Wiener Bagage

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der zeigte keinerlei Absicht, sich zu wehren, und händigte Bronstein die Waffe aus. Einige Kellner kamen herbeigelaufen und wollten Adler fesseln. Bronstein hob die Hand und sah dabei Adler fest in die Augen: »Sie werden uns jetzt keine Schwierigkeiten machen, oder, Herr Adler?« Dieser stand nur stocksteif da und schüttelte den Kopf. »Gut, dann verzichte ich darauf, sie zu fesseln.« An die Kellner gewandt, meinte er: »Lasst ihn nicht aus den Augen! Wo kann ich hier telefonieren?« Ein Kellner deutete zur Schank, wo Bronstein tatsächlich einen Apparat stehen sah. Er ging hin und wählte die Vermittlung an.

»Das Polizeipräsidium, bitte. Oberinspektor Nechyba.«

Nach einigem Knacksen und Knacken in der Leitung hörte er den polternden Bass seines Vorgesetzten. »Was ist?«, knurrte der kurz angebunden.

»Chef, Sie sollten ganz schnell ins ›Meissl & Schadn‹ kommen! Sie werden nicht glauben, was gerade passiert ist.«

Geständnis im Dom

I.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, vergeben Sie mir, Vater, denn ich habe gesündigt.«

Pater Gerhard stützte seinen Kopf in die rechte Hand. Seit zwei Stunden saß er nun schon im Beichtstuhl im hinteren Teil des Stephansdoms und er konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass ihn die Litaneien der Gläubigen langweilten. Zumeist, dies war seine zentrale Erkenntnis aus fast zwei Jahrzehnten als Geistlicher, beichteten just jene, die am wenigsten Grund dazu hatten. Vor allem die alten Frauen nervten ihn. In ihrer panischen Angst, demnächst abberufen zu werden und dann nicht ihrem Schöpfer gegenübertreten zu dürfen, weil auf ihnen ach so schreckliche Sünden lasteten – die Bandbreite reichte von einem furchtbaren Fluch á la »Fix Laudon« bis zu einem Stück Dürre an einem Freitag –, trieb sie fast jeden Tag in den Beichtstuhl. Wobei es auch durchaus möglich war, dass sie einfach nur eine Art Ansprache suchten, die sie in dieser neuen Zeit, da alles immer schneller zu werden drohte, nicht mehr finden konnten. Und als Gottesdiener hatte man ganz einfach Verantwortung für die Herde. Und wenn sie sich fürchtete, dann musste eben der gute Hirte dafür sorgen, dass der Herde kein Leid widerfuhr.

Immerhin aber hatte da eben ein Mann seine Beichte eingeleitet. Das mochte für ein wenig Abwechslung sorgen. Männer trieb es in der Regel dann in den Beichtstuhl, wenn sie gegen das 7. Gebot verstoßen hatten, und mit etwas Glück würde er dem Mann dann ein paar Details entlocken, die ihm, aus rein sachlichen Gründen natürlich, ein klareres Bild geben könnten, wodurch die Zeit dann nicht gar so lang werden mochte.

»Meine letzte Beichte war … ach, das weiß ich nicht mehr, Vater. Bitte vergebt mir.«

Pater Gerhard wusste, nun musste er etwas sagen. »Sprich weiter, mein Sohn. Was bedrückt dich?«

»Ich habe ein Menschenleben ausgelöscht.«

Pater Gerhard fuhr hoch. Hatte er da eben richtig gehört?

»Wie war das eben, mein Sohn?« Der Gottesmann wollte sich des gerade Gehörten versichern.

»Ja, Vater, es ist wahr. Ich habe getötet. Und ich bereue zutiefst.« Der Mann im Beichtstuhl seufzte hörbar. »Ach, wenn ich es nur ungeschehen machen könnte. Aber die Tat ist getan, und ich, ach … ich weiß nicht weiter! Helfen Sie mir, Vater! Vergeben Sie mir.«

Pater Gerhard rutschte nervös auf seiner Sitzgelegenheit hin und her. Mit einer solchen Äußerung war er noch nie in seinem ganzen Leben konfrontiert worden. Er musste sich eingestehen, nicht zu wissen, wie er nun reagieren sollte.

