Theatergeschichte

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1.2 Zur Frühgeschichte der griechischen Tragödie

Man muss sehr genau benennen, was vom Beispiel Griechenland zu erwarten ist, wenn es prononciert in den Mittelpunkt gestellt wird. Aufgrund einer besonders guten Material­lage scheint neben der Geschichte des Theaterbaus die Institutionalisierung einiger Theaterformen jener Aspekt von Theaterhistoriografie zu sein, der zur traditionellen Überrepräsentanz griechischen Theaters im Diskurs geführt hat.

In der Literatur findet sich eine Vielzahl von philologischen und kulturhistoriografischen Theorien zur Tragödie, die einander widersprechen oder ergänzen. Bis heute [<< 33] besteht die Gefahr, modellhafte, plausible Erklärungsansätze zu verallgemeinern und einzelne Sachverhalte als die entscheidenden überhaupt auszugeben. Aber über die Elemente, die in der Tragödie zur Geltung kommen, besteht weitgehend Einigkeit. Dies sind alltägliche szenische Vorgänge (Machtdemonstrationen, Vereinzelung des Sprechers), personifizierbare schöpferische Aktivitäten (Rhapsoden, Thespis), religiös-rituelle Zusammenhänge der Festkultur, darunter Dionysosverehrung, Heroenkult, Totenklage und Mysterienpraxis.30

Bestimmte szenische Vorgänge des Alltags werden zu allen Zeiten recht direkt in solche überführt, die Theater genannt werden können. Machtdemonstrationen auf der Handlungsebene von Tragödien stellen zum Beispiel Aktualitätsbezüge her, die Vereinzelung des Sprechers geschieht auch in der Heeres- oder der Volksversammlung. Was hier vor allem übertragen wird, ist der Gestus, das Wie des Handelns. Rhapsoden sind Allround-Schauspieler, Sänger und Sprecher, die auch mit Instrumenten umzugehen pflegen. Ihre Aktivitäten decken sich weitgehend mit denen, die man Thespis aus Ikaria nachsagt. Ein möglicher anteiliger Schöpfungsakt Thespis’ für die Tragödie wäre insofern begründbar, dass sie zwei Visionen vermittelt, zum einen den Blick des Helden auf sich selbst und zum andern den Blick des Chores auf ihn. Drei Nachrichten verweisen auf Thespis: Erstens eine Notiz in der parischen Marmorchronik, dem Marmor Parium, einer aus Paros stammenden hellenistischen Chronik, die in Fragmenten die Zeit von 1582 bis 298 beleuchtet, abgefasst etwa 263 v. Chr. Danach habe Thespis um das Jahr 534 in Athen das erste Mal ein Drama zur Aufführung gebracht.31

Zweitens lässt Aristophanes in seinen Wespen den Sklaven Xanthias sagen:

„Dionysos, nein, ist das ein Wirrwarr jetzt,

Als hätt ein Dämon uns das Haus verdreht!

Der Alte soff den ganzen Abend, ließ

Sich Flöte blasen, und vor lauter Lust

Und Jubel hört er gar nicht auf zu tanzen

Die alten Tänz, in denen Thespis glänzte:

Die heut’gen Tragiker, sagt er, seien Gimpel,

Er wolle gleich sie all zuschanden tanzen!“32[<< 34]

Drittens heißt es bei Themistios (317 – 388), Bezug nehmend auf Aristoteles, dass Thespis der Erfinder des Prologs und der Schauspielerrede gewesen sei.33

