Handbuch des Strafrechts

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IV. Kriminologische Einordnung



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Auch aus kriminologischer Sicht kommt den Tatbeständen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit eine hervorgehobene Bedeutung zu, während es sich zugleich um ein sehr diverses Deliktsfeld handelt. Während die Straftaten im Straßenverkehr in den Bereich der „Abweichung der Angepassten“ gezählt werden und als solche eine besondere Rolle spielen, wird die Gewaltdelinquenz angesichts ihrer gesellschaftlichen Relevanz als ein zentraler Kernbestand abweichenden Verhaltens bewertet. Dies ist unter anderem auch in den teilweise massiven Folgen begründet, die einschlägige Taten für die Opfer haben. Die Kriminologie untersucht in diesem Bereich sowohl die Entwicklung im Zeitverlauf als auch Ätiologie, Zuschreibungsprozesse, Täter*innen und Opfer.



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Bei der

Ätiologie

, der Frage nach den Ursachen von Gewaltdelinquenz, lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen; zu unterschiedlich und vielseitig sind die verschiedenen Deliktsbilder und Geschehensabläufe. So kann Gewalt etwa einerseits Ausdruck einer Position sozialer Macht sein, andererseits aber auch einen Ausdruck von Hilflosigkeit darstellen. Dementsprechend kommt eine Vielzahl von chronologischen Theorien als Erklärungsansatz für Gewaltdelinquenz in Betracht, darunter etwa die von

Durkheim

 entwickelte Anomietheorie.

Durkheim

 erkannte, dass die Gesellschaft durch raschen sozialen Wandel, Arbeitsteilung und stabile soziale Schichtung mit ungleichen Lebensverhältnissen geprägt sei. Kriminalität sei zunächst ein normaler Bestandteil einer jeden Gesellschaft und sei erst als Massenereignis überdurchschnittlichen Ausmaßes überhaupt besorgniserregend. An diese Betrachtung knüpfte die Chicagoer Schule Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA an. Es wurde nun der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität in den Mittelpunkt gerückt.

Merton

 erweiterte Mitte des 20. Jahrhunderts speziell die Anomietheorie und übertrug sie auf die US-amerikanische Gesellschaft.

Merton

 befand das Auseinanderfallen von kulturellen Zielen (Bildung, Wohlstand usw.) einerseits und des Zugangs bestimmter sozialer Schichten zu den notwendigen Mitteln, um diese Ziele erreichen zu können, andererseits als entscheidend für abweichendes Verhalten. Darüber hinaus kommen aber etwa auch die Subkulturtheorie, Lerntheorien und die Theorie der Differentiellen Gelegenheiten als Erklärungsansätze in Betracht.



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Auffällig ist die

geschlechtsspezifische Ungleichverteilung

 im Bereich der Gewaltkriminalität. Ein Großteil der registrierten Gewaltkriminalität im Hellfeld wird von männlichen

Tatverdächtigen

 begangen, im Jahr 2016 etwa 86 %. Bei den registrierten Körperverletzungsdelikten war der Anteil männlicher Tatverdächtiger mit 81 % kaum geringer. Nur knapp 14 % der Gewaltkriminalität (18 % bei Körperverletzungsdelikten) in diesem Jahr entfielen auf weibliche Tatverdächtige. Bei einer Dunkelfelduntersuchung in Bochum ließ sich feststellen, dass die Geschlechterunterschiede in der Häufigkeit der Gewaltstraftaten umso ausgeprägter sind, je schwerer das jeweilige Delikt ist. Die Geschlechterverteilung hinsichtlich der Opfer von Körperverletzungsdelikten ist weniger drastisch und etwas ausgeglichener: 63,5 % der registrierten Opfer 2016 waren männlich, 36,5 % weiblich.



