgemeinen örtlichen Ordnungsbehörden, nach § 3 die 396 Städte und Gemeinden, sind gemäß § 6 ferner zuständig bei Gefahren im Verzug, in denen die eigentlich zuständige Behörde nicht rasch genug reagieren kann (Recht des ersten Zugriffs).

6

Das hat Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Gemeinden als allgemeine örtliche Ordnungsbehörden. Eine gute Ordnungsbehörde wird auf alle Entwicklungen im öffentlichen Raum der Gemeinde ein wachsames Auge haben. Sie wird auch Entwicklungen auf Feldern beobachten, auf denen sie nicht direkt zuständig ist, sondern z. B. die Zuständigkeit des Kreises (etwa beim Bauordnungsrecht) gegeben ist. Sie wird sich allgemein darum kümmern, dass rechtswidrige Zustände nicht einreißen, dass keine Schwarzbauten errichtet oder Schwarznutzungen betrieben werden (§§ 1, 36 BauGB), dass keine wilden Müllkippen entstehen bzw. das Problem der alten Müllkippen im Außenbereich aufgegriffen wird[5], dass die Gewässer nicht verunreinigt werden[6], dass „wildes“ Baden, Campen etc. in privaten Kiesseen unterbleibt. Vor diesem Hintergrund wird sie nicht nur entsprechende Eingaben und Anzeigen von Bürgern an die zuständigen Fachbehörden weiterleiten und sich dabei auch selbst ein Bild von der Angelegenheit machen, im Wege der ordnungsbehördlichen Vorermittlung, sie wird vielmehr auch z. B. einen sachgerechten Außendienst im Sinne eines Ordnungs- und Sicherheitsdienstes einrichten (§ 13); keine gute Ordnungsbehörde kann vom „Schreibtisch allein“ aus agieren[7].

II. Absatz 1
1. Allgemeines

7

§ 1 Abs. 1 legt die Zuständigkeit der Ordnungsbehörden für die Gefahrenabwehr fest. Die Vorschrift enthält eine Aufgabenbeschreibung, keine Befugnisnorm, Letztere findet sich als ordnungsbehördliche Generalklausel zur Einzelfallregelung in § 14[8], hinsichtlich der Bekämpfung abstrakter Gefahren in § 25. Den Ordnungsbehörden stehen folgende Eingriffsgrundlagen zur Verfügung, nach dem Grundsatz der Subsidiarität in dieser Reihenfolge:

–Eingriffsgrundlagen in Spezialgesetzen, ggf. wiederum differenziert nach bereichsspezifischer Generalklausel bzw. Spezialermächtigung (§ 1 Abs. 2 Satz 1),

–bestimmte Spezialermächtigungen (sog. polizeiliche Standardmaßnahmen) nach dem Polizeigesetz (nur soweit in § 24 die entsprechenden Vorschriften für anwendbar erklärt werden),

–die ordnungsbehördliche Generalklausel zur Bekämpfung konkreter Gefahren im Einzelfall (§ 14), ggf. in Verbindung mit einer ordnungsbehördlichen Verordnung, die als Teil der objektiven Rechtsordnung zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gehört.

8

§ 1 Abs. 1 soll als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden können, soweit ein Eingriff in Rechte des Einzelnen nicht gegeben sei[9]. Allerdings fragt sich dann, ob überhaupt[10] eine Ermächtigungsgrundlage für ein behördliches Tätigwerden erforderlich ist[11]. Richtiger Ansicht nach bedarf es bei Handlungen, die jedermann erlaubt sind, keiner Rechtsgrundlage. Dies gilt auch für Handlungen, die zwar zur Gefahrenabwehr ergehen, aber keinen Rechtseingriff darstellen, wobei stets sehr sorgfältig zu prüfen ist, ob ein Eingriff vorliegt[12]. Beispiele: die ordnungsbehördliche oder polizeiliche Aufklärungsarbeit, Kampagnen zur Verkehrssicherheit, Verkehrserziehung der Kinder etc.[13] Eine ganz andere Frage ist, ob Vorschriften außerhalb des Ordnungs- und Polizeirechts derartige Tätigkeiten verbieten bzw. ob beschränkende Rechtsvorgaben existieren, etwa solche haushaltsrechtlicher Art.

