Handbuch des Strafrechts

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1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben

Inhaltsverzeichnis

§ 1 Tötungsdelikte

§ 2 Sterbehilfe

§ 3 Schwangerschaftsabbruch

§ 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 1 Tötungsdelikte

Wolfgang Mitsch

§ 1 Tötungsdelikte

A.Einführung1 – 4

I.Geschichte1

II.Reform2 – 4

B.Hauptteil5 – 74

I.Tatbestände5, 6

II.Gemeinsame Merkmale7 – 11

1.Tatobjekt Mensch7, 8

2.Täter-Opfer-Differenz9

3.Taterfolg Tod10

4.Tathandlung Tötung11

III.Vorsätzliche Tötungsdelikte12 – 68

1.Totschlag12

2.Mord13 – 60

a)Geschichte13

b)Reformbestrebungen14

c)Verhältnis zum Totschlag15

d)Grundgedanken der Mordmerkmale16 – 18

e)Mordmerkmale § 211 Abs. 2 StGB – 1. Gruppe19 – 26

aa)Mordlust20

bb)Zur Befriedigung des Geschlechtstriebs21

cc)Habgier22

dd)Sonstige niedrige Beweggründe23 – 26

f)Mordmerkmale § 211 Abs. 2 StGB – 2. Gruppe27 – 38

aa)Heimtücke28 – 33

bb)Grausamkeit34

cc)Mit gemeingefährlichen Mitteln35 – 38

g)Mordmerkmale § 211 Abs. 2 StGB – 3. Gruppe39 – 45

aa)Allgemeines39 – 41

bb)Zur Ermöglichung einer anderen Straftat42

cc)Zur Verdeckung einer anderen Straftat43 – 45

h)Unterlassen46, 47

i)Täterschaft und Tatbeteiligung48 – 51

j)Versuch und Vorbereitung52

k)Sanktionen53

l)„Rechtsfolgenlösung“54 – 59

m)Mordähnlicher besonders schwerer Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB)60

3.Aussetzung61 – 68

a)Geschichte61

b)Systematik62

c)Grundtatbestand63

d)Qualifikationen64 – 66

e)Täterschaft und Teilnahme67

f)Versuch68

IV.Fahrlässige Tötungsdelikte69 – 74

1.Fahrlässige Tötung69 – 72

2.Todeserfolgsqualifizierte Delikte73

3.Lebensgefährdungsdelikte74

Ausgewählte Literatur

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 1 Tötungsdelikte › A. Einführung