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Empirische Studien zeigen, dass das

Viktimisierungsrisiko

 stark von Geschlecht, Alter und Bildungsgrad abhängig ist. Männer weisen ein höheres Opferrisiko auf als Frauen, gleiches gilt für jüngere Personen im Verhältnis zu älteren. Aus diesen Befunden folgt, dass bei einem großen Teil der

Täter*in-Opfer-Konstellationen

 beide Personen männlichen Geschlechts sind. Bei gemischtgeschlechtlichen Täter*in-Opfer-Konstellationen ist auf eine deutliche Asymmetrie in der Opfereigenschaft zu Lasten des weiblichen Geschlechts zu schließen. Bezüglich der Altersverteilung von Täter*innen und Opfern gilt, dass Körperverletzungsdelikte überwiegend in der eigenen oder benachbarten Altersgruppe begangen werden. Dies trifft insbesondere auf Kinder, Jugendliche und Heranwachsende zu. Wie sich die Beziehung zwischen Täter*innen und Opfer auf das Anzeigeverhalten auswirkt, ist nicht eindeutig geklärt. Ein überwiegender Teil der empirischen Studien berichtet jedoch von einem Zusammenhang zwischen der Bekanntschaft des Opfers mit dem*der Täter*in und dem Anzeigeverhalten. Dabei scheint die Wahrscheinlichkeit für eine Anzeige bei unbekannten Täter*innen am höchsten zu sein.



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Als besondere Gruppe gerade auch im Bereich der Gewaltdelinquenz wurden von der polizeilichen Praxis und der Kriminologie die sog. jugendlichen

Intensivtäter*innen

herausgearbeitet. Diese Kategorisierung geht auf kriminologische Befunde zurück, denen zufolge eine nur kleine Gruppe junger Täter*innen für einen erheblichen Anteil gerade schwerer Delikte verantwortlich ist. So konnte für Deutschland in einer Duisburger Studie festgestellt werden, dass ca. 6 % der Befragten (14. und 15. Lebensjahr) die Hälfte aller Taten und über Dreiviertel der Gewaltdelikte begangen hatten, die in dieser Altersgruppe zu verzeichnen waren. Die aus diesen Befunden abgeleitete polizeiliche Praxis, diese Personengruppe besonders intensiv und stärker repressiv zu behandeln ist im Hinblick auf die damit verbundene Stigmatisierungswirkung allerdings stark umstritten. So konnte etwa auch die Duisburger Studie weder die These einer „life-course-persistent antisocial behaviour“ (eine bis ins hohe Erwachsenenalter starke Delinquenzbelastung) noch die „Early Onset-Annahme“ (frühe delinquente Auffälligkeit als Bedingung für eine lebenslange Persistenzannahme) bestätigen. Vielmehr ist das Verlaufsbild der Delinquenz selbst bei Intensivtäter*innen von Abbruchprozessen geprägt – und gerade nicht von (lebenslanger) Persistenz.



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Gewaltdelikte – insbesondere solche schwerer Art bzw. durch Jugendliche – spielen in der

Medienberichterstattung

, vor allem der Boulevardmedien, eine herausgehobene Rolle. Dies ist durch den Sensationscharakter bedingt, den medial in Szene gesetzte (Gewalt-)Kriminalität besitzt. Die Medien erhoffen sich auf diesem Weg höhere Verkaufszahlen bzw. bessere Quoten und insgesamt mehr Aufmerksamkeit durch Konsumierende.