»Aber mein Sohn«, stammelte er, »was ist geschehen?«

»Ich habe mir nicht mehr zu helfen gewusst«, kam es von der anderen Seite des Beichtstuhls, »sie war … ein Teufel in Menschengestalt. Eigentlich war es … Notwehr.«

»So erkläre dich doch, mein Sohn«, forderte der Pater den Beichtenden auf, »ich kann dir Gottes Vergebung nicht geben, wenn du mir nicht genau sagst, worum es eigentlich geht.«

Wieder kam ein Seufzen. Es war offenkundig, dass der Mann sich zu sammeln versuchte, sich ein Korsett zurecht legte, das ihn in der Schilderung seiner Tat stützen sollte. Der Priester aber vermochte sich kaum noch zurückzuhalten. Um ein Haar hätte er den Sünder angebrüllt, er solle endlich reden. Doch das verbat die Situation, Pater Gerhard atmete tief durch und sandte ein Stoßgebet zum Himmel.

»Ich war immer ein gottesfürchtiger Mann, das müssen Sie mir glauben, Vater. Das war ich wirklich.«

»Schon recht«, replizierte der Pater eilig, »aber wer war nun der Teufel in Menschengestalt?«

»Das … ist nicht … so einfach …«

»Wer?«, beharrte der Priester, »deine Frau?«

»Aber ich bin doch ledig«, entfuhr es dem Beichtenden.

»Dann eine … Venuspriesterin?«

»Wie meinen?«

»Eine Dirne, eine Liebesdienerin, eine Bordsteinschwalbe …«

»Aber Vater, wie reden Sie von meiner Schwester?«

Immerhin, so dachte sich Pater Gerhard, wusste er nun, wen der Mann auf dem Gewissen hatte. Aber was nutzte ihm diese Information, hier in den hehren Hallen des Wiener Stephansdoms? Vor allem handelte es sich hier um eine Gewalttat! Konnte er die überhaupt den Behörden gegenüber verschweigen? Mein Gott, er befand sich in einem wahren Gewissenskonflikt, und das nur, weil dieser Mörder ausgerechnet jetzt den Weg zu seinem Beichtstuhl gefunden hatte.

»Ihre Schwester also? Warum war sie der Teufel?«

»Ausgenützt hat sie mich. Seit ich denken kann. Das hätte ich ja noch hingenommen, aber dann ist sie auch noch dazu übergegangen, mich absichtlich zu quälen. … Und, Vater, … krümmt sich nicht auch ein Wurm, wenn er getreten wird?«

»Sie hat dich gequält? In welcher Weise, mein Sohn?«

Nur wenige Augenblicke später sollte Pater Gerhard die Frage bereuen, denn was er zu hören bekam, ließ ihn sich mehrfach bekreuzigen. Jener Mensch, der da Erleichterung im Beichtstuhl gesucht hatte, erwies sich als weitaus üblerer Sünder, als er ursprünglich angenommen hatte. »Dass sie mich nie ernst genommen hat, damit konnte ich ja noch leben. Ebenso damit, dass sie mir jeden Heller sofort abgenommen hat. Und dass sie sich in meiner Wohnung aufführte, als gehörte sie ihr. Doch dann, die Geschichte mit Christoph, die konnte ich ihr einfach nicht nachsehen.«

An dieser Stelle hatte Pater Gerhard naturgemäß gefragt, wer denn nun Christoph sei. Und da stellte sich heraus, dass es sich bei jenem Christoph um den Mann handelte, in den sich der Beichtende unsterblich verliebt hatte. In einer dunklen Stunde, so berichtete er weiter, habe er seiner Schwester von dieser Leidenschaft erzählt. »Und da hat sie sich den Christoph einfach geangelt. Sie kam mitten in der Nacht nach Hause, ihn im Schlepptau. Ich hab’ sie angefleht, das nicht zu tun, doch sie hat nur gelacht, ihn vor meinen Augen ausgezogen und sich ihm hingegeben.«

Das war nun normalerweise die Stelle, an der Pater Gerhard gerne nach Details fragte, doch die Lust auf solche Erzählungen war ihm gründlich vergangen. »Die beiden haben fleischlich miteinander verkehrt. Vor meinen Augen. Angefleht hab’ ich sie, damit aufzuhören, doch sie hat nur gelacht. Nur gelacht.«

Pater Gerhard wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er in den Tiefen des gotischen Gemäuers jemals so etwas wie Hitze empfinden würde, doch angesichts der Offenbarungen, die ihm hier zuteil wurden, vermochte er keinesfalls, kühlen Kopf zu bewahren.

