"Bodhisattvaweg" und "Imitatio Christi" im Lebensgang Rudolf Steiners

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1.
Vier Arten des Verständnisses eines Bodhisattva

Um den Begriff eines Bodhisattva, wie wir ihn in diesem Buch verwenden wollen, richtig zu verstehen, kommen wir nicht umhin, vier mögliche Verständnisformen eines Bodhisattva zu unterscheiden.

Zunächst haben wir die bekannteste und auch von Rudolf Steiner häufig gebrauchte Form,21 nämlich den Bodhisattva als die letzte Inkarnation eines Menschen vor dem Aufstieg zum Buddha. Der historische Buddha war in diesem Sinne in seinem uns bekannten Erdenleben ein Bodhisattva, der durch seine Erleuchtung zum Buddha wurde und sich nach seinem Tod folglich nicht mehr inkarnierte. Im buddhistischen Kontext meint der indische Ausdruck «Bodhisattva» ein nach Erleuchtung und Befreiung von irdischem Leiden strebendes menschliches Wesen. Auf den historischen Buddha folgt in der Tradition des Mahayana-Buddhismus, an die sich auch Rudolf Steiner angelehnt hat, der Maitreya-Bodhisattva, der sich vor seiner letzten Inkarnation laut Rudolf Steiner immer wieder auf Erden inkarnieren wird, um im Sinne des Christus wirksam zu sein. Dabei inkarniert sich aber ein solcher Bodhisattva im Verständnis Rudolf Steiners nur in seiner letzten Inkarnation vollständig in einem menschlichen Leib.

Als zweite Form gibt es im Hinblick auf den zum historischen Buddha gewordenen Bodhisattva aber die von Rudolf Steiner mitgeteilte Tatsache, dass sich der historische Bodhisattva nach seinem Aufstieg zum Buddha nicht in das Nirvana zurückgezogen hat, sondern in Form eines Geistleibes, des Nirmanakaya, weiterhin auf Erden wirksam war und ist. Die Wirksamkeit des «Nirmanakaya» des Buddha hat Rudolf Steiner vor allem in den Vorträgen über das Lukas-Evangelium ausführlich beschrieben, und zwar in einer deutlich über das Verständnis des «Nirmanakaya» im Buddhismus hinausreichenden Form.22

Diese Wirksamkeit entspricht insofern einem Bodhisattva, als dieser sich im Zusammenhang des Mahayana-Buddhismus, der erst nach dem Mysterium von Golgatha entstanden ist, durch ein Gelöbnis verpflichtet, sich nicht in das Nirvana zurückzuziehen, sondern auch nach seiner Erleuchtung auf Erden so lange weiterzuwirken, bis alle Wesen von irdischem Leiden befreit sein werden. Im Falle des historischen Buddha inkarnierte sich also diese Bodhisattva-Wesenheit nicht mehr in einem physischen Leib, sondern erscheint in Form eines «Nirmanakaya» wirksam.

Als dritte Form unterscheidet der Buddhismus die transzendenten oder kosmischen Bodhisattvas, die mit den zu ihnen gehörenden transzendenten oder kosmischen Buddhas zusammenwirken. Im Wesentlichen gibt es im Mahayana-Buddhismus acht solcher kosmisch wirksamen Bodhisattvas. Diese inkarnieren sich nicht als Mensch, können aber sehr wohl durch einen Menschen hindurch wirken. Von solcher Wirksamkeit hat auch Rudolf Steiner an verschiedenen Stellen gesprochen.23

Auch auf diese Form wollen wir in unserer Darstellung jedoch nicht näher eingehen. Eine der bekanntesten, kosmisch wirksamen Bodhisattva-Wesenheiten ist der zum kosmischen Amitaba-Buddha24 gehörige Bodhisattva Avalokiteshvara, der im japanischen Buddhismus Kannon und im chinesischen Buddhismus als weiblicher Bodhisattva Guanyin bekannt ist. Die künstlerische Darstellung Avalokiteshvaras zeigt eine Wesenheit mit zehn Köpfen, die übereinander und in alle Himmelsrichtungen angeordnet erscheinen. Dabei hat er hunderte von Armen und Händen, in denen sich Augen befinden. Avalokiteshvaras Haupteigenschaft ist die Fürsorge für alle in Not befindlichen Menschen. Im Mahayana-Buddhismus kann sich der Praktizierende daher immer an Avalokiteshvara, Guanyin oder Kannon wenden, wenn er sich in Not befindet.

