Wiener Bagage

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V.

Doch irgendwie kam er von der Vorstellung, Doleschal just den authentischen Schriftzug des Rumänen zu besorgen, nicht los. Bis zur Mittagspause und auch noch danach saß er an seinem Schreibtisch und starrte dieselbe Berichtsseite an, ohne deren Inhalt in sich aufnehmen zu können. Er blickte auf die Uhr. Es ging auf zwei zu. Wenn er jetzt losmarschierte, so dachte er, könnte er Grozavescu beim Packen überraschen, ihm das Autogramm abluchsen und im Amt zurücksein, bevor die Doleschal Dienstschluss hatte.

Gesagt, getan. »Pokorny, ich muss noch einmal weg. Ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Halt die Stellung, ja!« Der Alte nickte nur, setzte dann zu einer Replik an, die Bron­stein durch ein rasches Schließen der Zimmertür unterband. Diesmal lief er den Ring in entgegengesetzter Richtung entlang, ehe er beim Parlament rechts abbog. Erneut verschaffte er sich Zugang zu Grozavescus Wohnhaus, vermied diesmal aber, sich bemerkbar zu machen, sondern lauschte erst einmal an der Tür, ob er Stimmen vernahm. Doch drinnen war alles ruhig. Der Sänger befand sich also noch nicht wieder in den eigenen vier Wänden. Bronstein verließ das Haus und setzte sich in das benachbarte Café, von wo aus er einen direkten Blick auf das Haustor hatte. Egal, von welcher Seite Grozavescu kam – und dass er kommen musste, schien ja angesichts der geplanten Berlin-Reise außer Zweifel zu stehen –, Bronstein würde ihn sehen und ihm danach folgen können.

Zwei Schalen Gold und sieben Zigaretten später wurde Bronstein aus seinem Grübeln gerissen. Deutlich und unverkennbar schritt der Orpheusjünger die Straße herauf und verschwand Augenblicke später in seinem Haustor. Bronstein zahlte eilig, überquerte die Fahrbahn und heftete sich an Grozavescus Fersen. Kurz überlegte er, den Rumänen noch im Stiegenhaus anzusprechen, doch dieser Plan wurde vom Sänger vereitelt, der seine Wohnung zu schnell für Bronstein erreicht hatte, der nun abermals vor der verschlossenen Tür stand. Und neuerlich lauschte.

Was drang da für ein merkwürdiger Lärm an sein Ohr? Spitze, schrille Schreie der Dame des Hauses! Doch sie klangen nicht verängstigt. Nein, viel eher vorwurfsvoll. Keine Frage, die Dame war tatsächlich eifersüchtig! Bronstein konnte nicht verstehen, was genau gesagt wurde, doch es bestand kein Zweifel daran, dass die Gattin dem Ehemann bittere Vorhaltungen machte und der sich rechtfertigte.

Streitereien in den eigenen vier Wänden waren die denkbar schlechteste Voraussetzung, jemandem ein Autogramm zu entlocken. Bronstein seufzte kurz und drehte sich um. Zumindest vorerst musste das Fräulein Doleschal auf die kostbare Signatur verzichten. Nun ja, ein andermal vielleicht, tröstete sich Bronstein und setzte sich in Bewegung. Er war am Treppenabsatz angelangt, als er einen lauten Knall hörte. Er war zu erfahren, um sich einreden zu können, da sei irgendwo eine Tür zugefallen oder eine Fehlzündung eines Motors erfolgt. Nein, das war eindeutig ein Schuss gewesen! Und seine Erkenntnis wurde durch ein dumpfes Geräusch verstärkt. Der Körper eines getroffenen Menschen, der zu Boden gefallen war.

Ohne zu zögern, eilte er zurück zur Wohnungstür. Die wurde auch schon aufgerissen, und die Ehefrau stand mit irrem Blick vor ihm. Überraschenderweise erkannte sie in ihm sofort den Polizisten vom Vormittag. »Verurteilen Sie mich, ich habe ihn erschossen«, sagte sie tonlos.

Bronstein drängte die Frau zurück in die Wohnung und eilte, sie am Arm festhaltend, in den Salon. Dort lag Grozavescu mit seltsam überraschtem Gesichtsausdruck am Perserteppich, der sich immer mehr mit Blut vollsaugte. Die Frau immer noch festhaltend, eilte er zu der reglosen Gestalt, ging dort in die Knie, was dazu führte, dass die Schützin beinahe umgefallen wäre, und fühlte mit der freien Hand den Puls. Nichts!