Es ist nachvollziehbar, dass literaturhistorische Untersuchungen nach einem logischen Erklärungszusammenhang forschen und zu der Behauptung tendieren, Thespis habe den Einzelschauspieler dem Chor gegenübergestellt sowie Prolog und Rhesis erfunden. Im Prolog hätte der Dichter, wahrscheinlich in Analogie zu den Homer-Rhapsoden, dem Publikum in Kürze die Thematik seines Vortrages unterbreitet. Vielleicht wären die einleitenden Worte von der Bitte um eine möglichst wohlwollende Aufnahme seiner Darbietung durch das Publikum begleitet gewesen. Joachim Latacz rundet seine Zusammenstellung der Thespis-Indizien mit dem Satz ab: „Sowenig wir infolgedessen auch von Thespis wissen: es genügt für die Vermutung, dass er tatsächlich der eigentliche Initiator der europäischen Tragödie gewesen ist“.34 Die Theaterhisto­riografie kann vielleicht ein Stück weit der Argumentation folgen, zumindest eine historische Person Thespis annehmen, die als Schauspieler agiert hat, aber die überkommenen Nachrichten erlauben keine sichere Antwort auf die Frage nach dem Auftreten eines sogenannten ersten Schauspielers. Dafür sind sie sämtlich zu jung. 422 v. Chr. erscheint der Name Thespis lediglich als Tänzer im Umfeld der Tragödie, im 3. Jahrhundert v. Chr. kommt die ungefähre Datierung 534 hinzu und erst im 4. Jahrhundert n.Chr. wird plötzlich die Erfindung des Prologs und der Schauspielerrede durch Thespis behauptet. Außerdem berichtet die parische Marmorchronik bereits für die Zeit von 581 – 561 v. Chr. von ersten dramatischen Aufführungen in Athen, sie seien komödiantischer Art gewesen. Dies verweist auf das Dionysos-Fest im Heiligtum des Lenaion. Dass man sie nur wegen einer stärkeren rituellen Bindung nicht Theater nennen dürfte, ist eine willkürliche Entscheidung.35 Wird also überhaupt ein logischer Zusammenhang zwischen den drei Nachrichten aus neun Jahrhunderten hergestellt, so könnte dieser ein Modell bezeichnen und wäre als solches wertvoll. Ein Modell abstrahiert vom konkreten Geschichtsverlauf zugunsten eines besonders leicht fasslichen und anschaulichen Konstrukts im Sinne von Erfindung, Schöpfung, Initiator, das in ein Entwicklungskonzept passt; es ist aber dem historischen Geschehen inkongruent. [<< 35]

1.2.1 Tragödie ohne Dionysos?

Die religiös-rituellen Zusammenhänge der Festkultur, die auf die Tragödie einwirkten, werden in den meisten Werken zur griechischen Tragödie, auch bei Joachim Latacz, gründlich dargestellt. Es geschieht dabei eine kulturhistorische Einbettung der Tragödie in Dionysosverehrung, Heroenkult, Totenklage und Mysterienpraxis. Völlig anders nähert sich Gerald F. Else dem Gegenstand. Er beschränkt das Phänomen Tragödie auf die Personen Thespis und Aischylos. Der Inhalt der ersten Tragödien sei der Handlungswelt des homerisch-epischen Sagenkreises entnommen. Es gebe keinen dionysischen Zusammenhang, außer dass die Tragödien anlässlich der städtischen Dionysien aufgeführt worden sind.36 Ein kurzer Weg führt von Homer über die Rhapsoden, die dessen Werke nicht nur rezitieren, sondern seine Figuren auch spielen, zu Thespis und Aischylos. Nicht Götter oder Dämonen, Dionysos oder Satyrn wurden von Schauspielern dargestellt, sondern Heroen der Epik, und zwar solche, für die normalerweise in Attika kein Kult bestand. Zweitens seien die gesprochenen Texte in den Tragödien durch den Logos geprägt, sie sind nicht nur „nicht-dithyrambisch“ und „un-dionysisch“, sondern sogar „anti-dionysisch“.37