Uns interessiert jedoch in diesem Buch hauptsächlich die vierte Form eines Bodhisattva, nämlich die ebenfalls aus dem Mahayana-Buddhismus stammende und eigentlich in diesem Kontext gebräuchlichste Form: der Bodhisattva als Erleuchtungswesen, der auf dem Wege zur Erleuchtung ein Gelöbnis ablegt, das sogenannte Bodhisattva-Gelöbnis, welches besagt, dass der nach Erleuchtung strebende Geistesschüler sich nicht zum eigenen Vorteil, das heißt um der möglichst schnellen eigenen Befreiung willen auf den Wege eines Bodhisattva begibt. Er will sich nur deshalb befreien, um auch allen anderen Wesen zur Befreiung und Erleuchtung verhelfen zu können. Deshalb geht es für ihn auch nicht um das möglichst schnelle Erreichen eines jenseitigen Nirvana. Das Ideal eines Bodhisattva besteht für ihn vor allem darin, sich so lange auf Erden wieder zu verkörpern, bis auch alle anderen Wesen befreit und erleuchtet worden sind. Diese im Zusammenhang mit dem Bodhisattva-Ideal stehende Form eines Bodhisattva ist im Mahayana-Buddhismus nicht auf eine einzelne auserwählte Persönlichkeit beschränkt. Sie ist vielmehr mit einem weiter unten näher beschriebenen allgemein zugänglichen Schulungsweg verknüpft. Auf diesen Schulungsweg werden wir in den nächsten beiden Kapiteln anhand zweier ausgewählter Quellentexte genauer eingehen.

2.
Der Bodhisattva-Weg und das Bodhisattva-Ideal im Mahayana-Buddhismus

Das sogenannte Bodhisattva-Ideal spielt sowohl im Mahayana- wie im Tibetischen Buddhismus eine wichtige Rolle. Wir können an dieser Stelle jedoch nicht im Detail auf die komplizierten und zahlreichen Verzweigungen der buddhistischen Entwicklung und Lehre eingehen.25 Wir beschränken uns daher auf eine der wichtigsten historischen Quellen des Mahayana-Buddhismus, weil diese Tradition später für H. P. Blavatsky den Bezugspunkt bildete, indem sie das Bodhisattva-Gelübde des Mahayana-Buddhismus in ihrer kleinen Schrift Die Stimme der Stille aufgriff. Dieser Bezugspunkt wurde dann auch für Rudolf Steiner zu einer wichtigen Quelle seiner Darstellung des «großen Hüters» in Wie erlangt man, wobei er diese Quelle, ohne sie genauer zu bezeichnen, in entscheidender Weise metamorphosiert hat.

An der Art, wie er diese am Buddhismus orientierte Darstellung Blavatskys in den zwei einander ergänzenden Texten über die Begegnung des Geistesschülers mit dem «großen Hüter» in Wie erlangt man und in der Geheimwissenschaft in eine vollkommen eigenständige und christlich orientierte Darstellung umgewandelt hat, lässt sich in eindrucksvoller Weise zeigen, wie Steiner aus der stark unter östlichem Einfluss entstandenen Theosophie, wie sie in der Theosophischen Gesellschaft gepflegt wurde, die mitteleuropäisch-christlich geprägte Anthroposophie entwickelt hat.26

Zuerst tauchte das Bodhisattva-Ideal und das damit verbundene Gelöbnis, sich um der Befreiung aller leidenden Wesen willen immer weiter zu inkarnieren und sich nicht in das Nirvana zu begeben, im sogenannten Avatamsaka-Sutra, das um die Zeitenwende herum begonnen und im 3.–4. Jahrhundert vollendet wurde, auf.27 Auf dieses Sutra bezieht sich auch die für unseren Zusammenhang wichtigste Quelle, das im 8. Jahrhundert entstandene Bodhisattva-Caryavatara des Shantideva.

Shantideva war ein indisch-buddhistischer Mönch, der im 8. Jahrhundert in Nordindien lebte. Dort verfasste er seine zehn Kapitel umfassende Schrift, in der der Weg eines Bodhisattva und das mit einem Gelöbnis verbundene Ideal eines Bodhisattva grundlegend beschrieben werden.28 Im Mahayana-Buddhismus, der der kleinen Schrift Shantidevas zugrunde liegt, kommt diesem Gelöbnis eine zentrale Rolle zu. Denn der mit diesem verbundene Weg hat nicht mehr wie im ursprünglichen Buddhismus die eigene Befreiung von allen Leiden zum Ziel, sondern in altruistischer Weise das Mitleid mit allen leidenden Wesen und deren Befreiung. Die eigene Befreiung wurde mithin nur gesucht, um auf der Grundlage der eigenen Ungebundenheit allen anderen Wesen zur Befreiung verhelfen zu können.