»Um Gottes willen, was ist denn da los?« Unbemerkt von Bronstein war die Hausbesorgerin in die Wohnung gekommen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wissen Sie, ob es im Haus einen Arzt gibt?«, schrie Bronstein mehrmals, da es eine Weile dauerte, bis sich die Frau wieder gefangen hatte. Endlich nickte sie. »Einen Stock drüber!«

»Dann holen Sie ihn, und zwar schnell.«

Doch der Arzt hatte nicht mehr viel zu tun. Er sah Bronstein traurig an und schüttelte den Kopf.

»Tja, gnä’ Frau«, sagte Bronstein fast ein wenig bedauernd, »dann werden wir Sie wohl mitnehmen müssen.«

VI.

Bronstein war untröstlich, dem Fräulein Doleschal nun kein Autogramm Grozavescus überreichen zu können. Vielleicht verfolgte er darum umso mehr den Fall, auch wenn er nicht an der Befragung der Frau Grozavescu beteiligt gewesen war. Drei Monate nach der Tat war formell Mordanklage gegen sie erhoben worden, einen guten Monat später begann der Prozess. Da Bronstein ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, nahm er sich zum Zwecke der Fortbildung, wie er es nannte, eine kleine Auszeit von der Büroarbeit und setzte sich in den Schwurgerichtssaal.

Doch was er dort zu hören bekam, erstaunte ihn doch einigermaßen. In den Medien war der Fall schon abgeurteilt gewesen, selbst seine eheliche Untreue hatte man dem Sänger angesichts der Furienhaftigkeit seiner Gattin nachgesehen. Für kein Blatt Wiens war eine andere als die Höchststrafe für den kaltblütigen Mord an einer großen Künstlerseele denkbar.

Die Grozavescu erklärte rundweg, keine Reue oder Schuldgefühle zu empfinden, sie habe sich nur, durch das Verhalten ihres Gatten bis zum Äußersten gereizt, zur Wehr gesetzt, weshalb sie sich auch nicht für schuldig im Sinne der Anklage bekennen könne. Diese Verteidigung schien nicht nur Bronstein absurd. Auch das übrige Publikum gab deutliche Zeichen des Unmuts von sich, das durch sämtliche Zeugenaussagen nur noch bekräftigt wurde. Kein einziger Zeuge ließ auch nur ein gutes Haar an der Mörderin.

»Na ja«, sagte Bronstein, als er am nächsten Tag doch wieder im Amt erschien, »die kriegt den Frack, das ist sicher. Die mag niemand, alle beschreiben ihn als Helden und sie als kranke Hysterikerin mit ausgeprägtem Hang zur Erinnye. Das wird lebenslang am Felsen, wirst sehen.«

Allerdings entnahm Bronstein in den folgenden Tagen den Zeitungen doch merkwürdige Meldungen über den Prozessverlauf. So schien es mit einem Mal, als hätte die Grozavescu doch Grund zur Eifersucht gehabt, da sie ihr Mann mit einer Frau Stransky betrogen zu haben schien. Außerdem war die Grozavescu schon einmal verheiratet gewesen, mit einem Major, von dem offenbar auch die Tatwaffe stammte. Bronstein wurde wieder neugierig. Welche Rolle spielte der in diesem Drama?

Und so begab sich Bronstein doch noch einmal ins Gericht, um die Plädoyers der Anwälte zu hören. Der Staatsanwalt malte den Schrecken und die Verderblichkeit der Tat noch einmal in den düstersten Farben aus, um dann an die Laienrichter zu appellieren: »Meine Herren Geschworenen! Am Abend des 14. Februar 1927 sang Traian Grozavescu den Rigoletto. Er ahnte nicht, dass die Arie ›La donna è mobile‹ – ›Ach, wie so trügerisch sind Frauenherzen, mögen sie klagen, mögen sie scherzen …‹ sein Schwanenlied war! Nelly Grozavescu hat getötet, weil sie töten wollte! Denn als Grozavescu sie nicht nach Berlin mitnehmen wollte, hatte sie erkannt, dass dies das Ende ihrer Herrschaft über ihren Mann war! Der Mann, der bisher ein fügsamer Sklave war, hatte einen Rest von Männlichkeit in sich entdeckt. Wenn auch nur ein Funke der heiligen Flamme in Ihnen glüht, die man die Gerechtigkeit nennt, dann müssen Sie mit dem Wahrspruch herauskommen: Nelly Grozavescu, du bist schuldig und du sollst deine Tat sühnen!«