»Und dann, Vater, … dann habe ich die Bratpfanne genommen und … und zugeschlagen!«

Pater Gerhard schnellte nach vorn. Die Bratpfanne? Das konnte doch unmöglich des Mannes Ernst sein! Hatte man schon jemals davon gehört, dass jemand durch einen Schlag mit der Bratpfanne zu Tode gekommen war?

»Du hast sie mit einer Bratpfanne erschlagen?«

»Aber geh! Herr Pfa… Hochwürden! Ich habe beiden das Pfandl über den Schädel gezogen, damit sie ohnmächtig werden. Und dann hab ich alles fest zugemacht und das Gas aufdreht. Ich hab’ mir dacht, dann spüren sie wenigstens nichts, wenn sie hinübergehen in die andere Welt. Und dann bin ich weggegangen, weil ich mich besaufen wollt’. Und … immer hab ich daran denken müssen. Immer hab’ ich mir g’sagt, jetzt sind s’ bestimmt schon tot. Jetzt aber sicher. Und dann hab ich es nicht mehr ausgehalten und bin hierher in den Dom gegangen. Oh Gott! Was habe ich nur getan.«

Pater Gerhard war sich sicher, den Mann auf der anderen Seite weinen zu hören. Daher brauchte es eine Weile, bis ihm die Bedeutung des zuletzt Gesagten voll bewusst wurde. »Das heißt, du weißt gar nicht, ob du sie getötet hast?«

»Na ja«, der Mann zog schniefend Rotz hoch, »das war ja schon vor Stunden. In der Zwischenzeit müssen die ganz einfach erstickt sein …«

»Aber was, wenn nicht? Vielleicht kannst du sie noch retten!«

»Sie noch retten …«, echote der Mann. Dann hörte Pater Gerhard ein merkwürdiges Rumoren. Der haut ab, dachte er sich, mitten in der Beichte. Das Knarren des Holzes ließ keinen anderen Schluss zu. Der Priester erhob sich und öffnete die Tür des Beichtstuhls. Tatsächlich sah er eine kleine ärmlich gekleidete Gestalt an der Kanzel des Meisters Pilgram vorbei in Richtung des Seitenausgangs laufen. Pater Gerhard wollte die Verfolgung aufnehmen, doch sein Alter, vor allem aber sein Körperumfang, ließen ihn dieses Vorhaben bald aufgeben. Als er endlich auch ins Freie kam, war von dem Mann keine Spur mehr zu sehen.

II.

»Sie glauben also, Ihnen hätte jemand zwei Morde gestanden, aber Sie sind sich nicht sicher, ob das auch stimmt. Ist das soweit richtig, Hochwürden?«

Bronstein ließ den Blick auf dem Geistlichen ruhen, der unruhig auf dem Besuchersessel hin und her rutschte. »Schauen Sie, Herr Kommissar, eigentlich hat mir der Mann seine Tat in der Beichte anvertraut. Also gilt das Beichtgeheimnis. Ich dürfte Ihnen ergo nicht einmal unter Androhung der Folter davon berichten, was der Mann mir gesagt hat. Aber andererseits war es ja gar keine vollständige Beichte, da ich nicht dazu kam, ihm die Absolution zu erteilen, und außerdem besteht immerhin die Möglichkeit, dass seine Opfer noch leben, sodass sie eventuell gerettet werden könnten. Und wer weiß«, fügte der Pater hinzu, »ob er es sich dann nicht doch wieder anders überlegt und sie ganz totmacht, falls sie noch am Leben sein sollten.«

 

»Nun, der Gedanke ist nicht abwegig«, konzedierte Bronstein. »Wann war der Mann bei Ihnen?«

»Ich würde sagen, vor einer guten halben Stunde. Sowie er aus der Kirche geflohen ist, habe ich vor dem Dom ein Taxi genommen und bin hierher gefahren. Die Tat, von der er sprach, müsste demnach vor knapp fünf Stunden begangen worden sein.«