9

Der in Abs. 1 legaldefinierte Begriff der „Gefahrenabwehr“ ist im Zweifel auch für die Auslegung anderer gesetzlicher Regelungen zur Gefahrenabwehr maßgeblich[14]. In § 14 ist eine konkrete Gefahr gefordert. In §§ 25 ff., bei der ordnungsbehördlichen Rechtsverordnung, geht es dagegen um abstrakte Gefahren, wobei an dieser Stelle schon anzumerken ist, dass die Unterschiede häufig verkannt, die Anforderungen an das Vorliegen abstrakter Gefahren mit jenen zur konkreten Gefahr verwechselt werden[15].

2. Begriff der „Gefahr“

10

„Gefahr“ ist der zentrale polizei- und ordnungsrechtliche Rechtsbegriff. Er ist der grundlegende „Wertungsbegriff“[16] der Eingriffsverwaltung. Die Abwehr von „Gefahren“ ist zentrale Aufgabe der Ordnungsbehörden.

11

Der Gefahrenbegriff ist ein Instrument zur Steuerung von Entscheidungen unter Ungewissheitsbedingungen (Bewältigung von Ungewissheit)[17] und hat als solches den objektivierten[18] Wissenshorizont des konkreten Organwalters (des Gefahrenabwehrorgans) zugrunde zu legen[19]. Es geht bei der Feststellung einer Gefahr um eine Prognose, nicht um Gewissheit. Gewissheit gibt es nicht einmal, wenn schon eine Störung eingetreten ist[20].

12

Eine „Gefahr“ liegt vor, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein ordnungsrechtlich geschütztes Rechtsgut schädigen wird[21].

 

13

Entscheidend ist die Beurteilung ex ante, zum Zeitpunkt des behördlichen Einschreitens, nicht nach Abschluss der Maßnahme[22]. Grundlage ist eine gerichtlich voll überprüfbare Prognose[23], die auf Tatsachen, Erfahrungswissen sowie wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen nach allgemeiner Lebenserfahrung aufbaut. Entscheidend ist, ob der äußere Anschein eines Vorganges bei pflichtgemäßer Prüfung die Auffassung der Ordnungsbehörde berechtigt erscheinen lässt, dass der weitere Ablauf des Geschehens eine ordnungsbehördliche Gefahr in sich birgt (normativ-subjektiver Gefahrbegriff)[24]. Es handelt sich um Entscheidungen unter Ungewissheit, in Risikolagen. Polizeiliches und ordnungsbehördliches Handeln steht typischerweise unter faktischem Problemdruck und knüpft an unvollständiges Wissen an[25]. Es kommt auf die ex-ante-Beurteilung eines verständigen, vernünftigen Beobachters in der Situation des konkreten Organwalters an[26].

Das Urteil ist und bleibt deshalb immer zunächst ein subjektives; in der normativen Anknüpfung und Wertung bleibt man aber selbstverständlich nicht bei einem konkreten, subjektiven Organwalter stehen, sondern dessen Urteil wird gewissermaßen verobjektiviert: Es gilt die Prognoseentscheidung eines gewissenhaften, besonnenen und sachkundigen Organwalters, welcher nach Art. 33 Abs. 4 GG ein Beamter sein wird[27]. Deswegen ist die Schein- oder Putativgefahr auch keine Gefahr im Rechtssinne, die Anscheinsgefahr dagegen sehr wohl[28].