Der Verteidiger sah die Dinge freilich gänzlich anders. Er plädierte auf geistige Verwirrung seiner Mandantin, und das schien auch die einzige Möglichkeit, wie er sie noch vor der Höchststrafe retten konnte. Seine Rede war dabei so rührselig, dass Bronstein sich lange nicht entscheiden konnte, ob er nun lachen oder doch lieber weinen sollte. Er wurde von Ausdrücken wie »unglückselig«, »arm« und »tragisch« nur so bombardiert, dass er sich am Ende fragte, ob die Grozavescu nicht tatsächlich bloß ein verwirrtes Opfer der Umstände war. Er erinnerte sich an den Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, und war erstmals froh, nicht über sie urteilen zu müssen.

Die Geschworenen waren sich erstaunlich rasch einig. Sie fällten einen Freispruch wegen vorübergehender Verwirrung der Sinne. Bronstein war schon bereit, sich für die Frau, die als freier Mensch das Gericht verlassen konnte, trotz allem zu freuen, als er erstarrte. Die Grozavescu stand auf, lächelte klaren Sinnes und fiel in die Arme eines Mannes, in dem Bronstein deren ersten Gatten erkannte. Arm in Arm mit dem Major entschwand sie glückselig aus dem Gebäude. »Na«, schnalzte Bronstein in die Richtung der Laienrichter, »die hat euch ja schön geleimt.«

VII.

Eigentlich war sein frisch erwachter Eifer für die Oper durch diese Ereignisse jäh wieder abgekühlt. Doch als er Ende Juni im Café ›Herrenhof‹ seine ›Wiener Zeitung‹ las, wurde er plötzlich von einem jungen Feschak aus seiner Lektüre aufgeschreckt. Mit sanfter Tenorstimme fragte der Mann, ob die auf Bronsteins Tisch liegende ›Sportwoche‹ schon frei sei. Der Major sah dem Jüngling in die ausdrucksstarken Augen und war sich sicher, das Gesicht zu kennen. »Entschuldigen der Herr«, begann er daher, »sind Sie nicht der Herr Kiepura?« Der so Angesprochene lächelte. »Ich fürchte, das lässt sich nicht leugnen.«

»Dann, Herr Kiepura, kann ich Ihnen zweierlei sagen. Erstens, die ›Sportwoche‹ ist frei, zweitens, ich gebe sie nicht so einfach her.« Dabei grinste er. »Das kostet Sie etwas, Herr Kiepura.« Nun war der Pole doch erstaunt. Er wollte wohl eben darauf verweisen, dass die Zeitungen in einem Kaffeehaus für alle Gäste frei benützbar waren, als Bronstein nachsetzte: »Ein Autogramm, wenn ich bitten dürfte.«

 

Kiepura nahm den letzten Satz mit spürbarer Erleichterung zur Kenntnis. »Wenn’s weiter nichts ist …«

»Es ist weiter nichts. Und können S’ bitte schreiben: Für Anna Doleschal mit besten Grüßen oder so …«

Letztes Mittagmahl

Dieses Zittern! Diese Nervosität! Diese unerträgliche Angst! Wann hörte das alles endlich auf? Konnte er dem allen nicht Herr werden? War er denn kein Mann? Hunderttausenden war es wie ihm ergangen, und die suhlten sich auch nicht tagein tagaus in ihren vermeintlichen Wehwehchen! Vor allem: Er saß hier, er war gesund, hatte keine Gliedmaßen verloren und war, zumindest theoretisch, voll einsatzfähig.

Weshalb wachte er dann Nacht für Nacht von Albträumen geplagt auf? Er war 33 Jahre alt, da durfte man doch erwarten, dass er sich nicht mehr fürchtete wie ein kleines Kind. Schon gar nicht, wenn die Gefahr längst vorbei war!

Bronstein zündete sich eine Zigarette an und trank den trüben Eichelkaffee ohne jeden Zusatz. Zucker gab es schon lange keinen mehr, und die Milchfrau war am Vortag nicht mehr in ihrem Geschäft gewesen. Warum, so fragte sich Bronstein, während er den Rauch ausblies, musste er immer wieder an Tarnow-Gorlice denken? Eine Woche hatte dieses grauenvolle Schlachten gedauert, und am Ende waren fast 100.000 Soldaten der eigenen Seite und ebenso viele Feinde tot oder verwundet am Schlachtfeld geblieben. Und er, Bronstein, musste sich eingestehen, niemals in seinem Leben hätte er sich so etwas Schreckliches auch nur vorzustellen vermocht.