Damit war es auch im Alltag eines normalen Menschen, der sich nicht hinter Klostermauern zurückziehen konnte, möglich, die Laufbahn eines Bodhisattva einzuschlagen und in der Entwicklung der «Paramitas», der sechs Vollkommenheiten, einer Gruppe ethischer und intellektueller Tugenden, seinen Vorbildern nachzuleben.29 Die hauptsächlichste Tugend eines Bodhisattva in diesem Sinne kommt in dem von Shantideva beschrieben Gelöbnis zum Ausdruck, in dem sich der den Weg der Erleuchtung einschlagende Schüler verpflichtet, die eigene spirituelle Vervollkommnung mit dem Ziel der Befreiung aller Wesen aus der Not des immerwährenden Leidens zu verbinden. Diese Verpflichtung stellte zugleich die Umsetzung der ersten und wichtigsten Tugend eines Bodhisattva dar, die Hingabe. Auf diese wollen wir daher in den folgenden Auszügen näher eingehen:30

«Aufnahme des Erleuchtungsdenkens

An dem Guten finde ich mit Freuden Gefallen, das von all den Wesen vollbracht wird und durch das die Leiden der schlechten Schicksale zu Ende kommen. Mögen doch die Bedrückten glücklich sein!

An der Erlösung der Geschöpfe aus dem Leid des Kreislaufs finde ich Gefallen. Ich finde Gefallen an der Bodhisattvanatur und der Buddhanatur der Erretter.

[…]

5. Mit gefalteten Händen bitte ich die Sieger31, die endgültig zu erlöschen wünschen: Mögen sie endlose Zeitalter verweilen! Möge diese Welt nicht blind sein!

6. Durch das Gute, das ich durch solches Tun erlangt habe, möge ich fähig sein, alle Leiden aller Wesen zu stillen.

7. Ein Heilkraut für die Kranken möge ich sein, und ein Arzt möge ich sein und Pfleger für sie, bis die Krankheit32 nicht wiederkehrt.

8. Durch Schauer von Speise und Trank möge ich die Qual des Hungers und Durstes33 löschen. Möge ich während der Hungerperioden der kleinen Zeitalter Trank und Speise sein.

 

9. Möge ich den bedürftigen Wesen ein unerschöpflicher Schatz sein. Möge ich ihnen in mannigfachen Arten der Unterstützung beistehen.

10. Alle meine Existenzen und Güter, das Gute, das ich auf allen drei Wegen erworben habe, gebe ich ohne Bedenken hin, um das Heil aller Wesen zu verwirklichen.

11. Das Erlöschen (nirvana) ist das Aufgeben von allem: und mein Geist strebt nach dem Erlöschen. Wenn ich alles aufgeben soll, ist es besser, es den Wesen hinzugeben.

[…]

20.–21. Wie die Erde und die anderen Elemente in vielfacher Weise den unermesslich vielen Wesen von Nutzen sind, die den endlosen Äther bevölkern, so möge auch ich in vielfacher Weise allen Wesen nützen, die der Äther birgt, solange noch nicht alle erlöst sind.

22.–23. Wie die früheren Buddhas das Erleuchtungsdenken34 erfasst haben, und wie sie in der Praxis eines Bodhisattva fortschreitend fest geblieben sind, so will ich zum Heile der Welt das Erleuchtungsdenken hervorbringen, und gerade so will ich diese Praktiken der Reihe nach üben.»

Diese für buddhistische Texte typische, gebets- und bekenntnisartige Form wurde von den Schülern immer wieder rezitiert, wie es auch mit vielen anderen Texten und Sutren üblich war, ähnlich wie in den christlichen Kirchen das Glaubensbekenntnis oder das Sündenbekenntnis. Im tibetischen wie auch im japanischen Buddhismus gibt es noch weitere für den Bodhisattva-Weg wichtige Texte, die in den dortigen Klöstern bis heute eine große Rolle spielen.35

Der weitere Text Shantidevas beschäftigt sich nach der Beschreibung der Hingabe, dem eigentlichen Gelübde, mit den anderen Tugenden eines Bodhisattva, der Ethik und Lebensführung, der Geduld, der Stärke und macht dann auch detaillierte Angaben zur Meditation. Insgesamt geht es Shantideva dabei vor allem darum, die inneren Feinde, die Laster und Verfehlungen, die bereits von anderen Autoren aufgezählt wurden,36 deutlich im Auge zu behalten, um sie entsprechend bekämpfen zu können.