A. Einführung

I. Geschichte

1

Vergleicht man den sechzehnten Abschnitt des Besonderen Teils (§§ 211 bis 222 StGB) des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 mit den Vorschriften, die aktuell im StGB diesen Platz einnehmen, fallen folgende Veränderungen auf: die §§ 214 und 215 StGB sind weggefallen, § 211 und § 217 StGB haben eine vollkommen veränderte Gestalt (zur Geschichte des § 211 StGB siehe unten Rn. 13 ff.) bzw. einen neuen Gegenstand, § 212, § 213 und § 221 StGB weisen leichte – zum Teil nur redaktionelle – Veränderungen auf. Dies beruht auf folgender Entwicklung: Nach genau 70 Jahren Geltung erfolgte 1941 der erste große Einschnitt in das Normgefüge der §§ 211 ff. StGB. Gestrichen wurden die §§ 214 und 215 StGB.[1] Die bis heute gravierendste Umgestaltung des Strafrechts im Bereich der Tötungsdelikte ist die Neufassung der Mordvorschrift § 211 StGB, die bis dahin lediglich ein einziges spezifisches Kriterium aufwies, die Tötung „mit Überlegung“.[2] Dieses vom französischen Strafrecht inspirierte Prämeditations-Merkmal wurde aufgehoben und ersetzt durch den heute noch geltenden Kanon von Mordmerkmalen. Zudem schleuste die nationalsozialistische Kriminalpolitik mit dem Wort „Mörder“ als Trojanisches Pferd die seit 2013 als Schandfleck wiederentdeckte „Tätertypenlehre“ in den Tatbestand ein.[3] Die schon seit 1871 angedrohte Todesstrafe wurde beibehalten und durch eine Milderungsvorschrift in Absatz 3 ergänzt. Letzterer wurde infolge der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG obsolet und deshalb 1953 ersatzlos aufgehoben.[4] Die wichtige Entscheidung des BVerfG vom 21. Juni 1977[5] veranlasste den Gesetzgeber im Jahr 1981 zur Einführung der vor allem für § 211 StGB relevanten §§ 57a, 57b StGB. Die vorerst letzte Maßnahme des Gesetzgebers, die sich in §§ 211 ff. StGB niederschlug, war das 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998. Der schon lange im Raum stehenden Kritik an dem als nicht mehr zeitgemäß erachteten Tatbestand „Kindestötung“ trug der Gesetzgeber durch ersatzlose Streichung des § 217 StGB Rechnung.[6] In § 213 StGB wurde die Strafrahmenuntergrenze auf ein Jahr angehoben und damit zugleich dem speziellen Fall „Tötung eines nichtehelichen Kindes gleich nach der Geburt“ nach dem Wegfall des § 217 StGB ein kompatibler Standort mit Strafniveau unterhalb des „normalen“ Totschlags eingerichtet.[7] Recht erhebliche tatbestandliche Veränderungen erfuhr schließlich das Lebensgefährdungsdelikt „Aussetzung“ in § 221 StGB. Die letzte – hochumstrittene[8] – gesetzgeberische Ergänzung des Lebensschutzstrafrechts war die Einführung der Strafbarkeit des assistierten Suizids in § 217 StGB durch Gesetz vom 3. Dezember 2015.[9] Die wichtigste und deshalb am drängendsten angemahnte Reformaufgabe – die Neugestaltung des § 211 StGB – ist trotz des mit großen Erwartungen verbundenen Vorstoßes von Bundesjustizminister Maas im Jahr 2014 bis heute unerledigt (dazu sogleich Rn. 2).

 

