Das Erbe der Macht - Band 22: Königsblut

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Samuel«, sagte Anne nur und deutete auf einen hageren Mann im mittleren Alter. »Er ist quasi mein erster Offizier.«

Tomoe schwieg und betrachtete den Dreimaster. Es wunderte sie keinen Moment, dass die ehemalige Piratenkönigin ein historisch anmutendes Schiff dieser Größe ausfindig gemacht hatte. Möglicherweise war bei der Instandsetzung Magie im Spiel gewesen.

Ein letzter Schritt, dann stand Tomoe auf dem Deck. Die Planke wurde eingeholt, Befehle wurden gebrüllt. In der Takelage schwangen sich Matrosen umher, eine Frau mit Fernglas stand an der Reling.

»Hast du ein Zeitportal geöffnet und sie alle hergeholt?«, fragte Tomoe.

»Das hier ist eine Chance. Wir sind ständig in Bewegung, Merlin kann uns nicht finden und wir halten uns aus dem großen Krieg heraus.« Anne stemmte die geballten Hände in die Hüften und ließ den Blick stolz über ihre Crew schweifen. »Täusche dich nicht, die Faust von Anne hat durchaus Annehmlichkeiten.«

Tomoe war gespannt darauf, diese zu erkunden. Nach einer ewig anmutenden Flucht fühlte sie sich ausgelaugt und verdreckt. Noch wichtiger aber waren ihr Informationen.

»Hast du einen Kurs für uns?«, hakte Anne nach.

»Einstweilen hinaus auf hohe See«, blieb sie vage. »Wir beide müssen uns zuerst unterhalten.«

Anne verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Nichts anderes hätte ich von dir erwartet. Da sag noch mal jemand, du könntest nur Zahlen schubsen und Aktien verschieben.«

Bevor Tomoe ihr dazu deutlich die Meinung sagen konnte, setzte Anne sich in Bewegung. Sie steuerte auf den Deckaufbau zu, der typischerweise die Kabine des Kapitäns enthielt. Während Samuel zurückblieb, schloss Tomoe sich an.

Die Kapitänskajüte war gemütlich eingerichtet. Ein dicker Teppich lag auf dem Boden, der Schreibtisch war gewaltig. An der Seite stand ein Messingglobus, auf dem die Faust von Anne als winzige Illusionierung zu erkennen war, die rasch die Position veränderte. An den Wänden hingen Gemälde, die das dichte Grün einer Insel zeigten, ein altes Holzhaus und – einen Kerker.

»Ich wusste nicht, dass du auch Malerin bist.« Tomoe nickte mit dem Kinn in Richtung der Gemälde.

»Hat nicht jeder eine Passion? Ein Talent?« Anne sank in ihren ledergepolsterten Stuhl. »Ich schlitze nicht nur Feinde auf, weißt du.«

Was Tomoe in einem Satz verdeutlichte, dass sie auf unterschiedlichen Seiten standen – und das völlig unabhängig von Licht und Schatten. Sie selbst handelte nach einem Kodex der Ehre, sie verletzte nur in Notfällen, war nicht bereit, Leben aus Freude zu nehmen. Anne hingegen schien von einer zerstörerischen Flamme angetrieben zu werden, die nach Blut lechzte.

»Du hast Merlin also den Rücken gekehrt?«, fragte Tomoe und ließ sich ohne Aufforderung in den Besuchersitz sinken.

»Sagen wir: Als die Blutnacht begann, habe ich das als mein Stichwort betrachtet.« Sie zuckte leichthin mit den Schultern. »Merlin wollte, dass ich ab diesem Punkt die Meere für ihn kontrolliere und mich um Nemo kümmere. Warne deinen Freund, es werden andere kommen.«

»Warum sind sie nicht längst da?«

Anne seufzte. »Merlin hat etwas vor. Das Seelenmosaik war der letzte Schlüssel. Es war ihm so wichtig, dass er sogar die Enthüllung Chloes akzeptiert und die Blutnacht eingeleitet hat. Bevor du fragst: Ich kann dir nicht sagen, worum es dabei geht.«

Einmal mehr bereute Tomoe, sich in der Holding eingekapselt zu haben. Sie war davon ausgegangen, dass Johanna, Leonardo, Kleopatra, Einstein und Edison alles im Griff hatten.