Mit einer Infanteriedivision der 4. Armee war er als Oberleutnant nach Kleinpolen beordert worden. Dort hatten sie als Erstes erfahren, dass die deutschen Waffenbrüder, namentlich die Generale Mackensen und von Seeckt, den Oberbefehl hatten, was in der Mannschaft sofort für Unruhe sorgte. Bronstein war am ersten Tag mehr damit beschäftigt gewesen, den Leuten zu erklären, dass es egal sei, wer das Oberkommando innehabe, als dass er Zeit für eine Überprüfung der Ausrüstung gefunden hätte. Die einfachen Soldaten hatten es damals schon besser gewusst. Er erinnerte sich an einen böhmischen Lackl, der ihm unverfroren gesagt hatte: »Nichts für ungut, Herr Oberleutnant, aber die Piefke haben da das Kommando, weil sie euch Österreichern nichts mehr zutrauen.« Damals hatte Bronstein den Mann angebrüllt, er solle gefälligst die Disziplin wahren, doch heute blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Tschechen beizupflichten. Die Deutschen trauten den Österreichern tatsächlich nichts zu, und das wurde mit jedem neuen Tag nur offenkundiger.

Damals aber, an jenem 2. Mai 1915, hatten sie die deutschen Offiziere kurz nach sechs Uhr morgens aus den Schützengräben gejagt. Er hatte sich dabei ertappt, wie er an jenen dummen Witz des Schriftstellers Roda Roda denken musste, worin denn der Unterschied zwischen einem ungarischen und einem österreichischen Frontoffizier bestehe. Ersterer rufe »mir nach«, Letzterer »vorwärts«. An diesem Tag wollte Bronstein ein Ungar sein. Er rief lautstark »mir nach« und sprang nach dem Pfeifton aus dem Graben. Geduckt lief er durch das völlig zerfurchte Terrain, das von Geschützfeuer, Maschinengewehrgarben und Minenwerfern bis zur Unkenntlichkeit umgepflügt worden war. Seine 60 Mann folgten ihm in kurzem Abstand. Er hätte es nicht für möglich gehalten, eine Distanz von drei Kilometern im Sprint zurückzulegen, doch nackte Todesangst spornte einen anscheinend zu ungeahnten Höchstleistungen an. Links und rechts pfiffen Kugeln an seinem Helm vorbei, und er war so außer sich, dass er nicht einmal mehr daran zu denken vermochte, eine der Kugeln könnte ihn treffen.

Als sie den Stacheldrahtverhau des gegnerischen Schützengrabens erreicht hatten, bot sich ihm ein Bild der Apokalypse. Leichen über Leichen türmten sich da, in der schwarzen Erde versickerten Ströme von Blut. Hier lagen Gedärme, dort Augäpfel, wiederum dort ein abgetrennter Arm oder ein abgerissenes Bein. Dazu ein pestilenzartiger Gestank, der die ohnehin schon vorhandene Übelkeit nur noch verstärkte. Sein Gehirn gebot ihm, den Draht zu überwinden und in den Schützengraben zu springen. Doch er sah nur diese unbeschreibliche Verwüstung und sich selbst vollkommen bewegungsunfähig.

Erst Wochen später, als er halbwegs wieder auf dem Damm war, erfuhr er im Lazarett vom Ausgang der Schlacht. Lemberg war durch den grandiosen Sieg zurückerobert worden, hieß es, und er, so beschied man ihm, habe unendliches Glück gehabt, dass die Kugel, die ihn am Kamm getroffen hatte, die Schlagader um einen Zentimeter verfehlte. Denn sonst, so lautete das ärztliche Urteil, wäre er dort binnen weniger Augenblicke verblutet. So aber sei er spätestens im Juli wieder voll einsatzfähig. Welch ein Trost!

Und dabei war Tarnow-Gorlice noch gar nicht das Schlimmste gewesen! Der Gasangriff vor einem halben Jahr war es, der für seine Albträume verantwortlich war. Denn immer noch wachte er schweißgebadet mit der fixen Vorstellung auf, er sei gerade im Giftgas erstickt. Er zündete sich eine neue Zigarette an, die er mit fahrigen Bewegungen zum Mund führte. Wie lange, so fragte er sich, konnte man mit dieser beständigen Angst leben? Würde er ihr irgendwann einmal nachgeben? Nach außen hin war es ihm bisher gelungen, die Fassade aufrechtzuerhalten, doch tief in ihm nagte die fortwährende Furcht, die ihn bei der kleinsten unvorhergesehenen Entwicklung schier in Panik ausbrechen ließ.