II. Reform

2

Der Ruf nach einer Reform der Tötungsdeliktsvorschriften im StGB erschallt „seit Jahrzehnten“.[10] „Wenn über das gegenwärtige Tötungsstrafrecht in einem Punkt Einigkeit besteht, dann über seine Korrekturbedürftigkeit“, schrieb Eser in seinem Gutachten zum 53. Deutschen Juristentag 1980 in Berlin.[11] Das betrifft nicht allein, aber in erster Linie und am intensivsten die Regelung des Mordes in § 211 StGB. Diese Vorschrift gilt in vielerlei Hinsicht als missglückt und reparaturbedürftig. Sie ist – entgegen BVerfGE 45, 187 – verfassungswidrig.[12] So häufig die an die Politik und Gesetzgebung gerichtete Forderung erhoben wurde, so häufig ist sie auch ungehört verhallt. Jahrzehntelang bewegte sich auf diesem Gebiet nichts. Das änderte sich überraschend im Herbst 2013. Der Justizministerin des Landes Schleswig-Holstein Anke Spoorendonk war aufgefallen, dass der Text des § 211 StGB die Voraussetzungen der Strafbarkeit wegen Mordes in ungewöhnlicher Weise abbilde. Nicht die Tat „Mord“, sondern der Täter „Mörder“ stehe im Vordergrund. Das sei in einem Tatstrafrecht unüblich und erinnere an die berüchtigte „Tätertypenlehre“. Diese sei in der Zeit der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft von einigen Strafrechtswissenschaftlern salonfähig gemacht und von den Nationalsozialisten bereitwillig zum Umbau des Strafrechts nach ihren Vorstellungen aufgenommen worden. Der heute noch geltende § 211 StGB trage deshalb die Handschrift Roland Freislers, was ein skandalöser Zustand sei. Alles das war freilich schon lange bekannt und nicht bestritten, aber kein Anlass für irgendjemand, aus diesem Grund die sofortige Abschaffung des nationalsozialistisch kontaminierten Gesetzestextes und eine Neufassung zu fordern.[13] Dies empfahl die schleswig-holsteinische Justizministerin und bekam dafür sofort sehr viel Zuspruch und Anhänger. Bundesjustizminister Heiko Maas ergriff die Initiative und kündigte eine grundlegende Reform des Rechts der Tötungsdelikte noch in der laufenden Legislaturperiode an. Eine Expertengruppe mit sachkundigen Personen aus Justiz, Rechtswissenschaft, Anwaltschaft und Ministerium wurde im Frühjahr 2014 damit beauftragt, einen umfassenden Vorschlag für eine Neuregelung zu erarbeiten. Nach einem Jahr intensiver Beratungen legte die Kommission Ende Juni einen umfangreichen Abschlussbericht vor.[14] Dieser sprach sich für eine weitgehende Beibehaltung der auf heterogenen Mordmerkmalen ruhenden Tatbestandsstruktur und für Flexibilisierung und Lockerung der bislang starren und unbeweglichen Sanktionsregelung aus. Der wohl bedeutendste Gesichtspunkt war das Abrücken von der absoluten lebenslangen Freiheitsstrafe, die schon lange als größtes Hindernis einer gerechten und verhältnismäßigen Sanktionierung vorsätzlicher Tötungen galt. Genau dieses Thema war aber auch der Grund dafür, dass der Reformprozess nach Beendigung der Expertengruppe keine Fortschritte mehr machte und schließlich vollständig zum Erliegen kam. Ein Referentenentwurf aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wurde im April 2016 vorgelegt.[15] Weiter bewegte sich der Reformprozess danach nicht mehr. Die Ansichten zur absoluten lebenslangen Freiheitsstrafe lagen in den Parteien der Großen Koalition zu weit auseinander, die Gegensätze waren unüberbrückbar. Auch in der Strafrechtswissenschaft stießen die Vorschläge aus dem Bundesjustizministerium nicht auf ungeteilte Zustimmung. Moniert wurde z.B., dass die „vorgeschlagene Gesetzesfassung einen Weg für eine exorbitant milde Bestrafung von Mordverbrechen“ eröffne.[16] Es sei eine „rasante Talfahrt des Strafniveaus für Mordverbrechen zu befürchten.“ Dies führe zu „Desorientierung des Rechtsbewußtseins der Bevölkerung“, an der der Reformgesetzgeber kein Interesse haben könne.[17] So kam es dann auch. Lebenslang für Mord als „Leitwährung des Strafrechts“ bleibt der deutschen Strafrechtspflege erhalten. In dem Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD findet sich kein Wort zur „Reform der Tötungsdelikte“.[18] Somit bleibt einstweilen alles beim Alten.

3

Das Projekt „Reform der Tötungsdelikte“ ist angesichts dieses jüngsten Fehlversuchs dringlicher denn je.[19] Daher sei hier der Vorschlag von Albin Eser in Erinnerung gerufen, der Gegenstand der Beratungen und Beschlüsse des 53. Deutschen Juristentags 1980 in Berlin gewesen ist.[20] Eser empfiehlt ein zweistufiges Modell, bestehend aus einem Grundtatbestand nichtprivilegierter Tötung „Mord“ und einem Privilegierungstatbestand „Totschlag“. Der Grundtatbestand sollte sich auf die Merkmale „vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen“ beschränken und einen Sanktionsrahmen von mindestens acht Jahren Freiheitsstrafe bis zur gesetzlichen Höchststrafe haben (derzeit 15 Jahre, § 38 Abs. 2 StGB).[21] Für den Fall der Beibehaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe sollte eine Kategorie „besonders schwere Fälle“ durch gesetzliche Regelbeispiele besonders hervorgehoben werden. Diese Regelbeispiele lassen eine enge Anlehnung an den Mordmerkmalen des § 211 Abs. 2 StGB erkennen („die Tötung in einer für das Opfer besonders qualvollen Weise ausführt“; „das Vertrauen des Opfers oder einer Schutzperson arglistig erschlichen oder bestärkt hat“; „zur Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs oder aus Gewinnsucht tötet“; „die Tötung zur Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat begeht“) und sind teilweise in der Entwicklungsgeschichte des § 211 StGB Neuheiten („mehrere Menschen tötet oder zu töten versucht oder die Lebensgefährdung Dritter in Kauf nimmt“; „mit einer Schußwaffe tötet, die er oder ein Tatbeteiligter gewohnheitsmäßig unerlaubt mit sich führt“; „die Tötung unter Mitwirkung eines anderen begeht, mit dem er sich bandenmäßig zur Begehung von Gewalttaten verbunden hat“). Keine Berücksichtigung fanden in dem Vorschlag die Mordmerkmale „Mordlust“ und „sonstige niedrige Beweggründe“. Die privilegierte Tötung „Totschlag“ findet nach Eser ihre materielle Begründung in einer „heftigen Gemütsbewegung“ des Täters, „die den Umständen nach menschlich begreiflich ist“.[22] Die entscheidende „Begreiflichkeit“ konkretisiert Eser mittels dreier Regelbeispiele, die auf provokationsbedingten Affekt (vgl. § 213 StGB), auf ausweglosen Konflikt, Verzweiflung oder Mitleid sowie auf Geburtsaffekt (vgl. § 217 StGB a.F.) rekurrieren. Sanktioniert werden soll die privilegierte Tötung mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

