Die Illusion der Unbesiegbarkeit

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Dilettantismus, Desinteresse, Delegation

Das simple Gedankenspiel »Welche meiner Mitarbeiter würde ich noch einmal einstellen?« ist ein Härtetest – für die Mitarbeiter, aber auch für die Führungskraft. Denn wer die meisten seiner Mitarbeiter lieber ziehen ließe, muss sich fragen lassen, warum er sie dann eingestellt hat oder weiterhin in seinem Bereich beschäftigt, ohne zu handeln. Und auf welchem Wege es dazu kam. Wo lagen die Fehler? Führungskräfte, die schon lange im Geschäft sind, schwören häufig auf ihre Intuition, auf das »Bauchgefühl« bei der Beurteilung von Kandidaten. Dass es so etwas wie Lebenserfahrung und in langen Berufsjahren vertiefte Menschenkenntnis gibt, bestreiten wir nicht. Die Frage ist nur, ob man diese Intuition im hektischen Alltag jederzeit zuverlässig abrufen kann, ob sie für unterschiedliche Funktionen und Altersgruppen gleichermaßen taugt und ob wir alle wirklich immer so gut durchblicken, wie wir gern glauben. Einer unserer Gesprächspartner, ein sehr erfahrener Personalexperte, machte uns in diesem Zusammenhang nachdenklich.

Dr. Alexander von Preen, Geschäftsführer Kienbaum Consultants International GmbH und Verwaltungsratspräsident Kienbaum AG Zürich: »Ich glaube, dass man dieses Gefühl [eine sichere Ersteinschätzung von Kandidaten] nicht für alle Ewigkeiten hat. Je länger man in einer Machtposition ist (ich sage mal zehn Jahre), desto eher braucht es sich auf. Man trifft Fehlentscheidungen. Antennen nutzen sich ab oder sind nicht mehr zeitgemäß. Es verändert sich ja auch viel in der Gesellschaft, unterschiedliche Altersklassen funktionieren ganz anders, haben andere Rahmenbedingungen, andere Ausbildungen, andere Werte usw. Ich sehe das immer wieder, auch bei Topmanagern: Der Instinkt für Menschen schleift sich irgendwann ab und diesen Zeitpunkt muss man erkennen.«

Überhaupt: Wann kennt man einen anderen Menschen »richtig«? Mitunter braucht es dafür Jahre. Und selbst dann kann ein Mitarbeiter, der in der jetzigen Funktion Großartiges leistet, in einer neuen Aufgabe versagen. Der Klassiker der Fehlbesetzung, allgemein bekannt und doch nicht auszurotten: Der beste Fachmann wird mit einer Führungsposition belohnt. Noch einmal Christine Wolff:

Christine Wolff, Multi-Aufsichtsrätin und Unternehmensberaterin: »Ich komme aus der Ingenieurbranche und habe überwiegend mit Ingenieuren, Naturwissenschaftlern usw. gearbeitet – technische TopLeute. Und ich habe einfach den Fehler gemacht, sehr gute technische Mitarbeiter in eine Managementrolle zu heben. Die Annahme, ›gute Techniker sind auch gute Manager‹, ist ein Irrtum, der dem Unternehmen nicht besonders gut getan hat. Bei mir war es anders: Ich bin eine durchschnittliche Naturwissenschaftlerin, aber ich habe größere Leadership Skills. Ich war kaum eine Woche im Job, da hatte ich mein erstes Team zusammengestellt und mit Gruppen gemeinsam etwas erreicht. Es wäre nicht besonders gut für die Firma gewesen, wenn ich weiter technisch gearbeitet hätte – das können andere besser.«