Bronstein seufzte. »Aber Hochwürden, wie stellen Sie sich das vor? Wir können doch unmöglich ganz Wien durchkämmen, um herauszufinden, ob irgendwo jemand einer Gasvergiftung erlegen ist. Und solange nicht erwiesen ist, dass jemand einem Verbrechen zum Opfer fiel, gibt es für uns auch keinen Fall und daher auch keinen Verdächtigen. Es tut mir leid, aber ich wüsste nicht, wo ich hier zu einer konkreten Handlung ansetzen sollte.«

Die Miene des Paters gefror. »Ich habe mein Möglichstes getan. Ich habe das Beichtgeheimnis verletzt, um zwei Menschen zu retten. Wenn Sie nichts tun, dann liegt das in Ihrer Verantwortung. Nicht in meiner!«

»Beruhigen Sie sich, werter Herr Pfarrer«, begütigte ihn Bronstein, »niemand wird Sie irgendeiner Fehlleistung beschuldigen. Aber wir wissen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ja nicht einmal, ob das überhaupt stimmt, was der Ihnen erzählt hat. Vielleicht ist das nur ein Gestörter, der sich das ausgedacht hat. Dann wäre es doppelt unangenehm, wenn wir hier mit der vollen Mannschaft ausrücken und ein Hornberger Schießen veranstalten würden. Nein, nein, Hochwürden, gehen Sie beruhigt nach Hause auf den Stephansplatz. Sollte uns wirklich ein Fall gemeldet werden, der den von Ihnen gemachten Beobachtungen entspricht, werde ich Sie natürlich sofort aufsuchen, denn dann können Ihre Ausführungen für uns von größter Wichtigkeit sein.«

Der Gottesmann zögerte noch eine kleine Weile, dann erhob er sich, nickte kurz und verließ Bronsteins Büro. Der seufzte noch einmal, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Zeitungslektüre zu.

Als Bronstein von der Mittagspause zurückkehrte, war er eben im Begriff, sich an seinen Schreibtisch zu setzen, als sich Pokorny vernehmen ließ: »Wir haben zwei Tote in der Beatrixgasse. Gasvergiftung. Aber der …« Bron­stein fuhr hoch: »Was sagst du da?«

»Beatrixgasse 7. Weißt eh, dritter Bezirk. Zwei Tote durch Gasvergiftung, Verdacht auf Fremdeinwirkung«, wiederholte Pokorny ungewöhnlich wortkarg. Bronstein war in der Zwischenzeit auf ihn zugestürmt, hatte ihn am Ärmel gepackt und Richtung Ausgang geschoben. Vor dem Präsidium sprang Bronstein überraschend behände in den eben einfahrenden Ringwagen und trieb Pokorny zur Eile an. »Ich versteh’ gar nicht, warum es dich auf einmal so pressiert. Ich mein’, die zwei sind in einer halben Stund’ auch noch tot. Da brauch’ ma jetzt nicht hetzen wie die wilde Jagd.«

»Doch, weil … ach was, ich erklär’s dir später.«

In der Beatrixgasse angekommen stürmte Bronstein förmlich die Treppe hinauf und kam erst zur Ruhe, als er in der genannten Wohnung die Bescherung mit eigenen Augen sah. Am Boden lagen ein ziemlich geckenhaft aussehender Mann von Anfang, Mitte 20 und eine grelle Blondine mit üppigen Brüsten, die sich in einem ähnlichen Alter befunden haben musste. Beide waren nackt, was Pokorny zu einem verlegenen Hüsteln veranlasste. Bronstein wandte sich an den Hausmeister, der den Beamten in die Wohnung gefolgt war.

»Wissen Sie, wer die Toten sind?«

»Die Frau ist die Marie Oberhollerer. Sie ist … war, wenn S’ so wollen, Herr Inspektor, die Schwester vom Wohnungsmieter, dem Josef Oberhollerer. Den Herrn da, den kenn ich nicht. Der ist da fremd.«