Mit nicht geringer Erleichterung stellte er fest, dass Samstag war. Wenigstens musste er an diesem Tag nur bis zur Mittagsstunde im Amt ausharren. Danach freilich war ein Lunch mit dem Herrn Papa angesetzt, der sich, wie Bronstein nur zu gut wusste, um den Sprössling ernstlich sorgte. Ihm gegenüber konnte er sich also schwerlich offenbaren, und dies umso weniger, als der Vater sich redlich Mühe gab, dem Sohn wieder in ruhigere Fahrwasser zu verhelfen. So hatte Bronstein senior extra einen Tisch im Hotel ›Meissl & Schadn‹ reserviert, wo es, zumindest nach der Meinung von Karl Kraus, dem Herausgeber der ›Fackel‹, das beste Ochsenbeinfleisch des gesamten Planeten gab. Ein solch lukullisches Mahl durfte man also kaum durch banales Wehklagen über die eigene Befindlichkeit entweihen. Es galt vielmehr, die Zähne zusammenzubeißen und ein ›keine besonderen Vorkommnisse‹ zu rapportieren.

Erfreut stellte er wenig später fest, dass die Straßenbahn klaglos funktionierte und ihn direkt zur Universität fuhr. Der Oktoberwind blies ihm scharf ins Gesicht, als er den Ring abwärts marschierte, sodass ihn fröstelte, als er seine Amtsstube betrat. Er befeuerte den Kanonenofen, rieb sich die Hände und setzte sich dann endlich an seinen Schreibtisch. Stumm blickte er das Porträt Kaiser Franz Josephs an, wie um damit zu signalisieren, dass er nun mit seiner Arbeit beginne.

Im Nachhinein hätte er selbst nicht mehr zu sagen vermocht, wie es ihm gelungen war, die vier Stunden zu überstehen, doch diese Frage zählte nicht angesichts des kleinen Erfolgs, den er über sich selbst und seine Angst errungen hatte. Er durchquerte flotten Schrittes die Schottengasse, hielt dann auf den Graben zu und erreichte so, um einiges zu früh, wie er feststellte, den Neuen Markt. Da er nicht im Freien auf den Vater warten wollte, zog er sich in das Café des Hotels zurück, wo er einen kleinen Braunen und einen Trebernen orderte, sich von Letzterem ein wenig mehr Ruhe und Sicherheit erhoffend.

Er stellte fest, dass er schon zu viele Zigaretten für diese Zeit des Tages geraucht hatte, und so erwarb er beim Kellner eine weitere Packung, dabei inständig hoffend, der Herr Papa würde für das Mittagmahl aufkommen, da seine pekuniäre Lage sonst allzu prekär geworden wäre.

Wie aufs Stichwort erschien die gebeugte Gestalt des alten Bronstein in der Lobby und sah sich mit wachen Augen um. Nahezu im selben Augenblick erspähte er den Sohn, und ein schmales Lächeln zeigte sich auf dem zerfurchten Antlitz. Jener aber überwand behände die Entfernung zwischen ihnen und schüttelte dem Vater freudig die Hand. »Ich freu mich, Papa, dass wir uns endlich wieder einmal sehen.«

»Und ich erst, mein Junge. Du glaubst ja gar nicht, wie fad es ist, wenn man immer nur Zeitung liest und Briefmarkenalben abstaubt. Da tut es gut, wenn man einmal aus der Wieden herauskommt.«

Die beiden wandten sich an einen Pikkolo, und Bron­stein senior verwies auf die von ihm vorgenommene Reservierung. Der Bedienstete sah in einem großen Buch nach, nickte dann und sah die Bronsteins dienstbeflissen an. »Jawohl, die Herrschaften, das wär’ dann im ersten Stock. Die Bedienung dort wird Sie an Ihren Tisch führen.« Die Bronsteins machten sich an den Anstieg und befanden sich eine gute Minute später an der Tür zum großen Speisesaal des Hotels.