Damit wird auch der Grundcharakter dieses grundlegenden buddhistischen Schulungsbuches deutlich: Es geht bei den zu erwerbenden sechs Eigenschaften eines Bodhisattva im Wesentlichen um das Ablegen des Bodhisattva-Gelöbnisses und die Einübung eines dem entsprechenden moralisch-sittlichen Verhaltens. Meditation und Weisheit als die beiden letzten Eigenschaften dienen der Unterstützung eines solchen Verhaltens. Sie sollen dazu führen, die Leerheit und Substanzlosigkeit dieser Welt einzusehen.37

Diese zentrale Einsicht des Mahayana-Buddhismus führt aber in der Konsequenz eben nicht mehr wie noch im ursprünglichen Buddhismus zu einer Weltabgewandtheit, sondern, indem die Leerheit der sinnlichen Dinge erkannt wird, erkennt man zugleich, dass das Nirvana identisch mit der Leerheit der Dinge ist und sich mithin in dieser uns vor Augen liegenden Welt selbst finden lässt.

Die daraus resultierende Hingabe- und Opferhaltung des Schülers auf dem Bodhisattva-Weg der diesseitigen Welt gegenüber wird auch in der modernen religionswissenschaftlichen Forschung zu Recht als eine mit dem Christentum übereinstimmende Haltung empfunden.38 Ob diese Umwendung des Mahayana-Buddhismus auf einem möglicherweise auf missionarischem Wege nach Indien gekommenen Einfluss zurückgeht, ist jedoch bis heute nicht geklärt.39

Damit verlassen wir dieses buddhistische Dokument des Bodhisattva-Weges, ohne auf die philosophischen Implikationen des von Shantideva vertretenen Madhyamaka, des «mittleren Weges» näher einzugehen, weil das hier nicht unser Thema ist. Wichtig war uns hierbei nur das auch heute im Buddhismus noch existierende Bodhisattva-Gelöbnis von seinen Ursprüngen her zu dokumentieren. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, in welcher Form sich die Begründerin der Theosophischen Gesellschaft, H. P. Blavatsky, auf die in späterer Zeit vor allem in Tibet weiter gepflegte Tradition des Bodhisattva-Gelöbnisses gestützt und wie sie diese Tradition in ihrer kleinen Schrift Die Stimme der Stille auf die ihr eigentümliche Weise aufgegriffen hat.

3.
Der Bodhisattva-Weg in Die Stimme der Stille von H. P. Blavatsky

Wie die meisten ihrer Schriften, so bezeichnete H. P. Blavatsky Die Stimme der Stille als eine «Übersetzung» von Texten, die ihr in physischer Form niemals vorgelegen haben. Andererseits war der hoch poetisch verfasste Text aber auch keine Dichtung im herkömmlichen Sinne, sondern sie gab damit mehrere innerlich «gelesene» bzw. «gehörte» Texte orientalischen Ursprungs wieder, die sie mit Hilfe ihrer geistigen Schauungen ins Englische übertrug. Die Qualität ihrer «Übersetzungen» ließ sie während des Schreibens in Fontainebleau bei Paris im Juli 1889 von ihrer Mitarbeiterin Annie Besant fortwährend überprüfen.40

Die in kurzer Zeit 1889 verfasste, letzte Schrift von H. P. B. verhalf der Theosophie zu neuem Ansehen und beeindruckte sogar den amerikanischen Religionsphilosophen William James, der Die Stimme der Stille in seinen einflussreichen, 1901/02 in Edinburgh gehaltenen Vorlesungen über «Die Vielfalt religiöser Erfahrung» als Beispiel für eine moderne mystische Erfahrung ausführlich zitierte und im Hinblick auf ihre Form als eine Art «musikalischer Komposition» würdigte.41 Der deutsche Theosoph und Blavatsky-Begleiter Franz Hartmann42 übersetzte die Schrift ins Deutsche, und sie erschien in mehreren Auflagen, die allerdings durch die umfangreichen und zum Teil längeren Anmerkungen Hartmanns umständlicher zu lesen ist als das englische Original, in dem es nur wenige Anmerkungen Blavatskys gibt.43 Das war vor allem darauf zurückzuführen, dass der Text zahlreiche indische, für den Laien nicht verständliche Ausdrücke enthielt, die für die westlichen Leser ohne Erklärungen unverständlich bleiben mussten.

