Theatergeschichte

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2.2 Tropentheorie und geistliche Spiele

Nachdem das Christentum am Ende des 4. Jahrhunderts zur Staatsreligion erhoben worden war, nahm der Einfluss christlicher Weltsicht auf Darstellungen und Spiele zu, Einschränkungen und Verbote erhielten mehr Gewicht. Die Spiele galten nach ­Tertullian und anderen Kirchenlehrern als gottfern, weil sie aus heidnischer Zeit stammten und zudem ihre körperlichen Reize körperliche Leidenschaften auslösten, was eine Abwendung vom Glauben zur Folge hatte. Dennoch genügte ein Verweis auf das Jüngste Gericht bei weitem nicht mehr, alle Bedürfnisse nach szenischen Ereignissen zu befriedigen. Diese müssten dann allerdings liturgienah und unkörperlich sein. Teile der Messe zu veranschaulichen, um den neuen Glauben zu verbreiten, lag sowieso nahe, denn das den Laien unverständliche Latein wurde nur partiell übersetzt, sodass die Kommunikation in den Jahrhunderten der Christianisierung auf der Verbindung dreier Komponenten beruhte: 1. den rituellen Handlungen der Priester, einschließlich der hervorhebenden Momente, wie Gesang, Musik, Kleidung und der Verwendung dinglicher Attribute, zum Beispiel Weihrauch oder Bischofsstab; 2. der bruchstückhaften Kenntnis des christlichen Glaubens aufseiten der Laien; sowie 3. auf deren Befangenheit in tradiertem Brauchtum und Götterglauben. Aufgenommen und angenommen wurde, was dem Eigenen ähnlich war und deshalb angepasst werden konnte. Ausgegrenzt blieb, was den [<< 89] eigenen Horizont überstieg. In dieser Phase zwar errungener, aber noch zu stabilisierender kirchlicher Macht stellte sich die Frage nach Spielen neu, jetzt nach geist­lichen. Denn es traten noch einzelne istriones, ioculatores, Skopen und Skalden18, Mimen und Schauspieler auf (Kap. 2.5, Seite 122), außerdem war die gesamte Festkultur der zu missionierenden Stämme und Völker szenisch geprägt. Tacitus berichtet nicht nur über die Umzüge der Nerthus, sondern auch von Scheinkämpfen und Opferritualen.19 Man musste sowohl über die Messe hinaus aufklären als auch die überkommenen szenischen Vorgänge durch christliche ersetzen. Dieser Funktionszusammenhang führte am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Konzentration der literaturwissenschaftlichen Forschung auf die im beginnenden Mittelalter neuen Hilfsmittel im Kampf um die Köpfe und Herzen der Uneinsichtigen oder neu Bekehrten. Die Osterfeiern und Osterspiele entsprachen in ihrer Verbindung von Liturgie (Text) und Prozessionswesen (Vorgang) in hervorragender Weise einem Entwicklungsmodell, einer in sich kohärenten Tropentheorie.20 Dass heutige Kenntnisse über eine mögliche Entstehung geistlicher Spiele aus dem Ostertropus nur bis in das 10. Jahrhundert zurückreichen, erschien als Glücksfall, weil dadurch eine erwünschte ‚zweite Geburt‘ von Theater möglich wird: nach der südosteuropäisch-antiken Kulturleistung nun eine mittelalterlich-westeuropäische.