Ein Kellner mit weißem Sakko verbeugte sich vor ihnen. »Wenn die gnädigen Herrschaften mir zu folgen belieben.« Dabei machte er eine einladende Geste mit der rechten Hand. Bronstein senior übernahm das Nicken und die Vorhut. Bronstein junior folgte ihm auf dem Fuß. Eigentlich achtete er nur auf das Jackett seines Vaters, und doch entging ihm im Augenwinkel nicht der kahle Schädel mit den kalten Augen, der genau in der Mitte des Saales mit der Einnahme einer Mahlzeit beschäftigt war. Er konnte nicht umhin, seinen Vater anzustupsen und aus bereits sicherer Entfernung einen leichten Wink mit dem Kopf in die Richtung des Bartträgers zu machen. Des Vaters Blick folgte der imaginären Linie, dann zuckte er mit den Schultern. »Der Herr Ministerpräsident«, stellte er leise fest, »der isst jeden Tag hier. Das ist doch kein Geheimnis.«

Der junge Bronstein war nun seit fast zehn Jahren im Staatsdienst, aber Ministerpräsident Graf Stürgkh hatte er noch nie leibhaftig erblickt. So sieht der also aus, der Schinder, dachte er, behielt diesen Gedankengang aber für sich. Schon waren sie an ihrem Tisch angelangt, der sich etwa fünf Meter von jenem des Regierungschefs entfernt befand. Der Kellner rückte den beiden die Stühle zurecht, unmittelbar danach überreichte er ihnen die Menü-Karte. »Der Hirsch wär’ heute besonders zu empfehlen«, flötete er, »mit viel Saft und echten Semmelknödeln.« Bronstein senior beugte sich zum Sohn hinüber und flüsterte: »Wenn er das echt bei den Semmelknödeln so betont, dann heißt das wahrscheinlich, dass der Hirsch nicht echt ist.« Der Sohn gluckste. »Ja, sicher ein armes Karnickel, das posthum befördert wurde.«

Nach einer kleinen Weile entschieden sich beide für eine Leberknödelsuppe, als Hauptgang wählte der Vater Tafelspitz, während sich der Sohn, wohl aus einer Laune heraus, tatsächlich den Hirsch bestellte. Dazu orderten sie eine Karaffe Tafelwein und Wasser. Nachdem die Bestellung abgegeben war, zündete sich der Vater eine Virginier an, während sich der Sohn an seine Zigaretten hielt.

Der Vater begann daraufhin die Konversation mit der Frage, was denn das Verbrechen mache, doch irgendwie vermochte sich Bronstein nicht darauf zu konzentrieren, dem Vater die schuldige Aufmerksamkeit zu schenken. Immer wieder wanderte sein Blick zum Tisch des Ministerpräsidenten, der mit sichtlichem Genuss speiste. Der Mann war kein Trottel, sonst hätte er sich nicht seit fünf Jahren in einem Amt gehalten, dessen Träger üblicherweise schneller aus Selbigem schieden, als man die Visitenkarten mit ihrem Namen drucken konnte. Also musste Stürgkh ganz genau wissen, dass exakt in dieser Minute, als er sich an seinem Mahl erfreute, wieder Zigtausende Männer aus allen Teilen der Monarchie irgendwo an der Front ihren letzten Seufzer taten. Doch das focht den Herrn Ministerpräsidenten sichtlich nicht an.

»Entschuldige, Papa, aber wenn ich den Ministerpräsidenten dort so sehe, dann vergeht mir beinahe der Appetit.«

»Aber warum denn das, mein Sohn?«

»Der sitzt da satt und selbstzufrieden in einem der besten Hotels des Kontinents, und keine 500 Kilometer von hier sterben die Menschen vollkommen sinnlos wie die Fliegen.«

»Bedrückt dich das immer noch so, mein Sohn?«, fragte der alte Bronstein ernsthaft besorgt.

»Wie soll es denn nicht? Die Zahl der Toten geht mittlerweile in die Millionen, und die, die es in der Hand hätten, dieses gnadenlose Gemetzel endlich zu beenden, sitzen da und völlern.«

»Mein lieber David, jetzt tust du ihm aber Unrecht, dem Herrn Grafen! Was hätte er denn tun sollen vor zwei Jahren? Die Ermordung unseres geliebten Erzherzog-Thronfolgers einfach so zur Kenntnis nehmen? Die Monarchie musste auf diesen feigen Anschlag reagieren! Und dass uns der Russe in den Rücken fällt, das war ja nicht vorherzusehen.«

»Mit Verlaub, Papa, genau das musste vorhergesehen werden. Jeder, der auch nur oberflächlich die politischen Entwicklungen verfolgte, wusste, dass die Serben mit den Russen verbündet sind. Und die wiederum mit dem Franzmann und dem Tommy. Also war vollkommen klar, dass diese Auseinandersetzung kein Spaziergang werden würde. Und außerdem, wenn du mir die Bemerkung gestattest, es ist immer leicht, andere in den Krieg zu schicken.«