Knapper und besser kann man die praktische Umsetzung des Prinzips »Talent vor Seniorität« kaum zusammenfassen. Wenn verdiente Fachleute mit Führungspositionen belohnt werden, wird dieses Prinzip häufig auf den Kopf gestellt und Unternehmenszugehörigkeit und langjähriges (oft überdurchschnittliches) Engagement belohnt, statt darauf zu achten, was der Betreffende tatsächlich am besten kann und ob das in der zukünftigen Position noch gefragt ist. Wer ein Auge darauf hat, in welchen beruflichen Situationen Mitarbeiter aufblühen und wo sie eher lustlos agieren, ist vor solchen Irrtümern etwas besser geschützt. Um tatsächlich die Geeignetsten (die mit der besten Erfolgsprognose; vgl. weiter unten) für Führungspositionen zu gewinnen, wäre ein Abschied vom einseitig auf Führungsspannen zielenden Karriereverständnis hilfreich. Honorieren wir Fachkenntnis tatsächlich immer genug? Bei den Incas wurden verdiente Handwerker an den Hof berufen. Wie drücken wir unsere Wertschätzung für Mitarbeiter aus, die »nur« Experten sind, von deren Expertise der Unternehmenserfolg aber entscheidend abhängt? Wer die Grundmechanismen der Motivation kennt, weiß, dass es dabei nicht primär um Geld geht, sondern um Aufmerksamkeit, Wertschätzung, einen angemessenen Status im Unternehmen.

Zurück zum Thema Einschätzung von Mitarbeitern: Dass menschliche Wahrnehmung und Urteilsbildung höchst unzuverlässig, subjektiv, lückenhaft sind, ist eigentlich ein alter Hut. Zumindest bei anderen glauben wir das auch sofort! Doch wir selber? Es ist lohnenswert, sich gängige Fehlerquellen bei der Urteilsbildung noch einmal vor Augen zu führen:

1.Unsere Wahrnehmung ist hochgradig selektiv – wir können gar nicht alle Signale verarbeiten, die auf uns einströmen. Das ist der Grund, warum Polizisten an Zeugenaussagen verzweifeln: Fünf Zeugen haben sehr wahrscheinlich fünf verschiedene Autos am Tatort gesehen. Schwarz, blau oder doch eher grau? Transfer auf den Unternehmenskontext: Bekommen Sie beispielsweise überhaupt mit, was Ihre Mitarbeiter leisten (oder verbocken)? Auf wen konzentriert sich Ihre Aufmerksamkeit in Team-Meetings?

2.Wahrnehmen und Urteilen sind erwartungsgesteuert – wir sehen, was wir sehen wollen. Das kann zu den bekannten selbsterfüllenden Prophezeiungen führen. Berühmt wurde das Experiment der US-Psychologen Robert Rosenthal und Lenore F. Jacobson. Mitte der Sechzigerjahre gaukelten sie Grundschullehrern vor, sie hätten mithilfe eines wissenschaftlichen Tests die 20 Prozent Schüler ermittelt, die »kurz vor einem Entwicklungsschub« stünden. Am Schuljahresende schnitten diese (in Wahrheit per Zufallslos ausgewählten) Schüler tatsächlich besser ab, vermutlich, weil sie mehr Zuwendung und Bestätigung durch die Lehrer erhielten.11 Heißt beispielsweise: Sind »High Potentials« Hoffnungsträger, weil sie besser sind? Oder weil wir erwarten, dass sie besser sind?

3.Wir lassen uns von einer Eigenschaft oder einem Merkmal blenden, das andere überstrahlt (»Halo-Effekt«), schließen beispielsweise von Größe auf Durchsetzungskraft, von gutem Aussehen auf Intelligenz oder von gewinnendem Auftreten auf Engagement. Wussten Sie etwa, dass es einen statistischen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Einkommen gibt? Und dass die meisten CEOs der Fortune-500-Unternehmen und die meisten US-Präsidenten (rund 90 Prozent) überdurchschnittlich groß waren?12 Idealerweise messen Sie als Mann 1,91 Meter, wenn Sie es zu etwas bringen wollen. Bei Frauen dagegen kommt es weniger auf die Größe als vielmehr auf die schlanke Statur an. So viel zu inneren Werten.

4.Wir bevorzugen Menschen, die uns ähnlich sind (»Similar-to-me-Effekt«): Wer einen ähnlichen Hintergrund besitzt, vielleicht sogar dieselbe Business School besucht hat, der kann doch nur gut sein! Sympathie sei wahrgenommene Ähnlichkeit, sagen Psychologen. Und wer wollte ernsthaft abstreiten, dass wir einem sympathischen Mitarbeiter einen Aufstieg eher gönnen? Noch einen Schritt weiter geht der Soziologe und Eliteforscher Michael Hartmann. Zur Besetzung von Spitzenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft sagt er: »Vor allem zählt der richtige Stallgeruch.« Gesellschaftlicher Hintergrund und Auftreten zählten mehr als Kompetenz und Leistung. Während politische Eliten noch einigermaßen durchlässig seien, dominiere auf den Topetagen der Wirtschaft zu 80 Prozent das Großbürgertum.13

5.Wir wollen unseren ersten Eindruck bestätigt sehen, und dieser erste Eindruck entsteht blitzschnell und unbewusst. Da unsere Wahrnehmung selektiv ist (siehe Punkt 1), gelingt es uns ziemlich mühelos, Erwartungen zu bestätigen. Wie lange hat es zum Beispiel gedauert, bis Thomas Middelhoff nach seinem frühen Milliardencoup durch den rechtzeitigen Verkauf von AOL-Anteilen als Supermanager endgültig entzaubert war?