1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben

 ›

§ 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit

 › C. Rechtliche Regelung und besondere Fallgruppen





C. Rechtliche Regelung und besondere Fallgruppen





I. Allgemeine Fragen






1. Rechtsgut und Schutzobjekt



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Das von den

§§ 223 ff. StGB

 geschützte Rechtsgut ist zum einen der menschliche Körper in seiner

Unversehrtheit

, zum anderen die

Gesundheit

. Diskutiert wird, ob die

§§ 223 ff. StGB

 auch das Selbstbestimmungsrecht schützen. Dies ist jedoch im Hinblick auf ein somatologisches Rechtsgutverständnis im Rahmen von

§§ 223 ff. StGB

 abzulehnen. Auch der neu konzipierte Schutz des „Lebens ohne Furcht“ in dem Nachstellungstatbestand (

§ 238 StGB

, vgl. dazu → BT Bd. 4:

Eisele

, § 6 Rn. 45) spielt im Rahmen der

§§ 223 ff. StGB

 keine Rolle. Nach überwiegender Ansicht erfassen die Tatbestände nur

körperliche Einwirkungen

, sodass seelische Einwirkungen als Tathandlungen grundsätzlich nicht tatbestandlich sind. Eine Ausnahme hiervon stellt der

§ 225 StGB

 dar. Eine weitere Ausnahme bilden Fälle, in denen es durch psychische Einwirkungen zu merkbaren körperlichen Reaktionen kommt (sog. psychovegetative Reaktionen). Es muss insofern eine objektiv erkennbare körperliche Beeinträchtigung vorliegen, um eine Körperverletzung i.S.v.

§§ 223 ff. StGB

 annehmen zu können.



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Über das geschützte Rechtsgut hat der*die Rechtsgutinhaber*in grundsätzlich die

Dispositionsbefugnis

. Diese Dispositionsbefugnis setzt die Regelung des

§ 228 StGB

 elementar voraus. Einschränkungen der Dispositionsbefugnis finden sich allerdings nicht nur im Sittenwidrigkeitsvorbehalt des

§ 228 StGB

 (vgl.

Rn. 92 ff.

), sondern auch in Spezialnormen. Diese haben gegenüber dem

§ 228 StGB

 Anwendungsvorrang. Die Einwilligungsmöglichkeiten werden insbesondere durch

§ 2 KastrG

 für Kastrationen sowie in

§ 8 TPG

 für (Lebend-)Organentnahmen eingeschränkt, außerdem konkretisiert seit 2012 die Regelung des

§ 1631d BGB

 die stellvertretende Einwilligung der Eltern in die Beschneidung von Jungen (vgl.

Rn. 103

). Diese parentale Einwilligung ist die Folge des elterlichen Erziehungs- und Bestimmungsrechts hinsichtlich des Kindeswohls aus

Art. 6 Abs. 2 GG

. Wegen der grundsätzlich dem*der Rechtsgutsinhaber*in zugeordneten Dispositionsbefugnis ergibt sich auch das Problem der strafrechtlichen Beurteilung von ärztlichen Heileingriffen, insbesondere wenn keine vorherige Einwilligung der zu behandelnden Person vorliegt (ausführlich:

Rn. 104 ff.

).

 



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Schutzobjekt

 der Tatbestände ist „eine andere Person“. Vom Körper

abgetrennte natürliche Körperteile

 stehen nicht mehr unter dem Schutz der

§§ 223 ff. StGB

, es sei denn, sie werden dem Körper entnommen, um sie später wieder einzugliedern, z.B. bei einer Eigentransplantation.



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Der Schutz umfasst den

geborenen Menschen

, nicht jedoch das ungeborene Leben. Dieses findet seinen Schutz alleine in den

§§ 218 ff. StGB

 (vgl. dazu → BT Bd.4:

Christian Schwarzenegger

, Schwangerschaftsabbruch,

§ 3 Rn. 1 ff.