Der vollständige Titel von Blavatskys Schrift lautete: Die Stimme der Stille. Auszüge aus dem Buch der goldenen Lehren. Der Untertitel, den Hartmann nicht übersetzt hat, lautete: Für den täglichen Gebrauch der Lanoos (Schüler). Und dann hieß es: «Übersetzt und aufgeschrieben von H. P. Blavatsky». Auch das kürzte Hartmann ab, indem er einfach schrieb: «Herausgegeben von H. P. Blavatsky». Sie verstand ihre Schrift jedoch als eine «Übersetzung» des von ihr okkult erforschten und «gelesenen» Buches der goldenen Lehren. Ihre «Übersetzung» umfasste «drei Auszüge»: Die Stimme der Stille, Die zwei Wege und Die sieben Pforten.

Blavatsky unterschied grundsätzlich zwei Formen des Buddhismus und der indischen Lehren: einen exoterischen oder südlichen Buddhismus und einen esoterischen oder nördlichen Buddhismus, den sie mit dem tibetischen Buddhismus gleichsetzte. Heute würde man mit der gebräuchlichen religionswissenschaftlichen Terminologie von dem, was Blavatsky als exoterischen Buddhismus bezeichnete, als Theravada-Buddhismus sprechen. Damit werden die heute noch vorhandenen ursprünglichen Formen des Buddhismus, vor allem auf Sri Lanka, in Myanmar und Thailand bezeichnet. Und den «nördlichen», esoterischen Buddhismus würde man heute als Mahayana-Buddhismus bezeichnen, wobei man den tibetischen Buddhismus als eine dritte Form, nämlich den sogenannten tantrischen Buddhismus davon deutlich unterscheidet.44

Jedenfalls ging Blavatsky in ihrer Schrift generell von dem von ihr sogenannten «nördlichen» bzw. «esoterischen» Buddhismus aus. In ihrer Vorrede erging sie sich zunächst länger über die (fiktive) Herkunft des Buches der goldenen Lehren und betonte, dass sie daraus nur die Teile entnommen habe, die für die Schüler der Theosophischen Gesellschaft von Bedeutung seien. Dabei fügte sie gleich zu Beginn hinzu, dass es bei diesen wie bei allen indischen Lehren immer um das Abtöten des sinnlichen Begehrens, ja alles Sinnlichen überhaupt ginge, ohne dass das «höhere Selbst» des Menschen sich nicht entfalten könne. In diesem Sinne geht es in ihrer kleinen Schrift darum, die Stimme dieses «höheren Selbst», die «Stimme der Stille» in sich zu erwecken und dabei die äußere Sinneswelt als bloße Scheinwelt zu erkennen.45

Die Stimme der Stille besteht aus «drei Fragmenten», die H. P. B. aus dem Buch der goldenen Regeln «übersetzt» hat. Das erste «Fragment» trägt den Titel der ganzen Schrift Die Stimme der Stille. Das zweite Fragment widmet sich den beiden Wegen, unter denen der Geistesschüler nach der Vereinigung mit dem eigenen «höheren Selbst» und dem damit verbundenen Ertönen der Stimme der Stille zu wählen hat und trägt daher den Titel Die zwei Pfade. Das dritte Fragment, in dem das für uns entscheidende Wort der Stimme der Stille, das eben mit dem östlichen Bodhisattva-Ideal verknüpft ist, ertönt, heißt Die sieben Pforten.

Rudolf Steiner hat für das Ehepaar Doris und Franz Paulus46 den Anfang des ersten Fragments von Die Stimme der Stille übersetzt und kommentiert47. Zunächst betont Steiner gleich zu Beginn seines Kommentars, dass die kleine Schrift von H. P. Blavatsky als Meditationsstoff gedacht sei und dass das Meditieren einzelner Sätze daraus einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Äther- und Astralleib habe, wodurch sich die übersinnlichen Wahrnehmungsorgane ausbilden ließen. Sodann folgt eine wesentliche Bemerkung zum Grundcharakter von Blavatskys Schrift, und diese betrifft das Verhältnis des Geistesschülers zur Sinneswelt:

«Es ist auch eine Gefahr für den Menschen, wenn er sich ein unrichtiges Gefühl für den Satz aneignet, dass die ‹äußere Welt› eine bloße Scheinwelt ist. Das ist gewiss in einer Richtung wahr. Aber der Mensch ist nicht dazu berufen, sich von dieser ‹äußeren Welt› zurückzuziehen und sich in höhere Welten zu flüchten. Wir sollen in die höheren Welten uns Einblick verschaffen; aber wir sollen uns klar darüber sein, dass wir in diesen höheren Welten die Ursachen suchen sollen für Wirkungen, die in unserer physischen Welt zurzeit liegen. Wir sollen uns stets vorhalten, dass wir in unseren eigenen Geist uns zu vertiefen haben. Durch solche Vertiefung lernen wir den Geist verstehen, der außer uns durch jedes Blatt, durch jedes Tier, durch jeden Menschen zu uns spricht. Aber falsch wäre es, wenn wir den Geist suchten und seine Organe missachteten, und die Organe des Geistes sind die Erscheinungen und Vorgänge dieser Welt. Die Antriebe, die Motive zum Wirken in dieser Welt sollen wir von höheren Planen holen; das Wirken selbst muss zwischen Geburt und Tod in dieser Welt liegen. Wir sollen die Welt nicht verachten, sondern lieben; aber wir sollen sie nicht lieben so, wie sie den bloßen physischen Sinnen erscheint, sondern wir sollen täglich, stündlich lernen, wie sie ein Ausdruck des Geistes ist. Überall suche man im Sinne des dritten Satzes der Stimme der Stille den auf höherem Plane liegenden ‹Hervorbringer›. Gewiss, dadurch wird die Sinnenwelt zur Scheinwelt. Aber nur insofern, als der Mensch sie gewöhnlich ansieht. Zum Beispiel: Wir sehen einen Verbrecher. So wie einen solchen die meisten Menschen ansehen, so sehen sie nur Schein. Wir lernen das Wahre an dem Verbrecher kennen, wenn wir mit einem Blick ihm gegenübertreten, der an den höheren Welten geschärft ist. Wenn wir tief hineinschauen in das Weltgetriebe, dann ändern sich alle unsere Gefühle, alle unsere Empfindungen gegenüber der uns umgebenden Wirklichkeit. Und durch solche Erkenntnis werden wir tüchtig für die wirkliche Welt, in der wir leben. Wir müssen immer mehr und mehr einsehen, dass wir viel weniger zunächst dazu berufen sind, die Welt zu korrigieren, als unsere Schein-Ansichten von der Welt zu korrigieren. Erst dann können wir bessernd in die Welt eingreifen, wenn wir uns selbst dadurch gebessert haben, dass wir von falschen zu wahren Ansichten uns durchgerungen haben. Deshalb steht in der Stimme der Stille: ‹Nur dann, erst dann, wird sich das Gefühl verschließen dem Reich des Falschen und öffnen dem Reich des Wahren, wenn der Mensch nicht mehr die vielen Wesenheiten des Scheins als solche wahrnimmt, sondern den Blick richtet auf das Eine Wahre.›

Der ‹schaffende Geist› wirkt außen um uns; aber der ‹schaffende Geist› wirkt auch in unserem Innern. Die äußere Welt wird uns diesen schaffenden Geist immer offenbaren, wenn wir den ‹silbernen Faden› erhalten, der uns selbst an den schaffenden Geist bindet. Wir sollen deshalb hinhorchen auf alles, was an unser Ohr dringt, wir sollen hinschauen auf alles, was vor unser Auge sich stellt: aber niemals sollen wir uns dirigieren lassen vom Außen, sondern klar sollen wir uns sein, dass im Innern der Erklärer, der Dirigent ist, der uns alles Äußere in das richtige Licht stellt. Durch das Zerreißen des ‹silbernen Fadens› im Innern machen wir selbst die äußere Welt zur Scheinwelt, die uns dann auf Schritt und Tritt trügt; durch Aufrechterhalten der inneren Verbindung mit dem Quell des Geistes ergießt sich für uns auch all das Licht des Wahren über die Außenwelt.