6.Glaubenssätze, frühere Erfahrungen, psychologische Laientheorien, all das kann unsere Einschätzungen von Menschen beeinflussen – zu Recht, aber auch zu Unrecht. Oft ziehen wir Wenn-dann-Schlüsse, die logisch nicht zwingend sind: »Wenn jemand die Stelle unbedingt will, wird er sich später auch anstrengen«, »Wenn jemand aus einer Unternehmerfamilie kommt, ist er tatkräftiger als jemand, dessen Vater Beamter war« und dergleichen mehr.

7.Wir verallgemeinern unsere eigenen Sichtweisen. Jemand, der begeistert Führungsverantwortung übernommen hat, glaubt unter Umständen, das müsse der Traum jedes ambitionierten Mitarbeiters sein. Oder: Jemand, der öffentliches Lob genießt, kann sich nicht vorstellen, dass ein anderer das unangenehm und peinlich findet.

Tendenziell überschätzen wir unsere Urteilskraft, was Psychologen auch als »Illusion der Urteilssicherheit« bezeichnen.14 Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu abenteuerlich, nach einem kurzen Gespräch von 60, maximal 90 Minuten relativ spontan eine Personalentscheidung treffen zu wollen – erst recht, wenn es um die Besetzung von Schlüsselpositionen im Unternehmen geht. Und doch ist das Vorstellungsgespräch immer noch das beliebteste Auswahlverfahren. Wer mag schon Tage als Beobachter in Assessment-Center herumsitzen? Zugegeben: In einem gut vorbereiteten, strukturierten Gespräch kann man einiges über eine Person erfahren, insbesondere, wenn die Fragen durchdacht aus den (ebenso durchdacht formulierten) Anforderungen der Position abgeleitet sind. Doch wie häufig sind sie das? Läuft es nicht eher so: Die Assistentin steckt den Kopf zur Tür herein und erinnert, »dass doch gleich das Gespräch mit Herrn / Frau X« ansteht. Also rasch der Griff nach den Unterlagen, Vita überfliegen und eilig zum Meeting mit dem Kandidaten. Den Rest erledigen »Intuition«, Tagesform und hoffentlich der Personaler, der mit im Gespräch sitzt. Paul Williams war lange genug Senior Manager Human Resources, um dieses Dilemma zu kennen. Die folgenden zugespitzten »Rules« gehen auf sein Konto. Pauls Fazit aus hunderten Bewerberinterviews:

 

Faustregeln für Bewerber-Interviews (Achtung: Satire!)

1.Die Redezeit, die ein Manager im Interview beansprucht, ist direkt proportional zu seinem Rang in der Führungshierarchie.

2.Die Fähigkeit eines Managers, dem Kandidaten im Interview aufmerksam zuzuhören, ist umgekehrt proportional zu seinem Rang in der Führungshierarchie.

3.Je höher der Rang eines Managers, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er eine Frage, die er stellt, auch gleich selbst beantwortet.

4.Je mehr der Manager selbst spricht, desto besser ist sein Eindruck vom Kandidaten.