), welche nach h.M. den Zeitraum bis zum Abschluss der Schwangerschaft, d.h. bis zum Beginn der Eröffnungswehen, abschließend regeln. Die

§§ 223 ff. StGB

 sowie die Tötungsdelikte sind daher erst mit Beginn der Eröffnungswehen anwendbar. Eine Körperverletzung zu Lasten der Schwangeren durch einen Schwangerschaftsabbruch ist hingegen nicht ausgeschlossen und kann in Tateinheit mit den

§§ 218 ff. StGB

 stehen. Nicht immer eindeutig ist die Abgrenzung in den Fällen, in denen die Tathandlung zwar vor Geburtsbeginn und damit vor Eintritt der Menschqualität i.S.d. StGB begangen wurde, der Erfolg aber nach Geburtsbeginn eintritt oder andauert. Während das Landgericht Aachen im Contergan-Fall eine Strafbarkeit nach

§§ 223 ff. StGB

 bei Handlungen vor Geburtsbeginn offenbar für möglich hielt, wird nach heute überwiegendem Verständnis auf den Zeitpunkt der Auswirkungen des Eingriffs auf das Opfer abgestellt. Danach ist der Zeitpunkt entscheidend, in dem sich die Handlung auszuwirken beginnt, d.h. zu dem der Körperverletzungserfolg erstmalig auftritt oder sich steigernd fortwirkt. Tritt also beispielsweise eine Deformation des Embryos als kausale Folge einer Handlung bereits vor Geburtsbeginn ein, so ist diese Handlung nicht nach

§§ 223 ff. StGB

 strafbar. Vielmehr greifen die Regelungen der

§§ 218 ff. StGB

, die in diesem Fall keine Strafbarkeit vorsehen. Eine andere, im Vordringen befindliche Auffassung will sogar auf die Menschqualität zum Zeitpunkt der Einwirkung selbst abstellen.



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Da die

§§ 223 ff. StGB

 die Verletzung einer anderen Person voraussetzen, ist die

Selbstverletzung

 grundsätzlich straflos. Verschreibt beispielsweise ein*e Arzt*Ärztin ein bestimmte Körperfunktionen beeinträchtigendes Medikament und nimmt die zu behandelnde Person das Medikament in freier Entscheidung und in voller Kenntnis der Sachlage selbst ein, so sind die Voraussetzungen des

§ 223 StGB

 (bzw. qualifiziert nach

§ 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB

) nicht erfüllt. Eine Teilnahmestrafbarkeit des*r Arztes*Ärztin scheitert an einer teilnahmefähigen Haupttat. Mittelbare Täterschaft ist hingegen möglich, wenn eine Person durch Zwang oder Täuschung zur Selbstverletzung veranlasst wird und die Entscheidung, sich selbst zu verletzen, also nicht auf einem freiverantwortlichen Willen fußt (vgl. hier die Doping-Problematik

Rn. 99

). Darüber hinaus ergibt sich aus diesem Umstand die Problematik der Abgrenzung von eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung (siehe unten

Rn. 75 ff.

).



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Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Intensität des Eingriffs eine

ganz erhebliche Bandbreite

 aufweisen. Diese reicht von bagatellhaften Handlungen bis hin zu Körperverletzungen mit Todesfolge. Dem trägt das Gesetz Rechnung, in dem die Erfolgsqualifikationstatbestände der schweren Körperverletzung (

§ 226 StGB

) sowie der Körperverletzung mit Todesfolge (

§ 227 StGB

) – im Gegensatz zur besonders gefährlichen Tathandlung in

§ 224 StGB

 – besonders schwere Folgen der Körperverletzung erfassen und einem besonderen Strafrahmen unterstellen.





2. Voraussetzungen der einzelnen Tatbestände






a) Grundtatbestand des

§ 223 Abs. 1 StGB



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Der Grundtatbestand in

§ 223 Abs. 1 StGB

 ist ein Erfolgsdelikt und verlangt als

Verletzungserfolg

 die körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung einer anderen Person. Die beiden Tatmodalitäten stehen selbstständig nebeneinander. Sie überschneiden sich in erheblichen Teilen; für die Tatbestandsverwirklichung ist es wegen der Gleichwertigkeit ohne Belang, welche Modalität verwirklicht ist; ebenso ist daher Wahlfeststellung möglich. Liegen beide Modalitäten vor, handelt es sich gleichwohl nur um eine Körperverletzung und keinen Fall der Idealkonkurrenz. Zudem ist bei beiden Tatbestandsmodalitäten die Erheblichkeitsschwelle zu beachten, um strafrechtsrelevante Handlungen von straflosen Bagatellfällen abzugrenzen (vgl.