2.2.1 Osterliturgie und Osterfeier

Tropen sind erzählende und damit einfach übersetzbare Einschübe, die die Liturgie thematisch erweitern. Sie entstanden, indem am Ende des ersten Teils der Messe auf dem letzten ‚a‘ des Halleluja lange Tonfolgen, Melismen, gesungen wurden. Da diese schwer notierbar waren, unterlegte man ihnen Texte, die Tropen. Vor allem der Tropus Quem quaeritis21, der sich nach 900 verbreitete und den Besuch der drei Marien am Grabe, die visitatio sepulchri, beinhaltet, bietet ein Höchstmaß an Faszination, weil er Wunder, Geheimnis und Glaube verbindet. Die Frage des Engels oder der beiden [<< 90] Engel an die drei Marien: „Wen sucht ihr im Grab, ihr Christinnen?“ beantworten die Marien mit „Den gekreuzigten Jesus von Nazareth, ihr Himmelsbewohner“. Engel: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er es vorhergesagt hat, geht, verkündet, dass er vom Grabe auferstanden ist.“ Das Wunder ist die Auferstehung selbst, das Geheimnis, wie sie wohl vonstatten gegangen sein mag. Der Glaube entsteht daraus durch die Identifikation der Zuschauenden mit den drei Marien, die kommen, um den Leib des Herrn zu salben und um die Grabriten zu vollziehen, ihn aber nicht finden. Dieser Tropus befand sich ursprünglich in der Ostersonntagsmesse, wurde dann aber in die Ostermatutin, in die nächtliche Auferstehungsfeier, vorverlegt und dort zwischen das letzte Responsorium und das die Feier abschließende Te Deum eingefügt, an eine Stelle, die sich für eine erweiternde Ausgestaltung besonders anbot. Diese Umstellung geschah in der Regularis Concordia aus Winchester (um 970), einer Sammlung geistlicher Verordnungen der englischen Benediktiner. Zugleich wurde dort eine exakte Anleitung zur szenischen Gestaltung der visitatio sepulchri vorgegeben: Einer der Diakone sollte, bekleidet mit der Alba und mit einem Palmzweig in der Hand, sitzend die Rolle des Engels spielen. Drei andere näherten sich, als Marien in weiße Mäntel gekleidet und mit Räuchergefässen in den Händen, mit dem Gestus des Suchens dem Grabe. Sodann wurde der Dialog „Quem quaeritis…“ gesungen und anschließend die Botschaft der Auferstehung durch die drei Marien an den Chor übermittelt.

Nun rief der Engel die Marien, die den Ort wieder verlassen wollten, noch einmal an das Grab zurück, zog den Vorhang beiseite und ließ sie in das leere Grab sehen, in dem nur noch das Leinentuch lag, in das ein Kreuz (als Zeichen für Christus) eingewickelt war. Die Marien stellten ihre Räuchergefässe ab, hoben zum augenfälligen Beweis, dass das Grab leer ist, das Tuch empor und zeigten es, begleitet von erneutem Gesang einer Antiphon, den Zuschauenden. Darauf stimmte der Priester das Te Deum an, den die Matutin abschließenden Lobgesang. Das war zunächst ein Ritual nur für Geistliche. Das Szenarium der Regularis Concordia hatte sich bereits Ende des 10. Jahrhunderts im gesamten westkirchlichen Raum verbreitet. Insbesondere der Benediktinerorden trug zur Durchsetzung dieser neuen liturgischen Praxis bei.

Der Gang der Marien zum Grab liegt an der Peripherie des liturgischen Ritus und eröffnet deshalb Möglichkeiten des Spiels. Ritus und Feier sollen sich nach Carl Lange in drei Stufen allmählich zum Spiel entfaltet haben: 1. Gespräch der Marien mit den Engeln am Grabe (Grabesszene; visitatio); 2. Grabesszene und Wettlauf von Petrus und ­Johannes zum Grab (Apostelszene22); sowie 3. Grabesszene und Jesus, der Maria Ma [<< 91] gdalena erscheint (Erscheinungsszene), mit oder ohne Apostelszene.23 Anlagerungen und Ausschmückungen führen zu umfangreichen Osterspielen. Nach de Boor können, je nach Teilnehmerkreis und Ort, Feiern mit Spielen unterschiedlicher Typen durchaus koexistiert haben, wobei das volkssprachliche Spiel sich dann deutlicher vom lateinischen absetzte.