»Wieso tötet er uns nicht? Uns Unsterbliche.«

»Tja, er hat wohl Angst vor der Zitadelle. Denn erlischt das Leben eines Unsterblichen, wird ein Nachfolger ernannt. Auf diesen Kreislauf hat auch er keinen Einfluss.«

Zum ersten Mal kam Tomoe ein Gedanke. »Er glaubt, dass die Veränderungen geheim bleiben, solange niemand in die Zitadelle zurückkehrt?«

»Falls die Zitadelle ihre Informationen über die Rückkehr von Unsterblichen erhält, würden die Mächtigen so lange nichts erfahren, bis wieder einer seine Wacht beendet.«

Ungläubig schüttelte Tomoe den Kopf. »Sie werden es längst wissen.«

»Aber greifen sie auch ein?« Anne schenkte ihr einen fragenden Blick. »Letztlich wissen wir gar nichts. Die Zitadelle ist ein Bauwerk irgendwo im Nichts zwischen den Welten. Keiner weiß, ob sie überhaupt noch existieren, die Mächtigen.«

»Ich hoffe, du irrst dich.«

»Was uns zu dir führt.« Anne machte eine auffordernde Handbewegung. »Leg los.«

Tomoe beschloss, der Unsterblichen eine Chance zu geben, aber auf der Hut zu bleiben. »Auf meiner Flucht habe ich lange darüber nachgedacht, wie Merlin besiegt werden kann.«

»Du hast eine mystische Waffe gefunden?« Anne grinste wie ein Kind am Weihnachtsmorgen.

»Ganz so ist es nicht, geht aber in diese Richtung. Ich habe einen alten Freund aufgesucht, der mir Zugang zur Traumebene verschafft hat.«

»Was soll das sein?«

Tomoe rief sich ins Gedächtnis, dass Anne erst vor wenigen Monaten ihre Wacht begonnen hatte. In ihrem ersten Leben als Nimag hatte sie vermutlich nichts über den Traumkrieg oder die Traumebene an sich erfahren. Mit wenigen Worten setzte sie die Piratin ins Bild.

»Und in diesem stabilen Bereich gibt es das gesamte Wissen der Menschheit?«

»Ganz so einfach ist es nicht, aber man kann sagen, dass die Bücher dort Informationen aufnehmen. Manche wurden bewusst angefertigt, andere chaotisch erschaffen. Das Wissen der Träumer, konserviert für die Ewigkeit. Ich wollte eine Waffe finden, die Merlin aufhalten kann. Doch wie es scheint, benötige ich dafür das Blut des ersten und des letzten Sehers.«

Anne schnippte mit den Fingern. »Warte, davon habe ich gehört. Der letzte Seher war dieser Joshua.«

Tomoe nickte. »Das reicht aber nicht. Es geht hier nicht um die Blutlinie oder irgendwelche Nachfahren, es geht um die Seher selbst.«

»Ich bin ja grundsätzlich ein Sonnenschein, was meinen Optimismus angeht.«

»Ach?«

»Absolut. Jeder Feind lässt sich aufschlitzen, man muss es nur hart genug wollen. Aber in diesem Fall bin ich pessimistisch. Wie willst du an das Blut gelangen?«

»Genau dafür habe ich nach einer Lösung gesucht und in einem alten Buch etwas dazu gefunden. Einen verborgenen Ort, der die Barriere der Zeit aufhebt.«

»Eine Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen? Ich dachte, dafür hat es einmal ein Portal gegeben, das kollabiert ist – und seitdem ist das unmöglich.«

Womit Anne im Großen und Ganzen recht hatte. »Das Tor war eine stabile Verbindung, aber es gibt andere Schlupflöcher. H. G. Wells und seine Zeitmaschine beispielsweise. Aber ich konnte ihn nicht finden. Die Insel scheint eine Möglichkeit zu sein.«