Hat der zur Gefahrenabwehr berufene Organwalter die Lage bis zum tatsächlichen Abschluss seines Einschreitens durch den nicht mehr rückgängig zu machenden Vollzug – „ex ante“ gesehen – zutreffend eingeschätzt, durfte er mithin bis zum Abschluss seines Einschreitens vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne eines hinreichend wahrscheinlichen Schadenseintritts ausgehen, wird die getroffene Maßnahme nicht deshalb im Nachhinein rechtswidrig, weil die Prognose „ex post“ betrachtet erschüttert wird[29]. Insofern löst sich der lange sehr theoretisch geführte Streit um die Richtigkeit „des“ (angeblichen) subjektiven bzw. objektiven Gefahrenbegriffs[30] auf.

14

Von der ex-ante-Beurteilung bei der Polizeipflichtigkeit (Primärebene) zu trennen ist die ex-post-Sicht bei der Kostentragung (Sekundärebene): Es wäre rechtsstaatlich z. B. unzulässig, dem bloßen (erwiesenermaßen) Verdachtsstörer die Kosten aufzuerlegen (vgl. auch §§ 19, 39)[31]. Die Kosten für Gefahrerforschungsmaßnahmen trägt daher die Behörde, wenn der Gefahrenverdacht nachträglich widerlegt wird und der (Verdachts-)Störer die den Verdacht begründenden Umstände nicht zu verantworten hat[32]. Im Übrigen ist auch alles andere als eindeutig geklärt, ob und inwieweit es ein rechtlich zwingendes Junktim zwischen der Störerinanspruchnahme auf der Primärebene und dem Adressaten eines Kostenerstattungsbescheids auf der Sekundärebene gibt[33].

15

Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet: Die Umstände müssen den Schadenseintritt in überschaubarer Zukunft befürchten lassen[34]. Der klassische Gefahrenbegriff ist insoweit durch die rechtlich relevante Erwartung gekennzeichnet, dass aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden.[35]

16

Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein „Besorgnispotenzial“[36]: Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht biete keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu begegnen. Die Befugnisse und Ermächtigungen der Verwaltungsbehörden und der Polizei umfassten Vorsorgemaßnahmen nicht ausdrücklich. Die entsprechenden Vorschriften ließen sich aber auch nicht in diesem Sinne erweiternd auslegen, indem der Exekutive eine „Einschätzungsprärogative“ in Bezug darauf zugebilligt werde, ob die vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer abstrakten Gefahr rechtfertigten. Eine solche Einschätzungsprärogative sei dem in Generalklauseln gefassten allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr fremd[37].

17

Je höherwertig und bedeutsamer das Schutzgut, umso niedriger sind die an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellenden Anforderungen. Je größer das Ausmaß des möglichen Schadens, umso geringer die Anforderungen an die zeitliche Nähe bzw. Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts; je geringer der mögliche Schaden, umso höher die Anforderungen an Nähe und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (differenzierter Wahrscheinlichkeitsmaßstab)[38]. Drohen Lebens- bzw. schwerwiegende Gesundheitsgefahren, reicht bei der positiven Prognose eine entfernte Schadenswahrscheinlichkeit[39]. Dies spielt z. B. bei behördlichen Warnungen bzw. Empfehlungen in Bezug auf bestimmte Lebensmittel oder andere Konsumgegenstände eine besondere Rolle, unabhängig von der Frage, ob und welche konkreten Ermächtigungsgrundlagen gegeben sein müssen[40].

Es kommt auf die Wertungen und Vorgaben des Sonderordnungsrechts an. Der Grundwasserschutz z. B. ist so überragend wichtig, dass eine Gefährdung (fachgesetzlich) nicht in jedem Fall voraussetzt, dass eine unmittelbare Gefährdung des Trinkwassers festgestellt wird. Es genügt, dass der Wasserhaushalt beeinträchtigt ist; die konkrete Gefährdung menschlichen Lebens ist nicht Voraussetzung für ein behördliches Einschreiten[41].

Die hinreichende Wahrscheinlichkeit bemisst sich nach normativen, nicht nach statistischen Kriterien[42].