Wenn wir über die Fallstricke der Wahrnehmung, die Tücken der Intuition und über schlechte Vorbereitung reden, haben wir eine weitere, ebenso gravierende Fehlerquelle bei der Stellenbesetzung noch gar nicht erwähnt: das Eigeninteresse des Vorgesetzten, das sich nicht immer mit dem Unternehmensinteresse deckt. Es ist bekannt: »A’s hire A’s, B’s hire C’s.« Ein schwacher Vorgesetzter macht sich nicht unnötig Konkurrenz, er bevorzugt das Mittelmaß, über das er leichter herrschen kann. Verirrt sich durch Zufall doch ein Leistungsträger in seine Abteilung, wird der bald die Flucht ergreifen. Dass es im Alltag der meisten Organisationen dennoch einigermaßen läuft, ist kein Argument. Es ist empirisch belegt, dass eine leistungsorientierte Unternehmenskultur zu den Eckpfeilern nachhaltigen Unternehmenserfolgs gehört (vgl. Probst / Raisch 2004 und ihre Thesen zur »Logik des Niedergangs«). Die eigentliche Frage ist nicht, ob es »einigermaßen läuft« – die eigentliche Frage ist: »Was wäre möglich, wenn wir die richtigen Leute in Schlüsselpositionen hätten?« Leider (oder glücklicherweise) dauert es gerade in Großunternehmen geraume Zeit, bis sich eine verfehlte Personalpolitik in den Unternehmenszahlen niederschlägt.

Und die Alternative zum klassischen Vorstellungsgespräch? Sicher nicht die komplette Delegation des gesamten Verfahrens an externe Dienstleister (die dann praktischerweise »schuld« sind, wenn es mit der Besetzung nicht optimal klappt). Natürlich haben viele diagnostische Verfahren wie wissenschaftlich fundierte Tests, ACs, strukturierte Interviews etc. ihren Wert, vor allem, wenn externe Kandidaten gesucht werden – und immer vorausgesetzt, dass die beauftragten Berater genau wissen, worauf es in der fraglichen Position ankommt, und aus dem Unternehmen heraus eng begleitet werden. Bei internen Stellenbesetzungen, insbesondere bei der Besetzung von Schlüsselpositionen und bei der Auswahl von Führungskräften für die nächste Ebene, mutet es jedoch geradezu absurd an, wenn Insidereinschätzungen und langjährige Zusammenarbeit mit dem Betreffenden ausgeklammert bleiben und durch Management Audits Externer ersetzt werden. Und es ist geradezu fahrlässig, wenn Topmanager sich aus wichtigen Personalfragen weitgehend heraushalten und meinen, dies könne man an die HR und nachgeordnete Führungskräfte delegieren. Ein uns bekannter CEO sagte einmal: »Die wichtigste Entscheidung, die wir als Unternehmen treffen, ist, wen wir einstellen und dann systematisch weiterentwickeln.« Das stimmt!

Sind Sie ein »Talent Consumer« oder ein »Talent Producer«?

Einer der großen amerikanischen Konzerne führte für seine Vorstände ein besonderes Vergütungsmodell ein. 20 Prozent der variablen Vergütung waren davon abhängig, wie die Talent-Bilanz des jeweiligen Vorstandes aussah. Brachte sein Bereich Talente für den oberen Führungskräftekreis der Top 200 hervor, oder musste er vakante Positionen von außen besetzen bzw. Talente aus anderen Bereichen abziehen? Die Schlüsselfrage lautete: »Are you a net producer or a net consumer of talent?« Dieses Verfahren erwies sich als sehr wirkungsvoll – nicht nur wegen der Vergütung, sondern weil konsequente Talententwicklung auf diese Weise in der Unternehmensphilosophie verankert wurde. Wie so oft bewahrheitete sich die Erkenntnis »What you measure is what you get!«

Wie ein Topmanager das Thema Talententwicklung praktiziert und auch selbst davon profitiert, verdeutlichte einer unserer Gesprächspartner. Uns fiel bei der folgenden Schilderung die geschickte »Personalpolitik« der Inca-Herrscher ein, die Provinzen gezielt mit loyalen, in der Eliteschule Yachaywasi ausgebildeten Angehörigen der eigenen oder regionalen Oberschichten besetzten.

Dr. Alexander von Preen, Geschäftsführer Kienbaum Consultants International GmbH und Verwaltungsratspräsident Kienbaum AG Zürich: »Was für mich sehr spannend bleibt, ist das Thema Entwicklung von jungen Mitarbeitern. Ich habe mir zu eigen gemacht, jedes Jahr fünf Mitarbeiter zu rekrutieren, die ich als Assistenten, als Projektleiter direkt an mich binde und die ich auf meine Management Skills, auf meine Kompetenzen und auf meine ganz persönlichen Erwartungshaltungen hin ausbilde. Diese Nachwuchskräfte lasse ich sehr nah an mich ran, die lade ich auch privat ein, sie sind Teil der Familie. Ich übertrage ihnen schon sehr früh viel Verantwortung und gewähre volle Transparenz auch in geschäftlichen Fragen, die sonst restriktiv gehandhabt werden, etwa Strategieentwicklung, Geschäftsgeheimnisse etc. Nach anderthalb Jahren gebe ich diese Menschen dann in die Organisation und setze sie quasi als Ankerpunkte für mich ein, als Vertrauenspersonen im gesamten Netzwerk.«