 

Im eigenen Geiste müssen wir forschen: dann erschließt sich uns der Geist der Welt. Es wird gewöhnlich nicht angenommen, dass dies der Weg ist zum Schauen in höheren Welten. Doch er ist es.»48

Weiterhin erläutert Rudolf Steiner die Beziehung des höheren Selbst zu seinem irdischen Organismus wie folgt:

«Unser ganzes Verhältnis zur Welt ändert sich unter dem Einflusse solcher Gesinnung. Wir haben dann den Glauben, dass wir von allem lernen können, das uns entgegentritt. Wir werden Schüler des All-Einen Lebens, das sich uns fortwährend offenbart. Und so erst lernen wir lieben; lieben das All. So schmilzt die in das enge Selbst gebannte Absonderungssucht dahin, so lernen wir: nicht stehen zu bleiben beim Schmerz und bei der Freude, sondern uns von Schmerz und Freude unterrichten zu lassen. So bringen wir es dahin, zu verstehen, dass unser eigener Organismus ein Auffassungsorgan für die ganze Welt ist. Wir sehen ein, dass unser eigentliches Selbst gar nicht mit diesem Organismus identisch ist; wir lernen uns als Werkzeug betrachten, durch das die Welt auf unser höheres Selbst, und dieses höhere Selbst auf die Welt wirkt. Wir werden dann aber auch bald finden, dass dieses höhere Selbst ein Glied ist im Geister-All-Organismus, uns als Pfand anvertraut, sodass wir als Sendboten des göttlichen All-Willens uns betrachten können. Wir fühlen uns immer mehr als Missionare des großen Weltengeistes. Und fühlen wir so, dann spüren wir etwas von der Atmosphäre der ‹Halle des Lernens›. – Dann aber können wir auch aufsteigen zu dem Gefühle davon, was die dritte Halle, die der ‹Weisheit› ist. Wir erleben den Zusammenhang mit dem Allgeiste und werden gewahr, dass das höchste Wissen in unserem Innern uns zuströmt. Wir fangen an, uns diesem Strome überlassen zu dürfen. Die Pforten der Inspiration öffnen sich uns. Wir werden uns selbst im wahren Sinne leiten, nicht durch die Anstöße der Außenwelt geleitet werden. Wir werden auf diese Art wiedergeboren. Denn, wie wir vorher ein Kind der Welt waren, so werden wir jetzt ein Kind des Geistes.

Der Geist im Innern weist uns die Wege. Eine unendliche Sicherheit und Ruhe kommt über uns; aller Erfolg entscheidet nichts über unser Tun, sondern allein der Hinblick auf das Richtige, und dieses Gefühl innerer Sicherheit eröffnet den Blick in die Halle der Seligkeit.»49

Seine Erläuterungen abschließend gibt Rudolf Steiner dann eine genauere Exegese der von Blavatsky beschriebenen «sieben mystischen Töne», die in der «Halle der Weisheit» aus dem eigenen Inneren des Schülers vernehmbar werden, und er empfiehlt, diese von Blavatsky genau beschriebenen Töne als Meditationsinhalt zu betrachten.

«Wir sollen uns zum geistigen, meditativen Erleben der damit angedeuteten Vorstellungen bringen. Still mit uns sollen wir sein, ganz still, und uns die Bilder, mit denen in der Stimme der Stille die Töne charakterisiert sind, lebhaft vorhalten, sodass wir mit dem geistigen Ohr imaginativ darauf hinhören. Und dabei sollen wir uns erfüllen mit solchen Gedanken, wie sie von mir hier zur Exegese der Töne gegeben sind. Nicht spekulativ, sondern im lebendigen Fühlen. Dann meditieren wir richtig und fruchtbar.»50

Wenn man diese kommentierenden Sätze Rudolf Steiners und seine weiter unten zitierte Übertragung des Anfangs von Die Stimme der Stille auf sich wirken lässt, dann kann man bemerken, dass Steiner die innere Ausrichtung und Intention von Die Stimme der Stille in Übereinstimmung mit seinen eigenen Intentionen sah, die er in den um dieselbe Zeit seit Juni 1904 in der Zeitschrift Lucifer-Gnosis unter dem Titel Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? erschienenen Aufsätzen zum Ausdruck brachte. Diese Übereinstimmung liegt jedoch weniger in den Inhalten, denn diese unterscheiden sich sehr deutlich von Die Stimme der Stille. In dieser gibt es keinerlei konkrete Übungsanweisungen, schon gar nicht Übungen, die an die Sinneswahrnehmung anknüpfen, wie sie Rudolf Steiner in Wie erlangt man ausführlich beschrieben hat. Auch gibt es bei Blavatsky keine Beschreibung der Seelen- und Wesensglieder oder der Chakren und ihrer Entwicklung.