1.2.2 Keine Tragödie ohne Dionysien?

Die wichtigsten rituellen Momente, die sich auch bei den Städtischen Dionysien seit Peisistratos weiterhin finden, sind sicher der Auszug aus der Stadt, die Prozession (pompé), irgendeine Art Auseinandersetzung, Kampf, Wettbewerb (agón), hier auch Opfer, sowie die triumphale Heimkehr (kômos; auch selbst Umzug, Umtrunk; vgl. Acharner des Aristophanes).38 Das Muster pompé, agón, kômos war für die Städtischen Dionysien mit einer Legende verbunden: An der Grenze Böotiens zu Attika lag das Dorf Eleutherai. In diesem Dorf hatten die Töchter von Eleuthiras gewohnt, die den Gott verachteten. Sie verfielen dem Wahnsinn und kamen erst wieder zur [<< 36] Vernunft, als ihr Vater einen Altar zu Ehren des Dionysos erbaute. Später gelangte das dort befindliche Bildnis nach Athen in das Dionysos-Heiligtum. In Erinnerung an diesen Vorgang wurde das Bildnis des Dionysos Eleuthereus vor Beginn des Festes der Städtischen Dionysien aus dem Tempel herausgenommen und

„[Pompé] aus der Stadt zu einer geheiligten Stätte in der Nähe der Akademie an der Straße nach Eleutherä gebracht. […] Das Geleit gaben dem Bildnis épheboi, welche Waffen trugen; ihnen folgte eine prächtige Prozession: voran die Opfertiere, dann unverheiratete Mädchen mit Körben voll Opfergerät auf dem Kopf und schließlich die Volksmenge, Männer und Frauen, Einheimische und Fremde, alle festlich gekleidet; die Reichen fuhren im Wagen, und viele von ihnen trugen Kränze oder Masken. Auf dem Marktplatz machte man halt, während ein Chor vor den Statuen der zwölf Götter auftrat. Alsdann nahm die Prozession ihren Weg zur Akademie.

[Agón] Das Bildnis wurde auf einem niedrigen Altar abgesetzt. Man sang Hymnen zum Preise des Gottes und opferte die Tiere. Das vorzüglichste Tier unter diesen war ein Stier, der im Namen des Staates dargebracht und in einer amtlichen Inschrift als ‚des Gottes würdig‘ bezeichnet wurde. [Das Tier wurde geschlachtet, gebraten und zerlegt], dann unter den offiziellen Vertretern des Staates verteilt […] Neben dem Stier gab es noch viele andere Opfer; auch der Staat lieferte einige, und andere wurden im Namen von Organisationen der Bürgerschaft oder einzelner Bürger dargebracht. Die Teilnehmer des Festes wurden außerdem mit Wein versorgt und ließen sich, wenn das Fest vorüber war, trinkend und scherzend an der Straße auf Ruhelagern von Efeu nieder.

[Kômos:] Bei Einbruch der Nacht kehrte die Prozession mit Fackeln in die Stadt zurück, doch anstatt das Bildnis des Dionysos in seinen Tempel zurückzubringen, trugen es die épheboi ins [Dionysos-]Theater und stellten es auf einem Altar in der Mitte der Orchestra auf, wo es bis zum Schluss des Festes verblieb.“39

 

Pompé, agón, kômos bilden ein Grundmuster, das keine Genese erklärt, aber strukturelle Kontinuität im Wandel der Ausprägungen zeigt. Im Opfer und im Fest-Agon, zwischen den beiden Teilen der Prozession, dem Ausbringen und Einholen, wird eine alljährliche Wiedergeburt sowohl des Gottes als auch der Festgemeinschaft zelebriert.40 Auch zu Ehren des zurückgekehrten Gottes bringt man Tieropfer dar. Zu denken ist dabei an den Stier, den der Sieger im Dithyrambenwettbewerb erhält und wah [<< 38] rscheinlich mit seinen Freunden im Festmahl verspeist.41 An den Tagen darauf findet der Komödienwettbewerb vor den Tragödienwettbewerben statt. Wie eng hängen Dionysien und Tragödie zusammen? Bilden die Dionysien nur den Anlass oder existiert eine innere strukturelle Verbindung?