 

Der Vater verzog das Gesicht. »Der Graf ist fast 60. Soll der sich noch in den Sattel schwingen, oder wie?«

»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur, dass eine Schlacht sich eben ganz anders ausnimmt als eine Parade über die Ringstraße. Glaub mir, Papa, ich habe das damals auch gesehen im Sommer ’14, als alle gejubelt haben, als die Soldaten Blumen an den Bajonetten trugen, als es hieß, man sei Weihnachten wieder zurück. Viele waren schon viel früher zurück. Aber im Leichensack.«

Der Vater seufzte. »So jung, und schon so verbittert.«

»Ich bitte dich, Papa, das hat nichts mit Verbitterung zu tun. Viel eher mit ehrlicher Empörung. Wie kann man so gemütlich dasitzen, wenn der Tod von Hunderttausenden auf einem lastet?«

Das Auftragen der Suppe unterbrach die Debatte für eine kleine Weile. Beide aßen schweigend ihre Vorspeise. Und während der junge Bronstein seine Suppe schlürfte, fiel sein Blick auf eine schüchterne Person, die eben den Saal betrat. Wäre der Mann nicht so jung gewesen, Bron­stein hätte geglaubt, der Chef der Sozialdemokraten habe sich ebenfalls in dieses Etablissement begeben. Doch gleich danach fiel Bronstein ein, dass dieser ja einen Sohn namens Friedrich hatte, der seinem Vater Victor zum Verwechseln ähnlich sah. »Schau, Papa, der junge Adler ist auch da«, sagte er daher zwischen zwei Löffeln Suppe und bewegte dabei sein Kinn in die Richtung des Genannten.

»Nun ja, die Sozialdemokratie weiß halt auch, was gut ist«, zuckte der Vater nur mit den Schultern. Bronstein sah dem alten Herrn deutlich an, dass ihn die Diskussion verärgert hatte, und so beschloss er, nicht mehr auf das Thema zurückzukommen. Während die Teller abserviert wurden, fragte er daher, wie es denn der Frau Mama gehe.

»Na ja, du kennst sie ja. Sie macht sich immer und überall Sorgen. Wenn ich einmal huste, dann will sie schon den Doktor holen. Und deinetwegen löchert sie mich ja auch in einer Tour!«

»Meinetwegen?«

Der Vater machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ob der Bub eh genug einheizt, jetzt, wo’s wieder kalt wird. Und dass er ja auf sich schaut und was G’scheites isst. Sie war es ja eigentlich, die g’sagt hat, wir sollen da hergehen, damit du ja was Ordentliches zwischen die Zähne kriegst.«

Unweigerlich musste Bronstein schmunzeln. Ja, das passte zu seiner Mutter. Er war halt doch ihr ein und alles. Für den Sprössling nur das Beste! Mit einigem Befremden erinnerte er sich daran, dass sie ihm anno ’14 einen ganzen Koffer mit Kleidung hatte mitgeben wollen, als er an die Front abreiste. Er musste sie damals inständig bitten, ihn nicht vor den Männern zu blamieren, und deutlich hatte er ihr die Enttäuschung angesehen, als er die Übernahme des Koffers verweigerte, nach dessen Inhalt er sich im Winter ’14 auf ’15 nicht nur einmal gesehnt hatte!

Ich wette, solche Probleme hat der Herr Ministerpräsident nicht, dachte er sich, während der Vater von irgendeinem Treffen mit alten Freunden berichtete. Die Worte drangen aber nur wie aus weiter Ferne an Bronsteins Ohr, denn er war völlig fasziniert von dem Bild, das sich ihm bot. Er, Bronstein, saß da und fixierte den Regierungschef, während, genau spiegelverkehrt, auf der anderen Seite des Raumes der junge Adler saß, der, ja, den Regierungschef fixierte. Dieser wiederum schlürfte seinen Kognak und schien von der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, rein gar nichts zu ahnen.

Rundum erhoben sich mehr und mehr Gäste, die offensichtlich ihr Mahl beendet hatten. Kein Wunder, es war ja auch bereits nach zwei Uhr. Allein dem Ministerpräsidenten hatten sich noch zwei ältere Herren hinzugesellt, wobei es der alte Bronstein mit Wohlgefallen registrierte, dass ihn einer der beiden durch ein Kopfnicken grüßte. »Das ist der alte Aehrenthal«, belehrte der Vater den Sohn, »der Cousin vom Herrn Außenminister a.D., den kenn ich noch von der gemeinsamen Zeit im Ministerium.«

Es war offensichtlich, dass die beiden Herren etwas mit dem Ministerpräsidenten zu besprechen hatten, denn sie bestellten nur Wein, aber keine Mahlzeit. Auch die beiden Bronsteins waren mittlerweile mit dem Hauptgang fertig, sodass Ruhe in der Räumlichkeit einkehrte. Die beiden Bronsteins rauchten, die drei Politiker diskutierten leise, und der versonnene Adler nippte an einem Mineralwasserglas.