Dramaturgisch gesehen bilden die Osterberichte der Evangelien die Quellen des Ostertropus auf der Stoffebene. Als Darstellungsform findet man zuerst zwei Halbchöre im Wechselgesang, die sich aus der Prozession herauslösen, dann die zwei oder drei Marien und einen oder zwei Engel als Einzelpersonen. Spielort ist der Altar oder ein bühnenähnlicher Aufbau in seiner Nähe oder auch ein Nachbau des Heiligen Grabes.24 Aus den Abständen zu diesem Zentrum ergibt sich die Rolle der Darstellenden: direkt am Grab der oder die Engel, sich nähernd die Marien. Etwas entfernter befindet sich der Chor der Jünger. Dieses Arrangement lässt sich vielfach variieren. Alle Figuren sind stets zugleich sichtbar. Dadurch wird eine Einheit des Raumes geschaffen, auch wenn das Spiel an mehreren Orten vor sich geht – eine erste Andeutung des Simultan­prinzips. Eine ursprüngliche und zwei weitere Kernszenen zu haben, die in einem Baukastensystem erweitert werden, das macht die Tropentheorie so interessant. An unterschiedlichen Orten dürfen diese oder jene Bausteine fehlen, wofür die Forschung dann Begründungen finden muss, dies zieht größte Aufmerksamkeit auf sich, während andere Spiele in Vergessenheit geraten. Auch für die Beschreibung und den Vergleich szenischer Vorgänge bieten die angenommenen Übergänge von der Osterliturgie zur Osterfeier und zum Osterspiel reiches Material. Die Hervorhebung wächst durch eine Verhaltensdifferenz zwischen den Beteiligten, sobald nicht mehr nur gesungen, sondern ausagiert wird. Die Hervorhebungsmomente wechseln, sobald nicht mehr Kleriker in ihren Gewändern die Marien darstellen, sondern Laienspieler diese Rollen übernehmen. Wenn der Apos­tellauf anfangs nur berichtet wird, sich später Kleriker beim Apostellauf gemessenen Schrittes bewegen, der eine nur etwas schneller läuft als der andere (Johannes, 20,1 – 10), so unterscheidet sich das Spielmoment stark von der Variation in einigen Osterspielen, in denen einer der Kleriker stolpert und hinfällt und deshalb später ankommt. Für das Publikum entsteht ein erheblicher Unterschied in der Wahrnehmung: Wird die dem [<< 92] Johannesevangelium entnommene Variante der Feier gezeigt, bleibt es andächtig, während die Variante, die eher dem Spiel zukommt, Lachen provoziert.

2.2.2 Osterspiele

Neben den Osterfeiern etablieren sich um 1200 Osterspiele mit erweitertem Szenen­angebot. Beide Formen koexistieren mit der Liturgie bis ins 16. Jahrhundert zum Zwecke der Feier der Auferstehung und der sinnlichen Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte (commemoratio). Einzig die Unterschiede in Hervorhebung, Spielmoment und beteiligten Gruppen, zwischen denen die Handlungsdifferenz zum Tragen kommt, führen zur speziellen Bezeichnung Spiele. Vor allem die Erweiterung der Kernszenen um den Salbenkauf der Marien (Krämerszene), um die Auferstehung und Höllenfahrt Christi (Teufelsspiel) und um die Wächterszene, den Dialog der Grabwächter mit Pilatus und untereinander vor und nach der Auferstehung, legitimieren den Namen Spiel. Es treten nicht nur mehr Figuren auf, sondern es wird auch den Realitätsbezügen (Krämerszene) und den Gegenspielern (Teufel und Juden) zunehmend mehr Raum überlassen, wodurch zahlreiche Spiele aus dem Kontext der Liturgie heraustreten. Sind für das Hochmittelalter lateinische Spiele typisch, so liegt mit dem Osterspiel von Muri aus der Mitte des 13. Jahrhunderts ein erster Text eines deutschsprachigen Osterspiels vor. Dieses ist von einer „erstaunlichen szenischen Freiheit“ geprägt. Es karikiert beispielsweise in den Wächtern des Grabes Christi die Ritter, deren Verhältnis zu Pilatus „ganz im Sinne des ritterlichen Dienstes geregelt“ erscheint.