Die Besonderheiten der Dionysosverehrung werden verständlich vor der diametral entgegengesetzten Weise, Apollon gegenüberzutreten, einem Gott, der die patriarcha­lische Ordnung demonstrativ sanktioniert, wie es die Orestie schildert. Die Wiedergeburt des Gottes Dionysos erfolgt in allen Dionysien durch seine Anwesenheit in Dingen wie dem Wein oder dem Opferstier. Die Wiedergeburt der Gemeinschaft geschieht durch die sinnliche Aufnahme des Weines oder der Opfer. Das festliche Gelage dient ebenso der Konfliktbewältigung in der Polis wie etwa die Volksversammlung. Apollon hingegen ist der Gott der Sühne, des Maßes, der Ordnung, der Sonne. Zu den ­Thargelia, einem zweitägigen Vorerntefest, das man am ersten Tag durch die Reinigung der Stadt begeht, werden zwei Männer als Pharmakoi (Arznei) aus der Stadt hinausgeführt. Einer entsühnt sie stellvertretend für die männlichen Bewohner, der andere stellvertretend für die Frauen. Einer trägt eine Halskette von schwarzen, der andere von weißen Feigen. Sie sind die Träger allen Übels der Stadt. Sie müssen bei ihrem Umzug durch die Stadt möglichst viele Punkte berühren, um allen Unheilsstoff aufzunehmen. Diese Männer werden mit Feigenruten und Meerzwiebeln geschlagen, dabei siebenmal auf die Geschlechtsteile, um die Übertragung des Übels auf kommende Generationen zu verhindern. Man jagt sie aus der Stadt, in der Frühzeit steinigte man sie, um Unheil von der Ernte abzuwehren. Apollon als Patron dieses Festes übernimmt die Funktion der Entsühnung.42 Dionysos, dem ein Stier geopfert wird, der er aber zugleich auch selbst ist, und der im Speiseopfer in die Feiernden übergeht, erscheint selbst als Teil einer egalitären Festgemeinschaft, präsentiert Fruchtbarkeit sinnlich. Apollon dagegen, für den geopfert wird, zu dem man Bittgänge unternimmt und der sich niemals selbst zum Verspeisen anbietet, steht über der Festgemeinschaft, präsentiert Macht spirituell. Das dionysische und das apollinische Beispiel verweisen auf zwei Arten des Umgangs mit dem Opfer, die für Festkultur von grundsätzlicher Bedeutung sind. Der Grad der Erhabenheit des jeweiligen Gottes gegenüber den ihm opfernden Menschen prägte zu allen Zeiten den Charakter der Rituale. Sie beruhen entweder auf Entsagung und Gottferne oder auf dem Genuss und Gottnähe. Für den Sozialisierungsprozess signalisiert die Ferne des Gottes eine höhere Abstraktionsleistung [<< 38] wegen des Abrückens vom Naturzyklus. Einem naturadäquaten Wiedergeburtsmotiv wird ein Unsterblichkeitsmotiv entgegengesetzt. Wenn die frühen Tragödien ihre Handlungswelt dem homerisch-epischen Sagenkreis entnehmen, muss es das Wiedergeburtsmotiv als dramaturgisches Prinzip sein, das sie an Dionysos bindet.

1.2.3 Dionysos in der aristotelischen Tragödienentstehungshypothese

Über 200 Jahre trennen Aristoteles vom Gegenstand, denn die Poetik wird auf die Jahre um 335 datiert. Im vierten Abschnitt (1449a) beschreibt der Autor die Entstehung der Tragödie wie auch der Komödie aus Improvisationen; die Tragödie entwickelte sich für ihn aus dem dithyrambischen Chorlied, die Komödie aus den Phallos-Liedern und -Umzügen, wie sie auch weiterhin noch in manchen Städten üblich seien. Danach entfaltet er sein eingängiges Modell:

„Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt. Was ferner die Größe betrifft, so gelangte die Tragödie aus kleinen Geschichten und einer auf Lachen zielenden Redeweise – sie war ja aus dem Satyrischen hervorgegangen – erst spät zu Feierlichkeit, und hinsichtlich des Versmaßes ersetzte der jambische Trimeter den trochäischen Tetrameter. Denn zunächst hatte man den Tetrameter verwendet, weil die Dichtung satyrspielartig war und dem Tanze näher stand; als aber der gesprochene Dialog aufkam, wies die Natur selbst auf das geeignete Versmaß.“43