4

Die Herausforderung, vor der die von Justizminister Heiko Maas einberufene Expertengruppe stand, bekam durch einen interessanten Gesetzgebungsvorschlag des Deutschen Anwaltvereins eine besondere Brisanz. Für zukünftige Reformbemühungen wird auch diese recht radikale Stellungnahme weiterhin beachtlich sein. Daher seien die Grundzüge des Vorschlags hier kurz skizziert:[23] § 211 StGB soll ersatzlos aufgehoben werden. § 212 StGB soll nur noch aus einem Absatz bestehen, der inhaltlich dem jetzigen § 212 Abs. 1 StGB entspricht. § 212 Abs. 2 StGB fällt weg. Die Strafdrohung des § 212 StGB soll Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe sein. Erwartungsgemäß löste dieser „stark aus der Reihe“ fallende „Radikalvorschlag“[24] ein starkes Echo aus und inspirierte unter anderem einen ebenfalls originellen Gegenentwurf von Tonio Walter[25] sowie einen sehr ähnlichen Alternativvorschlag von Gunnar Duttge.[26]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 1 Tötungsdelikte › B. Hauptteil

B. Hauptteil

I. Tatbestände

5

Als „Tötungsdelikte“ werden üblicherweise die im Sechzehnten Abschnitt des Besonderen Teils im Strafgesetzbuch normierten Straftaten mit Ausnahme des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218–219b StGB) bezeichnet.[27] Die zentralen Tatbestände sind Totschlag (§ 212 StGB) und Mord (§ 211 StGB). Ebenfalls Tötungsdelikte sind die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe (§ 217 StGB). Diese werden in diesem Handbuch als Erscheinungsformen von „Sterbehilfe“ in einem eigenen Artikel (→ BT Bd. 4: Christian Schwarzenegger, Sterbehilfe, § 2) bearbeitet. Als allgemeiner Tötungsfahrlässigkeitstatbestand gehört die Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) in den hiesigen Kontext. Den Charakter eines Lebensgefährdungsdelikts hat die Aussetzung (§ 221 StGB), die deshalb als Tötungsdelikt im weiteren Sinne in diesen Bereich einbezogen ist. Von 1954 bis 2002 enthielt der sechzehnte Abschnitt mit dem Völkermord (§ 220a StGB) einen weiteren Tötungsdeliktstatbestand.[28] Mit der Schaffung des am 30. Juni 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuches ist dieser Tatbestand in § 6 VStGB verlagert worden.[29]

 