 

„Das Verhalten der Wächter – Angst vor der Erscheinung des Engels am Grabe, die unhöfische Prügelei untereinander, die Annahme des Schweigegeldes – soll aufdecken, wie unritterlich der Ritterstand geworden ist. […] In der Krämerszene bietet der Händler, der realistisch als Geschäftemacher gezeichnet wird, die typischen Produkte des höfischen Marktes an, die besonders dem Bereich der niederen Minne – Liebes- und Verführungsmittel – angehören, wodurch die ritterliche Liebe entlarvt wird. Direkte Anspielungen auf bestimmte Personen unter dem Publikum betonen die Neigung des Spiels, die ‚Gegenwartswirklichkeit in die heilige Handlung einzubeziehen‘. Pilatus selbst erscheint wie ein Vogt, der vor dem Volke Gerichtstag hält und gegen Gold dem Krämer den rechtlichen Schutz gewährt. Trotz der realistischen Szenen, die bereits genrehaft einen eingeschränkten Lebensbereich der Zuschauer wiedergeben und zugleich den ritterlichen Stand und das höfische Wesen leicht satirisch behandeln, ist dem Spiele eine innige, echt religiöse Ausstrahlung eigen, die in der großen Magdalenaszene am Ende des Osterspiels zu einer erschütternden Wirkung gelangt. In das verzweifelte, reuevoll klagende Gebet der Sünderin Magdalena um die Gnade Gottes werden [<< 93] die Zuschauer unmittelbar einbezogen. Das Spiel wird zur gemeinschaftlichen öster­lichen Kirchenfeier, wie es in der ursprünglichen lateinisch-liturgischen Form gewesen war.“25

Gegenwartsbezug, Satire und Religiosität schließen einander auch im Innsbrucker Osterspiel aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts nicht aus, in welchem die Hölle als Spielort erscheint.26 Ein Expositor eröffnet das Spiel und deutet den Inhalt an. Zuerst bitten die Juden Pilatus, das Grab Jesu bewachen zu lassen, denn sie befürchten dessen Flucht. Es werden vier Hüter für Lohn gedungen, die allerdings dann am Grab einschlafen. Ein Engel erscheint und fordert Jesus auf, Gottes Gebot zu erfüllen und die Bande der Hölle zu zerreißen. Christus steht aus dem Grab auf. Ein Bote wird von ­Pilatus zu den Wächtern geschickt mit der Warnung, nicht einzuschlafen und die Waffen bereitzuhalten „ab Ihesus welde vff stan, /daz sy en wider nedir schlan“. Da bemerken die Wächter das leere Grab, beschuldigen sich gegenseitig, was in eine Prügelei mündet. Jesus ist inzwischen mit singenden Engeln vor der Hölle angelangt.27 Das Teufelsspiel beginnt. Luzifer hat das Tor schließen lassen, aber Jesus dringt dennoch ein. Als er Adam und Eva befreit, bricht Luzifer in lautes Jammergeschrei aus. Luzifer befiehlt Satan, alle greifbaren Sünder herbeizuschaffen, „den babest vnd den kardenal, / patriarchen vnd legat, / dy den luten geben bosen rat“, den König und Kaiser, die Grafen und Fürsten, schlechte Richter, Pfaffen, Mönche und Wucherer usw. Satan beschafft einige arme Seelen, doch den Großen geht es nicht an den Kragen, er erreicht nur Vertreter des Handwerks und niedere Geistliche: die Seele des Bäckers, der zu kleine Brote bäckt, des Schuhmachers, der schlechte Schuhe verkauft, des Kaplans, der mit Frauen buhlt. Sie werden zur Abschreckung in die Hölle gestoßen. Im selben Spiel nehmen die Krämerszenen etwa ein Drittel des Textes für sich in Anspruch. Vor dem Besuch am Grabe müssen die drei Marien Salben kaufen. Der Krämer (Mercator) tritt mit Frau und Magd auf und sucht sich unter den Zuschauern einen geeigneten Knecht. Er findet ihn in dem Spaßmacher Rubin, der wiederum die Unterknechte Pusterbalk und Lasterbalk anstellt. Die Marien kaufen nach einigem Feilschen die Salbe, mit welcher der Leichnam Christi balsamiert werden soll, während Rubin die Frau des eingeschlafenen Krämers entführt. [<< 94]