Es ist mehr der Tenor von Die Stimme der Stille, so wie ihn Steiner in den oben zitierten Erläuterungen beschrieben hat, der sich auch in Wie erlangt man wiederfindet. Weiter unten werden wir dann aber sehen, dass sich in der Darstellung des «großen Hüters der Schwelle» in Wie erlangt man eben auch inhaltlich eine deutliche Anlehnung an Die Stimme der Stille finden lässt.51

Dazu ist auch der folgende Zusammenhang von Bedeutung: Zur selben Zeit, in der Rudolf Steiner die Übertragung von Die Stimme der Stille verfasst hat, also im Frühjahr 1904, übernahm er auch die Leitung der Esoterischen Schule der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland. Dadurch wurde er zum offiziellen esoterischen Lehrer und konnte in den esoterischen Stunden Erläuterungen zur inneren Entwicklung seiner Schüler geben. Zu diesen Unterweisungen gehörten eben auch die Übertragung und die Erläuterungen von Die Stimme der Stille, die er Doris und Franz Paulus zukommen ließ.

Um hier nun aber keine Missverständnisse hervorzurufen, müssen wir kurz einen Blick auf das Verhältnis Rudolf Steiners zur Theosophischen Gesellschaft und ihren führenden Persönlichkeiten werfen. In seiner Autobiografie Mein Lebensgang betont er bei der Besprechung dieser Zusammenhänge von Anfang an seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit innerhalb dieser Gesellschaft. Sie kam nach seiner Übernahme des Vorsitzes der deutschen Sektion vor allem durch die Begründung der von ihm redigierten eigenen Zeitschrift Luzifer zum Ausdruck. In dieser konnte er von Anfang an seine eigenen Erkenntnisse veröffentlichen.

Es war jedoch vor allem Rudolf Steiners Beitritt zu der von H. P. Blavatsky gegründeten «Esoteric School», der bereits damals die Frage aufkommen ließ, inwiefern er von den in dieser Schule durch H. P. B. verbreiteten esoterischen Lehren nicht nur abhängig gewesen sei, sondern diese quasi als «Sprungbrett» übernommen habe, um sie später als seine eigenen auszugeben.

Genau zu diesen bereits damals erhobenen Vorwürfen äußert sich Steiner in Mein Lebensgang. Er beschreibt zunächst die atavistischen Formen, in denen Blavatsky ihre Erkenntnisse schaute:

«Nun hängt all das zusammen mit der Art, wie H. P. Blavatsky zu ihren Lehren gekommen ist. Es gab ja immer eine Tradition über solche Lehren, die auf alte Mysterien-Schulen zurückgehen. Diese Tradition wird in allerlei Gesellschaften gepflegt, die streng darüber wachen, dass von den Lehren aus den Gesellschaften nichts hinausdringe.

Aber von irgendeiner Seite wurde es für angemessen gehalten, an H. P. Blavatsky solche Lehren mitzuteilen. Sie verband dann, was sie da erhielt, mit Offenbarungen, die ihr im eigenen Innern aufgingen. Denn sie war eine menschliche Individualität, in der das Geistige durch einen merkwürdigen Atavismus wirkte, wie es einst bei den Mysterien-Leitern gewirkt hat, in einem Bewusstseinszustand, der gegenüber dem modernen von der Bewusstseinsseele durchleuchteten ein ins Traumhafte herabgestimmter war. So erneuerte sich in dem ‹Menschen Blavatsky› etwas, das in uralter Zeit in den Mysterien heimisch war.

Für den modernen Menschen gibt es eine irrtumsfreie Möglichkeit, zu entscheiden, was von dem Inhalte des geistigen Schauens weiteren Kreisen mitgeteilt werden kann. Mit Allem kann das geschehen, das der Forschende in solche Ideen kleiden kann, wie sie der Bewusstseinsseele eigen und wie sie ihrer Art nach auch in der anerkannten Wissenschaft zur Geltung kommen.

Nicht so steht die Sache, wenn die Geist-Erkenntnis nicht in der Bewusstseinsseele lebt, sondern in mehr unterbewussten Seelenkräften. Diese sind nicht genügend unabhängig von den im Körperlichen wirkenden Kräften. Deshalb kann für Lehren, die so aus unterbewussten Regionen geholt werden, die Mitteilung gefährlich werden. Denn solche Lehren können ja nur wieder von dem Unterbewussten aufgenommen werden. Und Lehrer und Lernender bewegen sich da auf einem Gebiete, wo das, was dem Menschen heilsam, was schädlich ist, sehr sorgfältig behandelt werden muss.

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