3. Störung

18

Ist der Schaden bereits eingetreten, spricht man von einer Störung. Auch diese berechtigt – erst recht – zum Einschreiten. Störung ist die Gefahr, die sich realisiert hat, indem das Schutzgut verletzt ist. Hauptaufgabe der präventiv handelnden Ordnungsbehörden nach § 1 OBG ist indes die Abwehr von Gefahren, nicht die Ahndung von Verstößen gegen Rechtsvorschriften. In der Störung wird in der Regel jedoch zugleich eine fortwährende und fortwirkende Gefahr liegen, und die Abwehr dieser in die Zukunft wirkenden Gefährdung gehört zur Aufgabe der Gefahrenabwehr nach § 1 Abs. 1. Die Störung ist daher kein aliud zur Gefahr, sondern vielmehr eine besonders intensive, realisierte und gleichzeitig fortdauernde Gefahr. Eine Störung, die fortdauert, ist stets eine konkrete Gefahr[43]. Dabei ist ausreichend, wenn aus der Sicht des handelnden Beamten bei verständiger Würdigung der Sachlage eine fortdauernde Beeinträchtigung zu erwarten ist[44]. Die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten richtet sich nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz.

4. Schaden

19

Schaden ist, positiv, als eine Verschlechterung des bestehenden Zustandes durch von außen kommende regelwidrige Einflüsse zu beschreiben: „Eine Verbesserung des Normalzustandes wäre damit nicht mehr Abwendung eines Schadens oder – anders ausgedrückt – Gefahrenabwehr, sondern ginge in das Gebiet der Wohlfahrtspflege über, wozu eine besondere gesetzliche Ermächtigung gegeben sein müßte (z. B. Bekämpfung der Verunstaltung, Regelung des Wettbewerbs, landwirtschaftliche Förderung)“[45].

20

Belästigungen, bloße Nachteile, Unbequemlichkeiten, überhaupt aus dem Normalbereich herausfallende besondere (nur subjektive) Empfindlichkeiten sind nach dem OBG nicht als Schaden anzusehen und eröffnen daher den Anwendungsbereich der allgemeinen Gefahrenabwehr nach dem OBG nicht. Mitunter versuchen Private, Nachbarstreitigkeiten und sonstige im Kern private Auseinandersetzungen (kostenlos) über die Ordnungsbehörden zu führen; neben der Subsidiarität[46] steht dem auch die vorbezeichnete Schwelle entgegen. Die Abgrenzung zwischen Schaden und Belästigung kann schwierig sein. Dabei sind immer die Entscheidungen bzw. Wertungen des jeweils einschlägigen Sonderordnungsrechts in den Blick zu nehmen, beim Thema Lärm z. B. ist zu prüfen, ob es um anlagen- oder verhaltensbezogenen Lärm geht und ob die entsprechenden Vorschriften (Bundes- bzw. Landes-Immissionsschutzgesetz) Regelungen bzw. erkennbare Leitwertungen enthalten. Das spezielle Gefahrenabwehrrecht knüpft mitunter an Belästigungen an, wenn etwa in § 33a Abs. 2 Nr. 3 GewO bestimmt ist, dass die Schaustellererlaubnis zu versagen ist, wenn erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen für die Allgemeinheit zu befürchten sind (Nichtvereinbarkeit mit dem öffentlichen Interesse).

5. Weitere Ausprägungen des Gefahrbegriffs im Rahmen von § 1 Absatz 1

21

Im Zusammenhang mit dem Begriff der Gefahr werden seit Jahrzehnten mitunter Begrifflichkeiten und Formulierungen verwendet, die mit dem zentralen Merkmal der polizei- und ordnungsrechtlichen Prognoseentscheidung zusammenhängen, indes theoretisch wie praktisch z. T. eher Verwirrung stiften als erkenntnisfördernde Funktion haben.