Solche Szenen der Peripherie, die phantasievoll ausgestaltet werden können, rücken in den Vordergrund, während die Kernszenen den Zusammenhang der Handlung zu garantieren haben. Die Marien finden das Grab leer vor, Erscheinungs- und Apostelszene folgen. Johannes beschließt das Spiel mit einer Erläuterung zur Auferstehung. Dabei bittet er für die „armen schuler“, die Schauspieler: „dy armen Schuler haben nicht czu essen! / den sult ir czu tragen (geben) braten, / schuldern (Schinken) vnd ouch vladen (Brot); / wer yn gebit ire braten, / den vil got hute (heute) vnd vmirmer (immerdar) beraten, / wer yn gebit ire vladen, / den wil got in daz hymmelriche laden.“28

Abseits der Ausnahmen, modellhaft und über längere Zeiträume betrachtet, ist tatsächlich im Osterfestkreis eine Erweiterung der liturgischen Feiern und parallel dazu der Spiele zu beobachten. Die Anreicherung durch immer neue Szenen und das Weglassen anderer Szenen wird ursprünglich bedingt durch die Möglichkeiten, die die unterschiedlichen Beschreibungen des Ostergeschehens in den Evangelien bieten. Insofern ist die Frage berechtigt, ob christliches Theater auf der Grundlage der Bibel nicht spätestens seit dem 2. Jahrhundert möglich ist, als das Neue Testament abgeschlossen wurde (Kap. 2.4, Seite 109), oder eben erst auf der Basis des Ostertropus im 10. Jahrhundert entsteht, wie dies die Tropentheorie annimmt. Durch die historischen Schichten, die sich in den verschiedenen Evangelien überlagern, entsteht eine hohe Textvariabilität, die dramaturgisch gesehen Lesarten entspricht. Sie stimmt überein mit jener des Mythos, den die griechischen Rhapsoden immer wieder anders und neu, beginnend bei verschiedenen Begebenheiten, erzählen konnten. Das Geschehen wird variiert: Hier drei, dort zwei, dort eine Maria; ein oder zwei Engel am Grabe; ein oder zwei Apostel laufen zum Grab. Wenn es einen autoritären Text gegeben hätte, wäre an jede szenische Umsetzung das Kriterium der Wahrheit angelegt worden. Außerdem kommen nicht alle Szenen in allen Evangelien vor. Oder die knappen Höllenfahrt- oder Mercator-Hinweise werden zum Teufelsspiel oder zum Salbenkrämerspiel ausgebaut. Die beiden wichtigsten Merkmale geistlicher Spiele, die Möglichkeiten des Auswählens (hinzufügen von und Verzicht auf Szenen) und jene der Abwandlung (Ausbau und Reduktion von Szenen) erscheinen von vornherein als durch die Bibel gerechtfertigt. Die je nach Evangelium differierenden Nachrichten, die Lücken und Brüche, legten es nahe, das nach Tertullian Unglaublichste zu tun, nämlich das heilige Geschehen nachzuspielen. Insofern hängen die Ergebnisse von Forschungen zu geistlichen Spielen hochgradig von den Forschungsfragen ab, die an den Gegenstand gerichtet werden: Wird ein Urdrama gesucht, findet man den hoch verdichteten, musikalisch strukturierten Ostertropus des 10. Jahrhunderts. Fahndet man [<< 95] nach szenischen Vorgängen, die Theater genannt werden können, ist – unter textbasierter Vorgehensweise – bei der Textvariabilität der Evangelien zu beginnen.