Aristoteles betont hier die Aufführung gegenüber den Inhalten. Ihm ist es egal, ob sich in den Frühformen dionysosfremde Stoffe finden, solange das Satyrhafte, das ­dithyrambische Chorlied und der Tanz aufführungsseitig Ausgangspunkte bleiben. Einer wie auch immer erfolgten Einführung der Rede, die bei Else den problema­tischen einmaligen Schöpfungsakt der Tragödie begründet44, widerspricht Aristoteles nicht. Aber er bezeugt neben den Homer-Rhapsoden weitere Theaterformen, die die [<< 39] Tragödie beeinflusst haben können. Während eine literaturhistorische Argumentation die Heroenlegenden der Epen des Homer in den Vordergrund rückt, wird in einer kulturhistorischen Argumentation das von Aristoteles aufgeworfene Problem des Satyrhaften, Satyrischen (nicht zu verwechseln mit der Spätform Satyrspiel) ernst genommen.45

Der Zusammenhang zwischen dem Gott Dionysos und der Tragödie stellt sich dann her erstens über einen Gott nicht nur des Weines, sondern auch der Verwandlung, der Wiedergeburt und der Maske, der von den Ägyptern Osiris gleichgesetzt wurde, zweitens über den Dithyrambos, das „Herrscher-Dionysos-Lied“46, das Chorlied zu Ehren des Dionysos, das zum Wechselgesang Exarchon-Chor ausgebildet wird, und drittens über die Dionysien als Feste sowie speziell die Städtischen Dionysien als kultischer Rahmen für Dithyramben-, Komödien- und Tragödien-Wettbewerbe.47

Historisch war der Dithyrambos eine Hymne an Dionysos, von einem Chor gesungen. Etwa 50 Männer oder Knaben standen im Kreis um den Altar. Der Preis bei den Dithyramben-Wettbewerben war ein Stier. Höchstwahrscheinlich stiftete der Dichter, der ihn erhielt, den Stier für ein Festessen, an dem seine Freunde teilnahmen. Gleichzeitig war dies ein Opfer für den Gott. Der Dichter fungierte als Exarchon, als Vorsänger, Anführer. Bei den Städtischen Dionysien trug der Staat alle Ausgaben für die Dithyramben-Wettbewerbe bis auf eine Ausnahme: Der Dichter musste den Flötenspieler selbst bezahlen. Dies könnte ein Hinweis sein, dass er in der Frühzeit selbst Flöte gespielt hat und den Chor anführte. Er improvisierte die Zeilen und begleitete den Refrain mit seinem Flötenspiel. Er könnte deshalb ursprünglich der Priester gewesen sein, der den Dionysos darstellte. Wenn die Tragödie im Zusammenhang mit dem Dithyrambos entstanden sein sollte, wie Aristoteles es will, erklärt das Fest durchaus das „Tänzerische“ und das „Satyrhafte“, es ergäbe sich für die Tragödie vor Aischylos etwa folgendes Modell:

Die Tänzer betreten singend den Platz, die spätere Orchestra (Parodos).

Sie stellen sich um den Altar herum auf und singen das erste Standlied (Stasimon) – aber nicht bewegungslos.

Der Dichter erscheint, der den Gott oder einen Helden darstellt.

Er führt einen Dialog mit dem Chor und tritt danach ab.

Der Chor singt das zweite Standlied. [<< 40]

Der Dichter kehrt zum Beispiel als Bote zurück. Er bringt die Nachricht vom Kampf oder vom Tode des Helden oder des Gottes.

Alle zusammen singen ein Klagelied und verlassen damit den Platz bzw. die Orchestra (Exodos).