Talente kann man überall finden, nicht nur auf der eigenen Büroetage. Wesentlich sind das Interesse für Menschen und die Bereitschaft, genau hinzuschauen. Ein Beispiel:

Vom Fahrstuhlführer zum Senior-Verkäufer

In Schwellenländern ereignen sich immer wieder die ungewöhnlichsten Karrieren. Andreas Krebs begegnete ihm täglich bei der Fahrt mit dem Aufzug in den 10. Stock im Bürogebäude in Guatemala-City: dem freundlichen, patenten und immer hilfsbereiten Fahrstuhlführer, vielleicht Anfang 20. Das Unternehmen suchte zu dieser Zeit Mitarbeiter im Promotoren-Team für Supermärkte, und Andreas gab dem zuständigen Verkaufsleiter einen Hinweis. Der sprach mit dem Fahrstuhlführer, und da begann für diesen die Herausforderung. Der Mann verdiente ca. 50 US-Dollar pro Monat im Fahrstuhl, also weniger als den Mindestlohn, was in Schwellenländern nicht selten ist. Er musste ein Moped haben, um den neuen Job machen zu können. So legte die ganze Familie zusammen und schaffte es: Der junge Mann konnte anfangen. Statt 50 Dollar verdiente er nun 280, die absolute Untergrenze in dieser Funktion, bei der deutschen Niederlassung eines DAX-Konzerns. Es ist ihm nicht zu Kopf gestiegen, ganz im Gegenteil: Es folgten Abendschule, weitere Seminare, und er ist weiter aufgestiegen: vom Promoter zum Verkäufer, vom Verkäufer zum Senior-Verkäufer und noch weiter. Wenn Fleiß, Ehrgeiz und der Wille zum Erfolg da sind, braucht es nur noch eine Chance. Und es lohnt sich für jede Führungskraft, auf die zu achten, die eine solche Chance verdient haben.

Regel Nummer 1: Keine Kompromisse!

Wenn wir Ihnen nur eine einzige Empfehlung in Sachen Auswahl von Mitarbeitern geben dürfen, dann diese: Keine Kompromisse bei Personalentscheidungen! Kein »Wird ja vielleicht noch«, kein »Mehr gibt der Markt nicht her«, kein »Es muss jetzt schnell gehen«. Die Fehlbesetzung einer einzigen Schlüsselposition kann so viel wirtschaftlichen Schaden anrichten und so viele menschliche »Kollateralschäden« verursachen, dass Laxheit in Personalfragen mehr als kurzsichtig ist. Wussten Sie beispielsweise, dass Führungskräfte den Krankenstand in ihrem Team mitnehmen? Dies ergab eine Studie bei Volkswagen, wo man Vorgesetzte mit hohem Krankenstand an die Spitze von Abteilungen mit geringeren Fehlzeiten versetzte. Nach einem Jahr waren die Fehlzeiten dort genauso hoch wie früher im alten Verantwortungsbereich.15

Eine der größten Herausforderungen erfolgreicher Stellenbesetzung ist der Umgang mit »Blockern«, also mit Fach- oder Führungskräften, die ihr Limit erreicht haben, aber wichtige operative oder strategische Funktionen im Unternehmen blockieren. Oft weiß man nicht, wohin mit ihnen. Sie sind meist zwischen 40 und Mitte 50, zu weit vom Pensionsalter entfernt, und eine Abfindung erscheint zu teuer. Aber wie teuer ist es, jemandem mäßig Effizientes auf einer wichtigen Funktion zu halten? Wie viel Mehrwert könnte für das Unternehmen an dieser Stelle erzielt werden? Fast immer ist das die Abfindung wert, sollte es sonst keine Lösung geben. Die Stelle wird dadurch frei für bessere Kandidaten mit vielversprechender Führungs- und Entwicklungsprognose. »Blocker« klingt ihnen zu negativ? Ja, es ist kein schönes Wort, aber im Personaler-Jargon nicht unüblich. In der Tat handelt es sich oft um solide Arbeiter, deren Versetzung sich nicht fair anfühlt. Dennoch: Sie könnten in einer weniger exponierten Rolle noch Wert für das Unternehmen kreieren und sollten gleichzeitig den Weg für eine bessere Besetzung frei machen.