6

Daneben kennt das Strafrecht – einschließlich des Nebenstrafrechts – zahlreiche Straftatbestände, die primär dem Schutz anderer Rechtsgüter gewidmet sind, die aber die Beeinträchtigung des Rechtsgutes Leben als zweite strafbarkeitsbegründende oder strafschärfende Unrechtskomponente aufweisen.[30] Das ist zunächst die Gruppe der abstrakten und konkreten Lebensgefährdungsdelikte, deren Tatbestandsmäßigkeit auf abstrakt lebensgefährlichen oder konkreten lebensgefährdenden Handlungen beruht. Zur erstgenannten Kategorie gehört z.B. die schwere Brandstiftung (§ 306a Abs. 1 StGB)[31], zur zweiten die Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB)[32]. Des Weiteren sind zu erwähnen die erfolgsqualifizierten Delikte, bei denen die schwere Folge i.S.d. § 18 StGB ein Todeserfolg ist, wie z.B. Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) und Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c StGB). Im Nebenstrafrecht findet man diese Tatbestandsgattung in § 97 AufenthG. Die Nähe dieser Straftatbestände zu Mord und Totschlag wird durch ihre Zuordnung zur sachlichen Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer bekräftigt, § 74 Abs. 2 GVG.

II. Gemeinsame Merkmale

1. Tatobjekt Mensch

7

Alle hier erläuterten Straftatbestände schützen das Rechtsgut „Leben“.[33] Gemeint ist menschliches Leben.[34] Geschütztes Objekt ist also ein Mensch. Dieser Mensch muss im Zeitpunkt der Tat schon und noch existieren, d.h. am Leben sein. Aus dem tatbestandlichen Schutzbereich ausgegrenzt ist das „werdende Leben“ des zwar schon gezeugten, aber noch nicht geborenen – künftigen – Menschen, sowie der Verstorbene. Straftaten in Bezug auf Verstorbene sind Thema des Strafrechts in §§ 168, 189 StGB, strafrechtlicher Schutz des nasciturus in der Schwangerschaftsphase ist Gegenstand der §§ 218 ff. StGB. Taten im unmittelbaren Umfeld der Geburt werfen die Frage der Abgrenzung der §§ 211 ff. von § 218 StGB auf. Wird von der Tat ein noch nicht lebender Mensch betroffen, greifen die §§ 211 ff. StGB nicht ein. Die Tat ist entweder gemäß §§ 218 ff. StGB oder auf der Grundlage des Embryonenschutzgesetzes strafbar oder straflos. Für die Anwendbarkeit der §§ 211 ff. StGB[35] von grundlegender Bedeutung ist deshalb die Festlegung der Grenze, an der menschliches Leben im Sinne der Tötungsdeliktstatbestände beginnt. Die Existenz der §§ 218 ff. StGB ist ein eindeutiges positivgesetzliches Signal, dass das im Mutterleib heranreifende Wesen vor der Geburt kein „Mensch“ ist und nicht durch §§ 211 ff. StGB geschützt wird. Die Abgrenzungsfrage reduziert und konzentriert sich daher auf den genauen Punkt im mehrphasigen Geburtsvorgang, der den Übergang vom nasciturus zum Mensch markiert. Bis 1998[36] gab die ehemalige Strafvorschrift zur „Kindestötung“ in § 217 StGB Auslegungshilfe, indem sie auf eine gegen das Kind in statu nascendi gerichtete Handlung „in oder gleich nach der Geburt“ abstellte.[37] Tötung „in der Geburt“ galt also bereits als Angriff auf menschliches Leben im Sinne der §§ 211 ff. StGB. Daraus folgte, dass das Rechtsgutsobjekt, gegen das sich die Tat „in der Geburt“ richtet, bereits ein „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB ist. In gynäkologische Kategorien übertragen meint „in der Geburt“ den Zeitraum vom Beginn der Eröffnungswehen bis zum Austreten des Kindes aus dem Körper der Mutter.[38] Der sachliche Grund für diesen frühzeitigen Beginn der strafrechtlichen Menschwerdung ist das Bedürfnis nach strafrechtlichem Schutz des Kindes während der mit spezifischen Risiken behafteten Geburtsphase.[39] Vor allem gegenüber fahrlässigem Fehlverhalten des geburtshelfenden Personals (Arzt, Hebamme) oder der Mutter wäre das Kind ohne strafrechtlichen Schutz, wenn es noch nicht die Qualität eines Menschen hätte. Denn §§ 218 ff. StGB erfassen – vorsätzliche und fahrlässige – nicht tödliche Schädigungen des Körpers und der Gesundheit nicht und beziehen sich auch im Bereich der für die Leibesfrucht „tödlich“ endenden Vorgänge nur auf Vorsatztaten. Da der nasciturus aber mit Einsetzen der Eröffnungswehen zum Menschen wird, greift von diesem Punkt an schon der Schutz der §§ 222, 229 StGB. Aus diesem Grund hat der Wegfall des früheren § 217 StGB keinen Anlass für eine Neubewertung des Abgrenzungsthemas gegeben.[40] Mit dem Beginn der Geburt ist die Leibesfrucht ein Mensch und eine zu ihrem Tod nach diesem Zeitpunkt führende Handlung eine Tötung i.S.d. §§ 211 ff. StGB.