»Aha, eine Insel.«

Innerlich fluchte Tomoe über diesen Anfängerfehler. »Ja, der Ort ist eine Insel.«

»Wo genau liegt sie?«

»Es gibt einen Zauber, der sie aufspüren kann, und ich bin die Einzige, die diesen kennt.«

»Schon verstanden. Ich hatte zwar nicht vor, dich über die Planke zu schicken, aber wenn du diese Rückversicherung brauchst, sei es dir gegönnt. Solange du uns den Kurs mitteilst.«

Tomoe erhob sich und trat an den Messingglobus. Sie ließ die Kugel unter den gewölbten Messingbögen, die sie umgaben, hindurchgleiten und tippte schließlich auf einen Punkt. »Erst einmal dorthin. Von da geht es dann weiter.«

»So sei es. Samuel kann dir deine Kajüte zeigen. Lass uns heute Abend gemeinsam essen und Geschichten austauschen.«

»Ich freue mich darauf.«

Die Tür öffnete sich und Samuel bedeutete ihr, ihm zu folgen. Ein letzter Blick zurück zeigte Anne, deren Blick auf einem der Gemälde ruhte. Es war die Lichtung, umgeben von grünen Blättern. Die Traurigkeit im Gesicht der anderen Unsterblichen war nicht zu übersehen.

Mit einem dumpfen Laut fiel die Tür ins Schloss.


Tomoe hätte es niemals zugegeben, doch die Zeit auf der Faust von Anne tat ihr gut. Ihre Kabine erwies sich als überraschend luxuriös, und selbst nach akribischer Suche waren keine Beobachtungszauber zu entdecken. Die gesamte Front war verglast, ihr bot sich ein atemberaubender Blick auf das Meer. Die Wellen wogten, Gischt spritzte, sie genoss es, die gewaltigen Stürme von hier aus zu betrachten. Wenn der Horizont sich zuzog, sank sie in den Schneidersitz, entzündete eine Kerze und ließ ihren Geist treiben.

Obendrein war die Einrichtung überraschend modern. Das Bad war mit warmen Steinfliesen ausgekleidet, es gab eine riesige Wanne, das Bett bot problemlos fünf Menschen Platz.

Allabendlich speiste sie mit Anne, sie tranken einen Absacker an der Reling und berichteten einander von ihren Leben als Nimags. Dabei erzählte die Piratin recht freimütig über ihre Zeit auf dem Meer, nicht jedoch, wie es zur Gefangenschaft kam. Wo die Geschichte sie aus den Augen verloren hatte, stoppte sie auch ihre Erzählung. Tomoe hatte natürlich direkt nach Annes Auftauchen recherchiert. Die letzte überlieferte Information war die Gefangenschaft der Piratin gewesen. Während all ihre Mitgefangenen hingerichtet worden waren, hatte sie überlebt und war angeblich von ihrem Vater befreit und nach Hause geholt worden. Wieder andere Quellen besagten, dass sie aus dem Kerker verschwunden war. Spurlos.

Natürlich behielt auch Tomoe Details über ihr Leben als Nimag für sich. Die Kämpfe, die sie als Kriegerin bestritten hatte, ihre Ehe, schließlich ihr Tod. Um Letzteres rankten sich keine Mythen, obschon niemand zugegen gewesen war. Mit 91 Jahren hatte sie losgelassen, um dem Weg der Ahnen zu folgen. Wie hätte sie auch wissen können, dass dieser sie in die Zitadelle führte.

 

»Kannst du dich an etwas erinnern?«, fragte sie Anne einmal.

»Nein«, erwiderte die ehemalige Piratin versonnen. »Seltsam, nicht wahr? Wir alle wissen, dass es die Zitadelle gibt, dass wir von den Mächtigen dort zurückgeschickt werden, doch keiner weiß, wie es dort ist.«

Tomoe betrachtete die Bücher in der Bibliothek, las darin, trank guten Wein und beobachtete die Mannschaft. Die Männer und Frauen schienen sich wohlzufühlen auf der Faust von Anne. Samuel war abgestellt worden, Tomoes Wünsche zu erfüllen. War ihr Weinglas leer, füllte er es auf. Suchte sie nach einem Buch, half er ihr dabei.