Der Management-Vordenker Jim Collins, der seit Jahren den Strategien wirtschaftlich besonders erfolgreicher Unternehmen auf der Spur ist, hat die griffige Formel geprägt »Erst wer, dann was«. Um ein Unternehmen dauerhaft auf Erfolgskurs zu halten, braucht man schlicht die richtigen Menschen. Solche Argumente geraten leicht unter Banalitätsverdacht. Doch wenn das so banal ist, warum tun wir uns in der Praxis dann so schwer damit? Warum sagen so viele Vorgesetzte, dass sie die Hälfte ihrer Abteilung nicht wieder anheuern würden? Collins spricht nicht von Kompromisslosigkeit, sondern von Rigorosität, wenn es um Personalfragen geht, und meint damit nichts anderes als konsequentes Handeln. Seine »Regeln der Rigorosität« lauten:

»Regel 1: Im Zweifelsfall nicht einstellen, sondern weitersuchen.«

»Regel 2: Wenn man eine Personalentscheidung treffen muss, sollte man sofort handeln.«

»Regel 3: Setzen Sie Ihre besten Leute auf die besten Chancen an, nicht auf die größten Probleme.«16

Wie häufig werden unangenehme Personalentscheidungen aus Konfliktscheu auf die lange Bank geschoben? Und wie oft werden fähige Leute in kriselnden Bereichen verschlissen, obwohl sie anderswo mehr bewegen könnten? Während des DaimlerChrysler-Debakels wurden bald Stimmen laut, Daimler blute das eigene Management durch zu viele Entsendungen in die USA aus.

Menschen, nicht Pläne und Theorien, bringen die Dinge vorwärts

Colin Powell, früherer US-General und Außenminister, hat in seinen Buch »My American Journey« seine wichtigsten Leadership-Prinzipien zusammengefasst. Dabei ruft er etwas sehr Elementares in Erinnerung:

»Organization doesn’t really accomplish anything. Plans don’t accomplish anything, either. Theories of management don’t much matter. Endeavours succeed or fail because of the people involved. Only by attracting the best people will you accomplish great deeds.«17

[»Eine Organisation als solche erreicht gar nichts. Pläne allein auch nicht. Managementtheorien bewirken nicht viel. Vorhaben gelingen oder scheitern aufgrund der Menschen, die daran beteiligt sind. Nur wenn Sie die besten Leute anziehen, werden Sie Großes erreichen.«]

Keine Kompromisse zu machen bedeutet auch, sich von der (Wunsch-)Vorstellung zu verabschieden, man könne Mitarbeiter beliebig »entwickeln« und nach eigenen Vorstellungen formen, etwa so, wie man eine Maschine umrüstet. Natürlich sind Menschen lernfähig, natürlich können sie sich weiterentwickeln, aber nicht unbegrenzt. Aus einem introvertierten Tüftler wird sehr wahrscheinlich kein mitreißender Verkäufer und auch keine empathische Führungskraft. Menschen müssen sich erstens verändern wollen, sie müssen zweitens Bedingungen vorfinden, die entsprechende Lernerfahrung und Entwicklung ermöglichen, und sie müssen drittens bestimmte Grundfähigkeiten mitbringen, die in die angestrebte Entwicklungsrichtung weisen. Oft hapert es schon beim ersten.