Der gemeinsame Auftritt der Tänzer und ihr gemeinsamer Abgang gemahnen strukturell noch an pompé und kômos, die Auseinandersetzung, der Tod, das, was verhandelt wird, von fern an den agón.48 Der kultische Zusammenhang ergibt sich aus dem Wechselverhältnis von Mythos und Ritus. Mythos meint den erzählerischen kollektiven Erfahrungsschatz, der historische und vorgestellte Ereignisse verknüpft, Ritus das Ausagieren, Darstellen, samt der Ordnung sich bezüglich des Mythos wiederholender Handlungen. Wenn Kult den Erzählfundus und den Vorgang vereint, so ergibt sich folgendes Fazit: Es werden eher rituelle als mythische Elemente aus dem städtischen Dionysoskult für die Tragödie entlehnt, weil vor allem der Umzug, der Opfergang und die Rückkehr, begleitet von Gesängen, im Einzug und im Auszug des Chores ihre Entsprechung finden.

1.2.4 Vom Diachronen zum Synchronen

Die umfassendste neuere theaterhistorische Untersuchung aller Annäherungsweisen an das Problem der Tragödie unternahm Theo Girshausen. Wertvoll wird seine Darstellung durch die konsequente Berücksichtigung der Vorannahmen und Ziele, die sowohl das Hinterlassen von Dokumenten in der Antike betreffen als auch die Einbettung der jeweiligen späteren Schulen in den wissenschaftlichen Diskurs. Die griechische (Regional)Geschichtsschreibung war patriotisch geprägt und besaß starke Affinitäten zu Darstellungsmustern des Mythos, denn dieser ist der Bericht vom Anfang. Ist in der Lokalgeschichte gesagt, „wo ein bestimmtes Geschehen begonnen und insbesondere, wer es initiiert, wer es ‚begründet‘ hat, ist die Arbeit getan. In der Angabe des Anfangsgrundes (aition) einer Entwicklung besteht das Erklärungsprinzip der Historiker – der Anfang begründet nämlich ihr Wesen und Prinzip (arche).“49 Das teleologische Konzept der aristotelischen Tragödientheorie strebt ebenfalls auf ein Letztes, Begründendes, auf Ursprünge, obwohl sich Aristoteles von den Lokalhistorikern unterscheidet. Er hält sich gerade nicht an das Diktat, genaue Umstände und [<< 41] den Namen des Begründers zu nennen. Er verzichtet in der Poetik auf eine ‚Erfindung‘ und dennoch sucht er den Ursprung. Nur tritt an die Stelle fehlender Quellen bei ihm „ausdrücklich das Hörensagen (akoe)“, das, was seit jeher anonym über „die Urzeit der Tragödie“ berichtet wurde. Er interpretiert Anfangsgründe, aus denen philologische und kulturwissenschaftliche Theorien elaboriert werden, die Girshausen einzeln befragt, bevor er zu folgendem Schluss kommt: Wenn auch eine attische Entstehung der Tragödie unglaubhaft erscheint, jene vom Satyr-Dithyrambos der Peloponnes mehr Anhänger besitzt, so sind doch beide vom „lokalpatriotischen Interesse“ geprägt. Vor allem von Aristoteles kann kaum etwas aufrechterhalten werden. Wie kommt die Tragödie vom Peloponnes (Korinth) nach Athen? Reicht Thespis als Stützpfeiler der Legende? Das „Problem dieses missing link zwischen Entstehungs- und Vollendungsort“ bleibt bestehen. Wenn nun Historiker die eine oder andere These zu beweisen versuchen, laufen sie Gefahr, „das antike Geschäft der Historisierung des Mythos einfach fortzusetzen“. Alle „Renaissancen der antiken Kultur hatten stets ein zeitspezifisches Motiv“. Philologen und Anthropologen hofften „am paradigmatischen Fall der Antike Erklärungen zu bieten für das Entstehen der Kultur“ und „über ihre Zukunft“.50 Die methodischen Defizite der Ansätze sind ein Ausdruck des Scheiterns ihrer grundlegenden Erkenntnisintention. Philologie und Anthropologie geraten an ihre Grenzen, weil vom Überlieferten auf immer Älteres, Ältestes geschlossen wird, um die Wirkursachen zu finden. So kamen die Kernaussagen zustande: „Arion in Korinth, Thespis aus Ikaria, Natur-, Seelen-, Toten- und Heroenfeiern, Vegetationsritus – mit all diesen Formeln sollte die Frage nach der Urform der Tragödie beantwortet werden.“ Es sind dies positivistische Anschauungen des 19. Jahrhunderts. Das Ziel war immer eine gesetzmäßige Entwicklung in Phasen, eine stringente Beweisführung. Von dieser Argumentationsfigur aus fällt nun die methodische Grenze der Hypothesen auf: Sie können keine bruchlosen Kontinuitäten zwischen Vorformen und reifen Formen von Theater aufzeigen. Überall fehlt stets „das Verbindungsglied“. Jede Theorie reicht bis „an die Stelle, wo sich der Spalt auftut“ zwischen „den Formen des Theaters und den ihnen vorausliegenden ‚Vorformen‘“.51 Wie Kultur zustande kommt, bleibt ungeklärt.