Rn. 72 ff.

).



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Nach allgemeiner Auffassung gilt als

körperliche Misshandlung

 jedes üble, unangemessene Behandeln, das entweder das körperliche

Wohlbefinden

 oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Das körperliche Wohlbefinden ist der Zustand des Körperempfindens vor der negativen Beeinträchtigung des Empfindens. Es genügen auch nur vorübergehende Beeinträchtigungen. Bei Schmerzzufügungen ist eine Beeinträchtigung im Regelfall gegeben. Das Auftreten von Schmerzen ist allerdings keine notwendige Voraussetzung, nach der Rechtsprechung reicht auch das Abschneiden von Haaren aus. Die körperliche

Unversehrtheit

 ist bei nachteiligen Einwirkungen auf die körperliche Integrität des Opfers beeinträchtigt. Insofern ist, wie beim körperlichen Wohlbefinden auch, die aktuelle körperliche Verfassung mit derjenigen Verfassung zu vergleichen, die ohne die Einwirkung bestünde. Die nachteilige Einwirkung muss in der Regel substanzverletzend auf den Körper wirken. Dies umfasst gravierende Substanzverluste (wie etwa den Verlust eines Zehs), die Herabsetzung der Körperfunktionen (z.B. Ausfall von Funktionen innerer Organe) sowie lokale Substanzschädigungen mit örtlich und zeitlich begrenzter Wirkung, wie Schwellungen, Beulen oder Prellungen. Auf die Regenerierbarkeit der beeinträchtigten Körpersubstanz (z.B. Haare) kommt es nicht an. Auch verursachte Überanstrengungen im Sinne des Erreichens der physischen Grenzen können körperliche Misshandlungen sein.



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Unter einer

Gesundheitsschädigung

 wird das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustands verstanden, der vom Normalzustand der körperlichen und seelischen Funktionen nachteilig abweicht. Die Beeinträchtigung muss nicht von Dauer und nicht von Schmerzen geprägt sein. Eine Gesundheitsschädigung kann auch ohne körperliche Misshandlung verursacht werden, z.B. durch das Inverkehrbringen gesundheitsschädlicher Stoffe (vgl. hierfür auch

Rn. 41

,

84 ff.

) oder durch das Verunreinigen der Luft oder des Wassers durch Giftstoffe. Ebenso hat die Rechtsprechung eine Gesundheitsschädigung bei der Infizierung mit dem HI-Virus (und nicht erst bei Ausbruch der Krankheit) bejaht, da bereits die Infizierung den objektiven körperlichen Normalzustand des Opfers tiefgreifend verändere. Mit der gleichen Argumentation nahm der BGH eine Gesundheitsschädigung bei übermäßigen, medizinisch nicht indizierten Röntgenaufnahmen an, da die Einwirkung von Röntgenstrahlen zu somatisch fassbaren Veränderungen der Körperbeschaffenheit führe und dadurch die Gefahr von Langzeitschäden nicht nur unwesentlich erhöht werde.