Faktor »F« – Vorsicht vor Abkürzungen im Auswahlverfahren

Paul Williams war einige Jahre verantwortlich für das Programm zur Rekrutierung internationaler Trainees. Hier musste eine große Anzahl von Absolventen auf ihre Eignung für eine Leadership-Laufbahn beurteilt werden. Dazu wurden jährlich vier bis sechs internationale Business Schools ins Visier genommen und die Lebensläufe interessierter Absolventen nach Kriterien wie Auslandssemester, Fremdsprachen und interessante Ämter vorselektiert. Aus der immer noch großen Zahl von Kandidaten wurden in halbstündigen »Speed Interviews« jeweils acht für ein Auswahl-AC ausgewählt. Die Schlüsselfrage war, nach welchen Kriterien? Für ein vertiefendes verhaltensorientiertes Interview waren 30 Minuten zu wenig Zeit – es musste etwas Kurzes und Knackiges her. So haben wir den »Faktor F« erfunden, mit F für »Faszination«. Hypothese war, dass Menschen, die später andere Menschen führen sollen, fähig sein müssen, diese zu erreichen und zu begeistern. Faktor F wurde daher so definiert: Ist diese Person in der Lage, in kürzester Zeit mein Interesse zu wecken, mich zu fesseln? Wie viel Leidenschaft ist zu erkennen, wenn sie über Thema X erzählt? Werde ich eingebunden, oder ist es nur ein Monolog?

 

Auf diesem Weg wurden viele talentierte Trainees gefunden, die in der Firma oder danach auch woanders sehr erfolgreich waren. Aber es gab auch Fehler. Beispiel: In einem Lebenslauf stand unter Hobbys »Parrots«. Es stellte sich heraus, dass der Kandidat die Pflege von zwei Aras (Groß-Papageien aus Südamerika) übernommen hatte. Aras sind hochintelligente, soziale Tiere, die bis zu sechzig Jahre alt werden können. Dies faszinierte den Biologen und Tierfreund Paul Williams so sehr, dass sich circa 20 Minuten des Interviews um diese Tiere drehten. Und es wurde fesselnd und mit viel Begeisterung erzählt. Nur: Wie viel hatte das mit Führungskompetenz und der Eignung für eine Managementlaufbahn zu tun? Der Kandidat schaffte es ins AC und sogar ins Unternehmen. Doch schnell wurde klar, dass er dort nicht auf Dauer überzeugen würde. Er blieb nicht sehr lange dabei. An dieser Stelle hat der (Super-)Faktor F des Kandidaten eine ansonsten erfolgreiche Rekrutierungsmethodik geschlagen und den Interviewer in die Irre geführt!

Es gibt natürlich auch ein Learning: Leadership ist mehr als faszinierendes Storytelling. Es wäre nicht die einzige Karriere, die durch verbale Selbstdarstellung entstanden ist. Oft lassen wir uns durch die Präsentationsfähigkeiten angelsächsischer Kandidaten blenden und leiten eine falsche Führungsprognose daraus ab. In den USA und GB lernt man schon in der Schule, wenn nicht im Kindergarten, sich zu präsentieren. Wir staunen dann, was relativ junge Menschen auf die Bühne bringen, und auf Englisch hört sich das sowieso irgendwie schick an. Doch für eine wirklich gute Laufbahn-Prognose braucht es mehr Tiefgang im Rekrutierungsverfahren.

Die Versuchung ist groß, angesichts der Komplexität der Aufgabe, einen Mitarbeiter oder Bewerber angemessen einzuschätzen, Zuflucht zu nur vermeintlich aussagekräftigen Kriterien zu nehmen, Daten im Lebenslauf, interessante Details heranzuziehen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Doch weder das Studium in X noch der Auslandsaufenthalt in Y sind Erfolgsgarantien. Eine neue Studie wirft ein ganz besonderes Licht auf das Thema.

Was macht einen erfolgreichen CEO aus?

Im Mai 2017 brachte die Harvard Business Review einen interessanten Artikel zu einem erstaunlichen Projekt. Über zehn Jahre wurden im »CEO Genome Project« Forschungsdaten über 17 000 obere Führungskräfte (sogenannte »C-Suite Executives«) zusammengetragen. Darunter befanden sich 2000 CEOs. Ergänzt wurden die Daten durch vier- bis fünfstündige Interviews sowie Gespräche im Umfeld, also Interviews mit Mitarbeitern, Vorgesetzten, Stakeholdern usw. Die Analyse umfasste Karrierehintergrund, Arbeitsergebnisse und vor allem Verhaltensmuster. Untersucht wurde in erster Linie, warum diese Personen überhaupt ernannt wurden und was ihnen geholfen hatte, über längere Zeit erfolgreich zu sein. Die Befragten kamen aus allen Branchen und aus Unternehmen jeder Größe – von kleineren Firmen bis zu den Fortune 100. US-Teilnehmer dominierten, die Erkenntnisse sind jedoch generalisierbar. Wichtige Ergebnisse:

− Auch wenn für Spitzenfunktionen oft charismatische und selbstbewusste Kandidaten bevorzugt werden, waren die eher introvertierten und analytischen Kandidaten am Ende insgesamt erfolgreicher.