22

Anscheinsgefahr: Stellt sich nachträglich heraus, dass eine Gefahrenlage nicht bestand, durfte die Behörde aber bei verständiger Würdigung der objektiven Anhaltspunkte eine Gefahrenlage annehmen (äußerer Anschein einer Schutzgutsgefährdung), spricht man von einer „Anscheinsgefahr“. Diese Bezeichnung ist freilich ungenau und eher verwirrend, da es bei der „Gefahr“ per definitionem um eine Prognose geht. Die „Anscheinsgefahr“ ist daher, was heute im Ergebnis wohl eindeutig h. M. sein dürfte, nichts anderes als eine „Gefahr“ im ordnungsrechtlichen Sinne[47]. Die auch ansonsten (Verhältnismäßigkeit, Störerauswahl etc.) nicht zu beanstandende Gefahrenabwehrmaßnahme bei Vorliegen einer Anscheinsgefahr ist rechtmäßig[48], wobei zu Recht gefordert wird, dass auf die Sichtweise eines fähigen, sachkundigen und besonnenen Beamten abzustellen ist[49]. Grenzfälle sind jene, in denen fraglich ist, ob jemand durch sein Verhalten die Prognose der hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Schädigung rechtfertigte. Als Beispiel wird folgender bekannter, in der polizeilichen bzw. ordnungsbehördlichen Praxis sicher nicht oft vorkommender Junglöwenfall genannt[50]:

A, „Halter“ eines „Junglöwen“, kommt von einem kurzen „Spaziergang“ mit dem Löwen „an der Leine“ in einem „öffentlichen Park“[51] zurück und hört im Radio, dass die Polizei vor einem frei herumlaufenden Löwen warne. Er vermutet, dass jemand seinen Löwen gesehen und die Polizei alarmiert hat. A ruft deshalb bei der Polizei an und „erläutert die Situation“(?). Da die Polizei bei ihrer Suche keinen anderen Löwen gefunden hat[52], geht auch sie von der Vermutung des A aus und beendet den Einsatz. A soll die Kosten des Einsatzes zahlen.

Allgemein wird hierzu etwa vom OVG Hamburg[53] gesagt, bei einem polizeirechtlichen Vorgehen im Falle einer Anscheinsgefahr dürfe die Polizei zwar gegen denjenigen einschreiten, der nach ihrem Kenntnisstand beim Eingreifen dem Anschein nach Störer sei; auf Erstattung der Kosten eines unmittelbar ausgeführten Polizeieinsatzes könne sie ihn jedoch nur in Anspruch nehmen, wenn er bei rückschauender Betrachtung nach Aufklärung des Sachverhalts tatsächlich die Anscheinsgefahr (gemeint ist die Gefahr) veranlasst habe und diese zu verantworten habe[54]. Ebenso entscheiden die nordrhein-westfälischen Gerichte[55], etwa in dem Fall, dass jemand gegenüber einem Bekannten den dringenden Eindruck erweckt, Suizidabsichten zu haben: er haftet dann für die Kosten für das Öffnen der Tür und für das Einsetzen eines neuen Schlosses (bei Abwesenheit)[56]. Eine strukturell sicher ähnliche Betrachtungsweise gilt nach der Rechtsprechung des OVG zu den vorläufig adressatlosen Sofortvollzugsmaßnahmen (§ 55 Abs. 2 VwVG, Ersatzvornahme, Sicherstellung, Realakte)[57].

23

Scheingefahr: Bei einer Scheingefahr (oder Putativgefahr) fehlt es (im Unterschied zur Anscheinsgefahr) an einer berechtigten objektiven Prognose: Die Behörde bzw. der handelnde Beamte nimmt (subjektiv) zu Unrecht und ohne vernünftigen Anlass – also vorwerfbar irrig[58] – eine Gefahr an; ein „objektivierter Beamter“[59] hätte in der gleichen Situation, mit den gleichen Kenntnissen eine Gefahrensituation nicht angenommen. Die Voraussetzungen zum ordnungsbehördlichen Einschreiten liegen dann nicht vor, die Maßnahme ist materiell rechtswidrig.