Bronstein nickte kurz. »Und wann haben S’ die zwei da g’funden?«

»Ich?« Der Hausmeister gab sich erstaunt. »Ich gar nicht. Vor einer halben Stund’ hat mich der Oberhollerer aus der Wohnung pumpert und hat g’schrien, ein Unglück ist g’scheh’n. Na bin ich rauf, nachschau’n, ned? Und da hab ich das da g’seh’n.« Dabei deutete er auf die Toten. »Na, bin ich sofort wieder runter, doch da war der Oberhollerer schon nimmer da. Ich hab’ mir gleich denkt, da stimmt was nicht, weil sonst pascht der ja nicht einfach so ab, und drum bin ich zum Hirschen in der Ungargasse gangen, weil der ja ein Telefon hat. Na und von dort hab’ ich dann Sie ang’rufen.«

Bronstein blieb nur, seine ursprüngliche Kopfbewegung zu wiederholen. »Oberhollerer, sagen Sie?«, meinte er dann, Bestätigung heischend, in Richtung des Hausmeisters. Worauf dieser es Bronstein nachmachte und ebenfalls nickte. »Gut. Dann lassen wir einmal die Kollegen ran. Die sollen die zwei auf die Gerichtsmedizin bringen. Aber so, wie’s ausschaut, ist das Ergebnis eh klar. Und ein Geständnis hamma praktisch auch.«

»Ah, war das gar kein Unglück, war das ein Mord?«

Bronstein ärgerte sich insgeheim darüber, sich in Gegenwart des Hausmeisters verplappert zu haben, doch gelang es ihm, seinen Fehler rasch auszubügeln. »Na ja, wenn es ein Unfall gewesen wäre, dann wär’ der Oberhollerer ja ned abpascht, ned wahr?« Der Hausmeister gab sich mit dieser Antwort zufrieden.

Zwei Stunden später saß Pokorny bei Bronstein im Büro und referierte, was er bei den diversen Behörden über Oberhollerer in Erfahrung gebracht hatte. Polizeilich war der Mann zwar noch nicht aktenkundig geworden, aber es existierten Aufzeichnungen über ihn beim Bundesheer und beim Arbeitsamt. Demnach war Oberhollerer unmittelbar nach dem großen Krieg beim Heer geblieben, ehe er vor zwei Jahren aus dem Militärdienst entlassen worden war. Er hatte sich als Tellerwäscher in einem Restaurant, als Tischabräumer in einem Café und zuletzt als Brotschani in einer Buschenschank durchgeschlagen, war nun aber bereits seit einem Jahr arbeitslos und daher ausgesteuert. Von der Hausverwaltung der Beatrixgasse erfuhren sie weiters, dass Oberhollerer zuletzt mit der Miete in Rückstand geraten war, sodass seine Delogierung nur noch eine Frage weniger Wochen war.

Seine Schwester wiederum war seit einem Jahr in der Beatrixgasse gemeldet gewesen. Fast zehn Jahre jünger als ihr Bruder, dürfte sie keinerlei Beschäftigung nachgegangen sein. Der Hausmeister hatte jedoch bei der Befragung angegeben, dass sie wohl als ›Geheime‹ angeschafft habe, wenngleich er, der Hausmeister, natürlich nichts gesagt haben wollte. Ob nun der zweite Tote ein Freier oder aber der Liebhaber der Maria Oberhollerer war, ließ sich vorerst nicht sagen, da über seine Identität nichts in Erfahrung zu bringen war. Zwar gab es die Aussage des Paters, wonach der Mann Christoph geheißen hatte, doch Christophs gab es viele in Wien. Bronstein beschloss, diese Frage vorläufig außer Acht zu lassen. Stattdessen gab er Pokorny den Auftrag, eine Großfahndung nach Josef Oberhollerer hinauszugeben. Er war zwar mehr als skeptisch, dass der Mann auf diese Weise wirklich geschnappt werden konnte, doch schadete es auch nichts, die größeren Bahnhöfe überwachen zu lassen, wenngleich die Personenbeschreibung, die man geben konnte, mehr als vage war.

III.

Natürlich blieb Oberhollerer verschwunden. Bronstein konnte es nach zwei Tagen auch nicht mehr verantworten, die Kollegen weiterhin am West- und am Südbahnhof, am Franz-Josephs-Bahnhof und am Nordbahnhof herumstehen zu lassen. Die ganze Sache drohte, auf Frist gelegt werden zu müssen. Bronsteins Laune war dementsprechend. Nicht einmal die Zigarette schmeckte ihm, als er lautstark über den schlechten Kaffee lamentierte. Da kam ihm Pokorny gerade recht. Dieser hatte eigentlich versucht, den Chef mit einer alten Anekdote aufzuheitern, als dieser ihn brüsk anfuhr: »Weißt was, Pokorny, deine alten Kamellen kannst du dir einrexen. Die brauch ich jetzt wie einen Kropf.« Unweigerlich schreckte Pokorny verletzt zurück und sah zu, dass er aus dem Zimmer kam.