2.2.3 Geistliche Spiele und Spielzyklen

Die Theaterform „geistliches Spiel“ erfasst als Sammelbegriff für das europäische Mittel­alter Spiele mit einer szenischen Wirkung im Sinne der christlichen Heilslehre. Das legt einen Gegensatz zu weltlichen Theaterformen nahe, obwohl theaterhistorisch zwischen „geistlich“ und „weltlich“ nur graduell unterschieden werden kann. Schweizer Aufführungen von Bibeldramen erlangten zum Beispiel häufig eine eminent weltlich-politische Bedeutung, während Fastnachtsspiele oft christliche Lehrmeinungen der Reformation und der Gegenreformation vertraten. Neben den mittelalterlichen Auf-, Um- und Einzügen, Ritterspielen und Turnieren, öffentlichen Buß- und Strafritualen, dem Jahrmarktstheater der Gaukler und Spielleute, den karnevalesken Verkehrungen in Bräuchen und Festen (u. a. Charivari, Narrenbischof, Eselsfest) sowie den Fastnachtsspielen sind die geistlichen Spiele im Mittelalter eine wichtige Theaterform. Alttestamentliche Szenen, Menschwerdung, Leben, Leiden und Tod Jesu, Auferstehung, aber auch neutestamentliche und Legendenszenen sowie das Jüngste Gericht bilden den Szenenbestand und Themenfundus der Spiele und Spielzyklen. Den beiden ältesten Typen, den Oster- und Weihnachtsspielen, liegen dagegen die zentralen Passagen der Jesus-Geschichte zugrunde (Geburt, Auferstehung), ergänzt durch weitere Szenen. Andere Arten der geistlichen Spiele wie etwa Marienspiel, Dreikönigsspiel, Johannesspiel, Magdalenenspiel, Marienklage, Krämerspiel, Emmausspiel, Himmelfahrtsspiel, Legendenspiel, Zehnjungfrauenspiel und Antichristspiel beschränken sich eher auf einzelne Szenen der Großspiele und Zyklen. Ebenso eigenständig bleiben die Feiern erhalten. Neben Osterfeier und Osterspiele treten, zunächst sehr liturgienah, im 11. Jahrhundert die ersten lateinischen Weihnachtsspiele. Der visitatio sepulchri entspricht hier die Hirtenszene, erweitert durch Propheten- und Dreikönigsspiel, Flucht nach Ägypten, Herodesspiel und Rahelklage. Im 12. Jahrhundert setzt mit dem altfranzösischen Jeu d’Adam, dem ältesten Paradiesspiel, eine parallele Entfaltung volkssprachlicher Spiele ein. Das Heilsgeschehen erscheint nun zunehmend als irdisches Geschehen. Neben die Todesüberwindung in der Auferstehung tritt ab Mitte des 12. Jahrhunderts in den Passionsspielen das Leiden des Mensch gewordenen Gottessohnes, etwa im Passionsspiel von Lausanne ab 1453. Die Verlegung der geistlichen Spiele aus den Kirchen ins Freie, auch auf die Marktplätze, wo man simultane Raum- bzw. Flächenbühnen errichtet, ermöglicht ausufernd komische sowie drastische Teufels- und Marterszenen. In der Reformationszeit fördern beide Konfessionen die geistlichen Spiele. [<< 96]


Abb 10 Typen und Arten der deutschsprachigen geistlichen Spiele von circa 1250 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts nach Ingmar ten Venne. (Quelle) [<< 97]