Natürlich gab sie sich keinerlei Illusionen hin, er beobachtete sie. Anne mochte gastfreundlich sein, aber sie wusste, dass dies nur ein vorübergehender Waffenstillstand war. Der gemeinsame Feind schweißte sie zusammen.

Immer wenn sie ein Ziel erreicht hatten, führte Tomoe den alten Zauber abermals aus und nannte den neuen Kurs. Am Morgen des dritten Tages wurden Anne und sie von einem aufgeregten Samuel an Deck gerufen. Selbst ohne Fernglas oder Weitblick war der grüne Tupfer zu erkennen, der sich gegen den Horizont abzeichnete.

»Ich kenne das Meer wie meine Westentasche«, erklärte Anne, »und das schließt auch zahlreiche Inseln mit ein, die hinter Illusionierungen verborgen sind. Doch die hier ist anders.«

Schweigend nickte Tomoe. Auch sie konnte es spüren, je näher sie kamen. Die Insel schien nicht hierherzugehören.

Die Faust von Anne ging vor Anker, gemeinsam mit der Piratin, Samuel und einer Handvoll Männer setzten sie in einer Schaluppe über. Die Wellen waren hier in Inselnähe nur flach.

»Siehst du das?«, fragte Anne.

»Sind das Trümmer?«

Als sei ein riesiges Gebäude eingestürzt, ragten gewaltige Steinfragmente aus dem hellen Sand.

Die Schaluppe erreichte festen Untergrund. Mit gezogenem Essenzstab betrat Tomoe die Insel.

»Ausfächern, Sicherheitskreis bilden«, befahl Anne. »Du bleibst bei uns, Samuel.«

Die anderen kamen der Aufforderung nach, doch Tomoe achtete kaum auf sie. Die Steinbrocken zogen sie wie magisch an, wenngleich kein Zauber von ihnen ausging. Es war etwas anderes, Vertrautes. Ehrfürchtig streckte sie die Hand aus und berührte eines der Fragmente. Anne und auch Samuel schien es ähnlich zu gehen, sie erkannten beide die Erhabenheit, das Geheimnisvolle, das die Trümmerstücke umfing.

»Was für ein Zauber ist das?«, hauchte Samuel.

»Keiner«, stellte Anne klar. »Du kannst es nicht wissen, doch Tomoe spürt es. Und ich auch. Das Gefühl ist mir sehr vertraut.«

»Du kannst es einordnen?« Verwirrt blickte Tomoe zwischen der Piratin und den Trümmerstücken hin und her.

»Du nicht?«

»Es ist … vertraut, aber doch fremd.«

»Vermutlich liegt es daran, dass mein Kontakt erst wenige Monate zurückliegt.« Die Piratin atmete tief ein und wieder aus. »Es sind Teile der Zitadelle.«

Tomoe zuckte zurück. »Aber wie ist das möglich?«

Die Antwort war ein Schulterzucken. »Das kann ich dir nicht sagen. Aber wenn die Insel so alt ist, müssen diese Teile schon lange hier liegen. Es hat also nichts mit Merlin zu tun.« Auf Tomoes Blick hin lächelte Anne. »Natürlich hast du gedacht, dass er etwas damit zu tun hat. Aber da überschätzt du seine Macht. Er mag mit dem Wall verbunden sein, aber vergiss nicht, dass die Zitadelle die Erschaffung des Walls eingeleitet hat.«

Zugegeben, die Erinnerung an die Blutnacht und die vollständige Zerstörung der Ordnung ließ Merlin wie einen unbesiegbaren Gott erscheinen. Dabei wusste Tomoe, dass selbst die angeblich Allmächtigen gestürzt werden konnten. Auch bei der Schattenfrau hatte es hoffnungslos ausgesehen.