24

 

Latente Gefahr: Von dieser wird (bzw. wurde) zum Teil gesprochen, wenn eine zunächst nicht gefahrenbegründende Lage durch Hinzutreten weiterer Umstände zu einer Gefahr mutiert[60]. Früher wurde in diesem Zusammenhang recht stereotyp auf den „Schweinemästerfall“[61] bzw. auf den „Ahnenbrühefall“[62] hingewiesen[63]. Gerade diese Fälle zeigen freilich: Die Kategorie ist verwirrend und hat ihren „Anwendungsbereich“ verloren[64]: Aus allem und jedem kann irgendwann und irgendwie möglicherweise einmal eine „Gefahr“ werden, und der Nachweis steht aus, weshalb eine „Lage“ vor einem möglicherweise gefahrbegründenden Ereignis maßgeblich für die konkrete Subsumtion unter den Gefahrbegriff sein könnte. Für die Frage der Eröffnung ordnungsbehördlichen Handelns (wie auch für den Eingriff) kommt es auf die „Gefahr“ an, unabhängig davon, ob diese zuvor „latent“ vorhanden war[65]. Der „potentielle“ Störer, etwa ein emittierender landwirtschaftlicher Betrieb im Außenbereich, kann und muss sich gegen eine heranrückende Bebauung mit der vorbeugenden Unterlassungsklage zur Wehr setzen[66]. Im „Ahnenbrühefall“ lag der eigentliche Fehler bei der kommunalen Bauleitplanung bzw. der wasserrechtlichen Fachplanung: Zu konfligierenden Nutzungen solchen Kalibers – Friedhof und Wasserwerk, also Einrichtungen öffentlicher Träger, in unmittelbarer Nachbarschaft – darf es nach Wasser- und Bauplanungsrecht nicht kommen. Derartige raumrelevante Planungen sind mit den Instrumenten des Planungsrechts weit „vor“ der Sphäre des Ordnungsrechts abzuarbeiten. Freilich wurden das Planungsrecht und die steuernde Funktion von Gebietsplanungen[67] auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer vollen Bedeutung entwickelt und in der (kommunalen, § 1 BauGB) Verwaltungspraxis zur Anwendung gebracht; lange „regierte“ nur das Ordnungsrecht[68]. Ein weiteres Argument gegen die Anerkennung einer eigenständigen Kategorie der angeblich latenten Gefahr kommt hinzu: Es ist zu befürchten, dass Nichtstörer ohne eigenes Zutun rechtswidrigerweise zu Störern gemacht werden[69], weil die einschlägigen Kategorien nicht genügend getrennt werden. So wird denn heute auch in den modernen Polizeirechtslehrbüchern darauf hingewiesen, dass die vorausschauende Konfliktvermeidung bzw. -lösung über das BauGB bzw. das BImSchG zu erfolgen habe und sich die polizeirechtliche Kategorie als Relikt einer Epoche noch ohne Planung damit erledigt haben dürfte[70].

25

Ähnlich verhält es sich schließlich mit der zum Teil zu hörenden Behauptung, es gebe eine abstrakte oder allgemeine Gefahr als Bezeichnung und eigene Kategorie bei der gefahrenvorbeugenden Tätigkeit (insbesondere der Polizei). Für die gefahrenvorbeugende Tätigkeit bedarf es eigener Rechtsgrundlagen, die gerade im Hinblick darauf, dass Eingriffsbefugnisse mitunter weit vor der polizeilichen Gefahrenlage angesetzt werden, verfassungsgemäß sein müssen. Einer eigenen dogmatischen Kategorie bedarf es jedenfalls insoweit nicht, sie würde nur Unklarheit in das Gefahrenabwehrrecht bringen, zumal die Begriffe „abstrakte“ und „allgemeine“ Gefahr im Rahmen der Gefahrenabwehr schon längst besetzt sind[71]: Die abstrakte Gefahr ist Voraussetzung für den Erlass ordnungsbehördlicher Verordnungen nach §§ 25 ff.[72]