Die Zyklen bieten das gesamte Heilsgeschehen dar. Im Zentrum der Passionsspiele stehen die Szenen aus dem Leben Jesu, die Szenen von der Auferstehung bis zur Himmelfahrt werden angelagert, weiterhin kommen die Szenen vom Sündenfall, die Prophetien von der Menschwerdung Jesu (Prophetenspiele) und die Szenen der Weihnachtsspiele hinzu.29 Im Hochmittelalter scheinen die Klöster und Abteikirchen als hauptsäch­liche Spielorte durch die städtische Kathedrale abgelöst worden zu sein, die meist die Gesamtbevölkerung einer Stadt zu fassen vermochte. Wo dies nicht mehr möglich war, wich man auf den Vorplatz der Kathedrale aus, zum Beispiel beim altfranzösischen Adamsspiel des ausgehenden 12. Jahrhunderts.30 Hier vollzieht sich der Übergang zur Volkssprache, obwohl das lateinische Spiel erst im 13. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht. Lieder und Tänze halten in den Spielen Einzug, die Weihnachtsspiele korrespondieren immer stärker mit dem Brauchtum und werden deshalb zurückgedrängt. Die Krämerszenen widerspiegeln mittelalterliches Marktleben, in den Texten findet sich ein reicher Schatz an Sprichwörtern. Die Kostüme gewinnen an Farbenpracht. Textumfang und Spieldauer nehmen zu. Individuellere Gestalten, schnellere Bewegungen: Man spricht und singt lauter, gestikuliert heftiger und drastischer. Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts sind im deutschsprachigen Raum Darstellerinnen nachgewiesen (1503 in der Sterzinger Passion, in Frankreich aber schon seit 1333).31 Die Teufel gewinnen an Raum. Schon in einer Handschrift um 1350 musste der Schreiber der Moosburger Himmelfahrtsfeier vermerken, dass man dem Lärmen und fratzenhaften Treiben der Teufel gebührend entgegentreten solle, denn dadurch würden nicht nur heilige Stätten entweiht, sondern es werde auch die Neigung des Volkes zu Mutwillen und tollen Späßen und zuweilen auch zu Aufruhr begünstigt.32 Die oft als Ordnungshüter eingesetzten Teufel gehen manchmal auch mit Stöcken auf die Zuschauer los und benehmen sich so, dass es sich kaum unterscheiden lässt, ob sie Verlauf und Wirkung des Spiels absichern oder durch die Verselbständigung ihrer Späße gegen beides protestieren. Denn es „ist ein Unterschied, ob man sagt, die Lächerlichkeit des Teufels treffe seinen unbegründeten Herrschaftsanspruch, oder ob man in diesem Lachen die Bestätigung einer geheimen Zugehörigkeit des Ausgegrenzten, sprich: Paganen, zur ausgrenzenden, sprich: christlichen Lebensordnung, erkennt“.33 Ganz sicher zielten die Autoren und Spielleiter geistlicher Spiele [<< 98] auf Gemeindebildung und -festigung, auf theologische Unterweisung, Steigerung der Volksfrömmigkeit im Sinne der christlichen Morallehre und auf Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Aber die tatsächlichen (auch unbeabsichtigten) Wirkungen konnten weit über diesen Lehraspekt hinausreichen und sind deshalb nur bezüglich der einzelnen Spiele zu erforschen.

 

Die Überzeugungskraft und Nachhaltigkeit der kaum hinterfragten Tropentheorie beruhen auf ihrer einfachen Struktur. Während für die Entstehung der griechischen Tragödie mindestens ein hoch differenzierter Kult samt polisbezogenen Institutionalisierungsbestrebungen sowie die wahrscheinliche Existenz eines Thespis gemeinsam als Ausgangspunkt angegeben werden müssen, so sind es hier nur einige Textzeilen, die zu Theater führen sollen. Der Text bezieht sich zwar – wie gesamthaft auch der Dionysoskult – auf die Wiedergeburt eines Gottes, anwesend in Speis’ und Trank, nun aber erfolgt die Vereinigung mit dem Gott nicht mehr im ausgelassenen Festmahl der Dionysien, sondern sublimiert-spiritueller. Das Wiedergeburtsmotiv nimmt die Formen Taufe, Auferstehung und Kommunion an. Dies geschieht aber innerhalb einer Liturgie der Enthaltsamkeit, gekennzeichnet durch Mangel: Das Grab ist leer. Die Marien finden Christus nicht. Ein solcher formelhafter Kern verführt zu evolutionistischen und genealogischen Überlegungen, die jedoch die ungeheure Erscheinungsvielfalt geistlicher Spiele allein nicht zu klären vermögen.