Irgendetwas hatte Bronstein irritiert. Mit einem Mal saß der junge Adler so krumm am Tisch, als laste alle Not der Welt auf seinen Schultern. Doch das war es nicht, was Bronstein neugierig machte. Es schien, als blitze etwas unter dem Tischtuch hervor. Hantierte der junge Mann wie ein Schuljunge unter der Bank mit einem Gegenstand?

Ach, wahrscheinlich war es nur das Portemonnaie gewesen, denn jetzt erhob sich Adler und ging wohl, um seine Rechnung beim Zahlkellner zu begleichen.

Aber halt! Der Mann ging in die falsche Richtung. Statt dem Ausgang strebte er dem Tisch Stürgkhs zu. Nun gut, immerhin waren beide Politiker. Vielleicht gab es etwas über alle Parteigrenzen hinweg zu besprechen oder auch nur einen Termin für ein diesbezügliches Treffen zu vereinbaren. Bronstein wollte sich schon wieder von der Szene abwenden und die Unterhaltung mit dem Vater wieder aufgreifen, als er plötzlich sah, wie Adler in seine Sakkotasche griff, etwas Metallenes daraus hervorbeförderte und den Arm in Richtung des Ministerpräsidenten ausstreckte.

Der Vater erschrak halb zu Tode, als der Sohn abrupt von seinem Sessel aufsprang. Dieser hatte jene Reaktion gesetzt, als ihm bewusst geworden war, dass Adler eine Waffe in Händen hielt. Er wollte selbst zu seiner Dienstpistole greifen, doch wie so oft in seinem Leben führte er selbige gar nicht mit sich, was ihn innerlich einen Fluch ausstoßen ließ. Dann blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Warnruf auszustoßen. Doch der ging bereits im Lärm, der nun durch den gesamten Saal tönte, unter.

Adler war bis auf wenige Zentimeter an Stürgkh herangekommen und feuerte ohne weiteres Zögern drei Mal auf den Regierungschef, noch ehe Bronstein auch nur einen einzigen Schritt in die Nähe des Tisches hatte machen können. Deutlich sah Bronstein, wie der Kopf des Mannes getroffen wurde. Bronsteins Schrei war verstummt, sein Mund blieb offen, und sein ganzer Körper wirkte wie eine Statue. Nun drehte sich auch sein Vater, so schnell er es eben vermochte, um. Beide sahen mit schreckgeweiteten Augen, wie der Leib des Grafen langsam den Sessel abwärtsrutschte. Adler betrachtete noch einmal den hinscheidenden Mann und strebte dann dem Ausgang zu. »Aufhalten! Den muss man aufhalten«, stammelte Bron­steins Vater automatisch. Während er diese Worte hervorstieß, schien sich der alte Mann darauf zu besinnen, dass sein Sohn Polizist war, und so wendete er seinen Kopf abermals und sah seinen Junior auffordernd an.

Dieser versuchte nun auch endlich, sich selbst in Bewegung zu setzen. Adler hatte die Tür bereits fast erreicht, als er von Aehrenthal und dem zweiten Mann eingeholt wurde. Ein wildes Handgemenge entstand. Gerade als Bronstein die Gruppe erreichte und sich mit seiner Kokarde entsprechende Autorität verschaffen wollte, krachte ein weiterer Schuss, der sich wohl im Gefolge des Ringens der Männer gelöst hatte. Bronstein duckte sich und meinte, die Kugel sei haarscharf an ihm vorbeigeflogen. Dann jedoch erkannte er, dass Aehrenthal stöhnend zu Boden ging. Anscheinend hatte der Schuss ihn getroffen. Bronstein war darüber so erschrocken, dass er laut »genug jetzt« rief. Tatsächlich hielten die beiden auf den Beinen verbliebenen Männer inne und sahen den Neuzugang neugierig an. Bronstein hob nun wirklich seine Kokarde und erklärte mit ihn selbst erstaunender fester Stimme: »Herr Adler, Sie sind festgenommen!«