»Was ist denn noch, verdammt noch einmal! Hast ned mitgekriegt, dass ich meine Ruhe haben will, sapperlot?!«

»Doch, Chef, aber da ist ein Anruf. Aus dem Erzbischöflichen Palais. Irgendein geistlicher Herr. Er sagt, er weiß was über den Oberholl…«

Bronstein war aufgesprungen und hatte sich in Windeseile an Pokorny vorbeigezwängt. »Jetzt gib schon her, du Unglückswurm!« Hektisch griff er nach dem Apparat. »Pater Gerhard?«

»Nein, Pater Sebastian. Aber ich rufe im Auftrag von Pater Gerhard an. Der hat mir gesagt, ich soll Sie verlangen, weil Sie über die ganze Sache Bescheid wissen.«

»Ja, der Fall Oberhollerer, ich bin im Bilde. Was will mir der Herr Pater ausrichten?«

»Also, er sagt, er ist sich nicht sicher, weil er den Oberhollerer ja nur g’hört und danach nur ganz kurz von hinten g’sehen hat, ned wahr. Aber er glaubt, dass der Oberhollerer jetzt gerade im Dom ist. Er sitzt im Gestühl bei der Kanzel und betet. Pater Gerhard beobachtet ihn vom Abgang zur Gruft aus, und deswegen hat er mich herübergeschickt, damit ich Sie anruf’.«

Bronstein dankte dem Geistlichen und legte auf. »Pokorny!«, brüllte er dann, »sofort einen Streifenwagen. Aber fix a no! Wir müssen zum Dom.«

Als sich der Wagen durch die Innenstadt schlängelte, quengelte Bronstein wie ein kleines Kind. »Geht das nicht schneller, Herrschaftszeiten!« Der Fahrer tat, was er konnte, doch die engen, verwinkelten Gassen verunmöglichten eine höhere Geschwindigkeit.

»Sakrament, da sind wir ja zu Fuß schneller«, fluchte Bronstein.

»Wollen Sie’s ausprobieren, Herr Major? Ich lass Sie gerne aussteigen«, gab der Fahrer über die Schulter zurück. Bronstein schluckte seine Antwort tapfer hinunter. Endlich hatten sie den Graben erreicht und donnerten mit neu aufgenommenem Schwung zum Stock-im-Eisen-Platz. Dort kam der mächtige Dom deutlich ins Bild. Bron­stein sah die beiden Heidentürme und das Riesentor und wünschte sich, er wäre bereits darin verschwunden. Wenn er bloß noch da ist, der Halunke, betete er.

Das Automobil bog nach links ab und blieb direkt vor dem Haupteingang stehen. Bronstein hechtete aus dem Fond und eilte schnurstracks in die Kirche. Er war sicher schon Dutzende Male im Dom gewesen, doch erst jetzt fielen ihm dessen gewaltigen Dimensionen auf. Der Hauptaltar war so weit von ihm entfernt, dass er nicht einmal ansatzweise erkennen konnte, was dieser darstellte.

Doch dem galt sein Interesse ohnehin nicht. Bron­stein blickte nach links. Dort musste sich, soweit er sich erinnerte, irgendwo die Kanzel befinden. In Bronstein rangen zwei Seelen. Einerseits wollte er weiterhasten, um keine Zeit zu verlieren, andererseits hätte übertriebene Eile den Mann, wenn er denn noch da war, vorzeitig gewarnt. Gemessenen Schrittes ging er also vorwärts und wurde in der Mitte des Langhauses endlich der Kanzel ansichtig.