8

Allerdings ist Eintritt des Todeserfolges nach Einsetzen der Eröffnungswehen oder nach Beendigung der Geburt nur ein Indiz für eine tatbestandsmäßige Tötung. Wurde nämlich die zum Todeserfolg führende Handlung vor Geburtsbeginn (pränatal) begangen, lag jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch kein „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB vor. Daher ist zu klären, ob der Zeitpunkt des Handlungsvollzugs oder der Zeitpunkt des Erfolgseintritts über die Menschqualität des Tatobjekts entscheidet. Stellte man auf den Zeitpunkt des Todeserfolgseintritts ab, bestünde die Gefahr, dass die Handlungsfreiheit der schwangeren Frau durch Strafdrohungen unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Eine fahrlässige Schädigung des nasciturus, infolge der das Kind mit einer Behinderung auf die Welt kommt oder kurz nach der Geburt verstirbt, wäre als fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung strafbar. Dies stünde in einem Wertungswiderspruch zu §§ 218 ff. StGB:[41] fahrlässiges Fehlverhalten, das zum Abbruch der Schwangerschaft führt, wäre gemäß § 15 StGB nicht aus § 218 StGB strafbar.[42] § 229 StGB käme nicht zur Anwendung, weil der vor Beginn der Geburt „gestorbene“ nasciturus noch kein Mensch war. Die Schwangere bliebe also straffrei. Wenn aber eine schwerwiegende Fruchtschädigung, die bereits Absterben im Mutterleib zur Folge hat, straflos ist, dann darf eine Schädigung, die weniger schwerwiegend ist und die Geburt nicht verhindert, erst recht nicht strafbar sein. Hinzu kommt Folgendes: Die Aussicht ein schwer behindertes Kind zur Welt zu bringen und zudem wegen eigenen dafür ursächlichen Fehlverhaltens nach § 229 StGB strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, würde den Druck auf die Schwangere zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs erhöhen. Dieser wäre gemäß § 218a Abs. 2 StGB eventuell straflos. Zu überlegen wäre des Weiteren, ob die Schwangere aus dem Gesichtspunkt der Ingerenz[43] eine Garantenpflicht (§ 13 StGB) hätte, die Geburt des schwer behinderten Kindes zu verhindern, d.h. die Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Anderenfalls drohte ihr sogar eine Strafbarkeit wegen schwerer Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 226 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 13 StGB. Diese strafrechtlichen Gedankenspiele wirken schwer erträglich, ja nachgerade absurd. Aber sie haben in Gesetz und Dogmatik durchaus Rückhalt. Aus diesen Gründen muss es für die Bestimmung der Mensch-Qualität des Tatopfers auf den Zeitpunkt ankommen, zu dem die gesundheitsschädigende Wirkung der Handlung den Körper erreicht.[44] Liegt dieser vor Beginn der Geburt, ist die Tat auch dann keine tatbestandsmäßige Körperverletzung oder Tötung, wenn das Kind zur Welt kommt und mit Gesundheitsschaden lebt oder auf Grund des Schadens alsbald nach der Geburt stirbt. Im letztgenannten Fall kann die Tat als Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 StGB strafbar sein, sofern der Täter mit entsprechendem Vorsatz (§ 15 StGB) gehandelt hat.[45]