»Es gibt immer einen Weg.«

»Das klingt schon besser.« Anne blickte mit verschränkten Armen zu den Baumwipfeln. »Also, wir haben eine verborgene Insel, Trümmerstücke der Zitadelle und ziemlich viel Gestrüpp. Das ist die Nummer mit der Dschungelexpedition, richtig?«

Lächelnd folgte Tomoe ihrem Blick. »Sieht so aus.«

»Ich hoffe wirklich, das alles ist nicht irgendeinem Traum entsprungen, der mit einem Joint eingeleitet wurde.«

Abrupt lachte Tomoe auf. Ein seltsamer Laut. Sie hatte schon lange nicht mehr gelacht, das Gefühl dahinter tat gut. »Die Schriften haben uns hierhergeführt, oder nicht?«

»Solange kein alter Mann mit Bart in einer Hütte sitzt und mit uns philosophische Diskussionen über den Sinn des Daseins führt … Was? Glaub mir, ich war auf mehr als einer Schatzsuche, und manche hatten ein sehr enttäuschendes Ende.«

»Wie ich sehe, hast du mir noch viel zu wenig erzählt.«

Die Lippen der Piratin kräuselten sich. »Wenn dieser Dschungel so groß ist, wie ich befürchte, haben wir ausreichend Zeit, das nachzuholen. Aber du weißt, wie es ist: eine Geschichte für eine Geschichte.«

Damit stapfte sie davon, um die Bäume zu begutachten. Samuel folgte ihr umgehend. Einstweilen blieb Tomoe zurück und betrachtete das Gestein. Es verströmte einen Hauch von Alter und Schicksal. Wie lange mochten die Trümmer hier bereits liegen? Und wie waren sie hierhergelangt?

Noch einmal strich sie sanft über die raue Oberfläche, auf eine weitere Eingebung hoffend. Eine Erinnerung vielleicht? Doch es geschah nichts. Ihr unsterbliches Leben währte bereits so lange, es schienen keine Echos der Zitadelle mehr in ihrem Geist zu haften. Wie gerne hätte sie die Präsenz der Trümmer gänzlich erfasst, wie Anne es konnte.

In ihrem Leben hatte Tomoe viele Stadien des Glaubens durchschritten. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie an das Schicksal und Vorherbestimmung geglaubt hatte, doch ihre Gefangenschaft bei den Schattenkriegern hatte das zunichtegemacht. Eine Ewigkeit in allumfassender Schwärze, gefühlt Jahre, in Wahrheit eine vergleichsweise kurze Zeit. Hätte sie nicht über die Fähigkeit zur Meditation verfügt, sie wäre wahnsinnig geworden. Trotz der Anwendung jeder Technik in ihrem Köcher hatte es dennoch ihren Geist zerrüttet, ihre Seele an den Rand des Abgrunds getrieben.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie den Weg zurück zu ihrem wahren Ich nicht mehr gänzlich gefunden. Stattdessen war sie zur Geschäftsfrau geworden.

Doch wenn es so etwas wie das Schicksal gab, war es eindeutig nicht zufrieden mit diesem Weg.

»Wir stellen die Ordnung wieder her.« Sie nickte nachdrücklich. »Und danach …«

Wer konnte schon ahnen, was dann kam.

Langsam folgte sie Anne und Samuel zum Rand des Dschungels.


Contego!«, rief Jen und riss Wesley in einer schnellen Bewegung zur Seite.

Damit rettete sie ihn, denn Chloe kannte kein Erbarmen. Wie auch immer sie den Schlafzauber hatte neutralisieren können, der wuchtige Schlag hätte Wesley die Nase zertrümmert.

Chloe formte mit ihren Händen die Luft zu verfestigten Bällen und schleuderte sie ihnen entgegen. Doch nicht, wie Jen vermutet hätte, gegen die Contego-Sphäre. Stattdessen jagte sie die verdichtete Kraft in den Boden. Splitter spritzten in die Höhe und donnerten gegen den Schutz.

»Wenn ihr glaubt, …«

Der Schlag von Max traf sie gegen die Schläfe. Mit verdrehten Augen kippte Chloe hintenüber.

»Kann bitte jemand den Schlafzauber neu manifestieren?«, bat Max.

Da sein eigener Essenzstab von Chloe vernichtet worden war, konnte er keine Zauber mehr im Inneren von Gegenständen oder Körpern wirken. Jen kam der Aufforderung nach, als Alex gerade mit Kyra neben ihnen eintraf.