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Die Frage, inwieweit das

Hervorrufen einer psychischen Krankheit

 durch die Handlung eines anderen als Schädigung der Gesundheit eingeordnet werden kann, ist bislang nicht hinreichend geklärt. Während die Rechtsprechung sich stark an den körperlich erfassbaren Auswirkungen orientiert, gibt es Stimmen in der Literatur, die eine ausschließliche psychische Störung ausreichen lassen wollen. Da es eine Vielzahl an psychischen Erkrankungen gibt, die sich stark auf den Körper auswirken (z.B. Essstörungen, Schlafstörungen, Angststörungen, Psychosen), ist eine strikte Trennung von Physis und Psyche wenig realitätsnah. In der Praxis werden psychische Einwirkungen jedenfalls dann als Gesundheitsschädigung gewertet, wenn sie einen Krankheitswert haben, d.h. wenn durch eine psychische Belastung ein somatisch objektivierbarer pathologischer Zustand hervorgerufen wird. Erfasst sind angesichts dessen (erhebliche) psycho-vegetative Störungen wie beispielsweise depressive Zustände mit Schlaf- und Konzentrationsstörungen und Selbstmordgedanken als Folge von langanhaltendem Nachstellen und Bedrohen und erhebliche Magenschmerzen als Reaktion auf eine massive Bedrohung. Fälle des Mobbings als Aufbauen einer psychisch zermürbenden Atmosphäre der Feindseligkeit etwa am Arbeitsplatz, in der Schule oder in Vereinen können tatbestandlich erfasst sein; auch hier gilt jedoch, dass somatische Auswirkungen notwendig sind. Auch durch erheblichen Lärm eines Open Air-Konzertes können im Einzelfall psycho-vegetative Störungen mit Köperverletzungscharakter hervorgerufen werden. Ebenso soll die Verstärkung einer Neurose infolge enormen Arbeitslärms einer benachbarten Fabrik zur Bejahung einer Gesundheitsschädigung genügen. Nicht näher spezifizierte „latente Angstgefühle“ und „starke Gemütsbewegungen“ sollen demgegenüber nicht ausreichen. Gleiches gilt für reine Befindlichkeitsstörungen ohne Krankheitswert aufgrund von ständigen nächtlichen Telefonanrufen. Ein Grenzfall ist die Hypnose. Diese ist, wenn kunstgerecht durchgeführt, mangels Hervorrufen eines krankhaften Zustandes grundsätzlich nicht strafbar.



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Subjektiv

 verlangt

§ 223 Abs. 1 StGB

 Vorsatz, wobei Eventualvorsatz genügt. Der Vorsatz muss sowohl die Körperverletzungshandlung als auch den Körperverletzungserfolg umfassen. Er setzt Kenntnis der Tatumstände voraus. Ziele und Motivationslage des*der Täters*Täterin sind nicht beim Vorsatz, sondern erst auf der Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen. Auch „wohlmeinende“ körperliche Misshandlungen oder Gesundheitsschädigungen – wie etwa erzieherische Züchtigungen oder auch die religiöse Beschneidung von Jungen – sind somit tatbestandsmäßig.



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Schwierigkeiten können sich im Einzelfall bei der

Abgrenzung des (bedingten) Vorsatzes zur bewussten Fahrlässigkeit

 ergeben. Nach ständiger Rechtsprechung handelt der*die Täter*in dann vorsätzlich, wenn er*sie den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als möglich und nicht fernliegend erkennt und damit so einverstanden ist, dass die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf genommen oder sich um des erstrebten Zieles willen mit ihr abgefunden wird, auch wenn der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein mag. Bewusste Fahrlässigkeit hingegen liegt vor, wenn der*die Täter*in mit der als möglichen erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft darauf vertraut, der Erfolg werde nicht eintreten. Um ein bedingt vorsätzliches Handeln annehmen zu können, genügt der bloße Verweis auf die Gefährlichkeit der Handlung und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts grundsätzlich nicht. Ebenso müssen zum Vorsatz besondere Feststellungen getroffen werden, wenn angenommen wird, dass bei Verwendung eines ungefährlichen Gegenstandes – beispielsweise das kräftige Entgegendrücken eines Schnittbrotes mit bewirktem Umknicken eines Fingernagels – ein Verletzungserfolg billigend in Kauf genommen werde. Nur bei äußerst gefährlichen Handlungen kann ausnahmsweise anhand des objektiven Geschehens auf das Vorliegen eines Verletzungsvorsatzes geschlossen werden