Dunkel erinnerte er sich an seine Schulzeit. Damals hatte man ihn gelehrt, dass die vier Gesichter, die an der Außenseite der Kanzel angebracht waren, die vier lateinischen Kirchenväter darstellten. Ambrosius, Augustinus und Gregor fielen ihm sofort ein. Wer war noch mal der vierte gewesen? Ach ja, Hieronymus. Die Figuren an der Säule stellten die Apostel dar. Auch das wusste Bronstein noch, wiewohl er auf Anhieb nur den Heiligen Andreas erkannte, und auch den nur wegen seines charakteristischen Kreuzes.

Doch deshalb war er ja ohnehin nicht da. Hektisch sah er sich nach Pater Gerhard um. Er entdeckte ihn im linken Seitenschiff, und er kam nicht umhin, festzustellen, dass der Geistliche in seiner Pose stark an den ›Fenstergucker‹ gemahnte, der seit einem halben Jahrtausend aus dem Sockel der Kanzel in das Kircheninnere blickte. Nun hatte ihn auch der Pater gesehen, und dieser deutete auf ein Männchen, das in der zweiten Reihe kniete und ins Gebet vertieft schien. Bronstein trat langsam näher und setzte sich in die dritte Reihe, direkt hinter Oberhollerer.

Er wartete einen Augenblick, dann beugte er sich langsam nach vor. »Oberhollerer, gib auf! Du hast keine Chance mehr.«

Tatsächlich fuhr der so Angesprochene hoch, und noch ehe Bronstein reagieren konnte, stürzte der Mann aus der Bank und wollte Richtung Ausgang eilen. Doch sah er den uniformierten Fahrer direkt vor sich, weshalb er augenblicklich eine Drehung vollführte, um zum Seitenausgang zu gelangen. Dort freilich stand Pokorny und winkte aufmunternd mit der Kokarde. Oberhollerer wandte sich dem Hauptaltar zu und erkannte dort den Priester wieder, der ihm zwei Tage zuvor die Beichte abgenommen hatte. Mit Bronstein, der sich endlich auch aus dem Gestühl geschält hatte, im Rücken, blieb Oberhollerer nur noch ein einziger Fluchtweg. Er rannte auf die Kanzel zu. Mittlerweile hatte auch der Fahrer Bronstein erreicht. Er deutete auf den Kanzelaufgang.

 

»So ein Trottel! Was will er dort oben? Da kommt er ja nicht weiter.«

»Richtig«, bestätigte Bronstein, »aber es ist passend. Da gibt es den Kampf der Frösche mit den Lurchen. Gut gegen Böse. Vor allem, weil das Gute g’winnt.« Es war dem Fahrer anzusehen, dass er kein Wort verstanden hatte, aber sicherheitshalber nickte er. Die drei Polizisten begaben sich zur Kanzel und sahen, wie Oberhollerer oben ins Straucheln kam. Beim Versuch, sich festzuhalten, war er an der Abschlussfigur des Geländers, dem sogenannten ›Hündchen ohne Furcht‹ angekommen, von dem er in seiner Aufregung geglaubt haben mochte, es sei wirklich ein Hund. Darob war er erschreckt zurückgefahren, hatte das Gleichgewicht verloren und fiel nun unter einem entsetzlichen Schrei die gewundene Treppe abwärts.

»Na servas«, schnalzte der Uniformierte mit der Zunge, »da bricht er sich jetzt eh des G’nack.«

»So viel Glück wird er ned haben«, konstatierte Bron­stein, und tatsächlich lag wenige Sekunden später ein wimmernder Oberhollerer zu ihren Füßen.

»Na ja, Oberhollerer, Doppelmord. Das wird der Frack. Am Felsen. Weißt eh.« Bronsteins Lakonie schien selbst Pater Gerhard das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Instinktiv beugte er sich zu dem gefallenen Sünder hinab und machte das Kreuzzeichen.

»Ego te absolvo«, sagte er laut und vernehmlich.

»Ja, Sie«, replizierte Bronstein knapp, »aber ned die Gesellschaft. Die kastelt ihn ein.« Dann wandte er sich an seine Kollegen: »Also, pack ma’s. Klaubt’s ihn auf und auße mit eam.« Schließlich nickte er Pater Gerhard zu. »Danke für die Hilfe, Hochwürden.«

Als der Geistliche darauf nichts erwiderte, trieb Bron­stein ohne weitere Verzögerung seine Kollegen zum Ausgang. »Ite missa est«, flötete er. Pokorny fiel keine bessere Antwort ein als »Amen«.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?