− 45 Prozent aller CEOs hatten in ihrer Karriere mindestens einen gravierenden Fehler gemacht, der sie den Job kostete und die Firma sehr viel Geld. 7 Prozent dieser Gruppe heuerten anschließend bei anderen Unternehmen wieder als CEO an.

− Bildungshintergrund und Qualifikation wiesen keine (!) Korrelation mit dem nachgewiesenen Erfolg auf. Nur 7 Prozent der sehr erfolgreichen (»high-performing«) CEOs besuchten eine der Top-Universitäten, 8 Prozent hatten keinerlei Abschluss.

− Es zeichneten sich vier entscheidende Charakteristika erfolgreicher Führungskräfte ab – von 30 beschriebenen Kernkompetenzen konnten über 50 Prozent der Kandidaten mindestens eine der folgenden Eigenschaften für sich verbuchen:

1. Entscheidungsfreude (»Deciding with speed and conviction«)

2. Einfluss (»Engaging for impact«)

3. Proaktives Handeln (»Adapting proactively«)

4. Hohe Umsetzungsorientierung (»Delivering reliably«)18

Auch wenn diese Kernkompetenzen zunächst recht allgemein klingen, leuchten sie mit Blick auf die moderne Wirtschaft unmittelbar ein:

− Entscheidungsfreude: Es ist besser, Entscheidungen zu treffen, als nicht zu entscheiden. Die VUCA-Welt19 lässt nur begrenzt Zeit für Analyse und Abwägung, schnelles und effektives Handeln wird immer wichtiger.

− Einfluss: Belastbares Stakeholder-Management und Vernetzung mit den wichtigsten Business-Partnern generieren einen Informationsvorsprung und damit mehr Entscheidungssicherheit. Auch dies ist ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg (vgl. Kapitel 7 »Urteilskraft«).

− Proaktives Handeln: Die Erfolgreichsten verbringen über die Hälfte ihrer Zeit mit langfristigen Zielen, Herausforderungen und Risiken (vgl. Kapitel 5 »Die wahren Gegner bekämpfen« und dort vor allem den Abschnitt zu Risikomanagement). Erfolgreiche Manager betrachten die Bewältigung von Krisen als Teil ihrer Aufgabe und sind dadurch sehr viel besser auf Rückschläge und Krisen vorbereitet.

− Hohe Umsetzungsorientierung: Auch das überrascht nicht – dauerhaft nachweisbare Erfolge machen Führungskräfte erst richtig stark und erfolgreich.

Auch wenn Sie nicht immer nach dem nächsten CEO suchen, für jede Führungsaufgabe empfiehlt es sich, verhaltensorientierte Fragen (»Behavioural Event Questions«) zu stellen, die auf die erfolgsrelevanten Eigenschaften aus dem Genome Project zielen und diese abprüfen. Diese Art von Fragen ergründen, wie der Kandidat bisher ein bestimmtes Problem gelöst oder ähnliche Situationen gemeistert hat, weil dies viel darüber ausssagt, wie er bei einer ähnlichen Herausforderung in der Zukunft vorgehen würde. Man kann beispielsweise gezielt nach situativen Belegen und Anlässen für »Entscheidungsfreude« fragen. Zu solchen Nachfragen lädt ein Kandidat den Gesprächsführer selbst ein, wenn er Statements über persönliche Eigenschaften abgibt, wie zum Beispiel »Ich bin ein guter Teamplayer« oder »Ich bin durchsetzungsfähig«. Für Interviewer sind in diesem Zusammenhang folgende Fragen hilfreich:

»Wo haben Sie diese Durchsetzungsfähigkeit gezeigt? Wie war der Kontext?«

»Was war die genaue Aufgabe?«

»Was haben Sie unternommen?«

»Was war das Ergebnis?«

Eine Eselsbrücke für dieses Schema ist »STAR« (Situation – Task – Action – Result).

Eine gute Ergänzung hierzu sind weitere situative Fragen, die Verhaltensoptionen ausloten und Rückschlüsse auf Eigenschaften zulassen. Sie bewähren sich in jedem Bewerbungsgespräch, unabhängig davon, ob eine Position mit Führungsverantwortung verbunden ist oder nicht. Fragen Sie beispielsweise

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