 

Deshalb rückt Girshausen vom entwicklungsgeschichtlichen Ansatz ab, will lieber antike Kultur als eine innere Einheit, ein System begreifen, das aus sich heraus als solches zu verstehen ist. Im Wechsel vom Diachronen zum Synchronen geht es dann nur um das Resultat als kohärenter Zustand. Auch synchron kann über jeweils frühe [<< 42] und früheste Formen von Theater gesprochen werden. Aber Girshausen schränkt auf die institutionalisierten Formen von Theater ein, ebenso auf die Annahme, Theater überhaupt etabliere sich erst mit der Tragödie. Lässt man dies beiseite, kann man Girshausens Argumentation, man müsse die Tragödie mit soziologischem Blick als „absolute soziale Tatsache“ apostrophieren, folgen. Die Theaterform Tragödie „setzt sich als eigener soziokultureller Zusammenhang allen anderen gerade entgegen“.52 Die Differenz ist formbildend. Der Autor untersucht in seinem synchronen Ansatz, jeweils sui generis, die Institutionen Kult, Polis und Theater, die sich in ihrem Zusammenhang gegenseitig erhellen.

Ob nun die Heroenlegenden der Epen des Homer in den Vordergrund rücken oder das von Aristoteles aufgeworfene Problem des Satyrhaften, Satyrischen samt den Mythen über die Leiden des Dionysos, keine Entwicklungstheorie ist schlüssig. Weder die Vermutung, der erste Schauspieler sei der ehemalige Homer-Rhapsode, jetzt Dichter, vielleicht mit Namen Thespis, ein Prologsprecher, der dann in der Rhesis dem Chor gegenübertritt, lässt sich hinreichend erhärten, noch die Annahme, der erste Schauspieler sei älter, nämlich identisch mit dem Vorsänger (Exarchon) der dithyrambischen Männerchorlieder. Kommt es nur auf die Institutionalisierung von Theater an, so kann diese am Beispiel Tragödie synchron zum Stand der Ausbildung anderer Institutionen ermittelt werden. Dies bedingt einen Theaterbegriff, der zwischen Ritus und Theater scharf, das heißt willkürlich trennt. Wird hingegen von szenischen Vorgängen gesprochen, die sich in einem Kontinuum zwischen Erscheinungen des Alltags (Lebenstheater) und hoch spezialisierten Formen (Kunsttheater) bewegen und differenzieren lassen, so sind Rituale eingeschlossen, denn auch sie können von Zuschauenden als Theater bezeichnet werden. Nach einem solchen nicht auf die Institution beschränkten Thea­terbegriff sind Rhapsoden und Prologsprecher ebenso wie der Exarchon Schauspieler und beeinflussen maßgeblich die Tragödie. Die Wirkung von Theater ist nach solcher Auffassung nichts, was nur in die Gesellschaft ausstrahlt, sondern eine Wechselbeziehung, in der Gesellschaft und Theater Darstellungsmodi austauschen. [<< 43]