»Was ist passiert, geht es dir gut?«, fragte er.

»Alles bestens«, beschwichtigte Jen. »Chloe hat es nur irgendwie geschafft, den Schlafzauber zu neutralisieren.«

»Wie?«, hakte Wesley sofort nach.

Sicherheitshalber blickte er auf den winzigen, tränenförmigen Anhänger, der an einem Lederband um seinen Hals hing. Das Wasser darin war von Alana Franke magifiziert worden. Es zeigte an, ob sie aktuell den guten oder bösen Wesley vor sich hatten.

»Also, ich habe den Zauber nicht destabilisiert«, erklärte er.

»Niemand hat das«, beschwichtigte Jen. »Schaut her. Agnosco!«

Um Chloe herum entstand eine Lohe aus glitzernder Essenz, in der ein Symbol schwebte.

»Geschickt«, beschied Max. »Ein Zauber in den Knochen eingeritzt, der durch bestimmte Trigger-Magie ausgelöst wird. Als wir sie in den Schlaf versetzten, hat ihre Essenz automatisch das auf dem Knochen aufgebrachte Symbol ausgelöst. Das wiederum war dazu geschaffen, den Zauber zu neutralisieren.«

»Lass mich raten, solche hast du auch?«, hakte Alex sofort nach.

»Ein paar davon, stimmt.«

»Cool. Kann ich auch welche haben?«

Jen versuchte gar nicht erst, den Reflex zu unterdrücken und verdrehte die Augen. »Echt jetzt? Du willst dir magische Symbole in die Knochen ritzen lassen?«

»Warum nicht? Du siehst doch, dass es im Notfall helfen kann.«

»Vielleicht schieben wir diese Diskussion auf einen anderen Tag«, warf Wesley ein, »auch wenn ich der Meinung bin, dass dein dominantes Auftreten gegenüber Alex in einer passiv-aggressiven zwischenmenschlichen Dauerinteraktion münden könnte.«

Verdutzt betrachtete Alex den Psychologen. »Hä?«

»Er will sagen, dass du die ganze Zeit trotzen wirst, wenn ich dich weiter so hart anfasse.« Jen grinste frech.

»Oh nein, das macht gar nichts. Sie soll mich hart anfassen. Ich mag …«

»Stopp«, unterbrach ihn Jen. »Das ist wieder so ein Moment, in dem du dein eigenes Loch buddelst.«

Als Max den grinsenden Alex betrachtete, schlich sich Traurigkeit in seinen Blick. Vermutlich hatte Kevin schon lange nicht mehr befreit gelacht.

»Wie lange haben wir?«, fragte Wesley.

»Richtig.« Jen richtete ihre Aufmerksamkeit auf Chloe und den magischen Kreis. »Die Zuflucht wird in etwa sieben Stunden den nächsten Sprung durchführen. Bis dahin sollten wir fertig sein. Andernfalls müssen wir uns etwas einfallen lassen.«

»Nikki und Maddison erfahren bei ihrer Rückkehr, wo wir sind, sie werden uns notfalls helfen«, merkte Kyra an. »Falls sie rechtzeitig zurück ist.«

»Dann sollten wir beginnen«, sagte Wesley. »Denn ich habe eine Menge Kraft in den Zauber fließen lassen. Für die nächsten Tage kann ich das nicht wiederholen.«

Sie nahmen an den gegenüberliegenden Markierungen der vier Himmelsrichtungen Aufstellung. Alex gegenüber von Jen, Max gegenüber von Kyra. Einzig Wesley musste sich innerhalb des Kreises befinden und seine Fingerspitzen an Chloes Schläfe legen. Sie schwebte exakt im Zentrum.

»Revelio Veritas«, sprach Wesley die auslösenden Worte.

Eine Essenzlohe entstand über ihm und Chloe, tanzte über die magischen Symbole des Kreises und brachte die Flüssigkeit in einer Phiole zum Leuchten.

»Revelio Anima«, ergänzte Jen.

Magenta erhellte den Nachthimmel, als Flammenschwingen in die Höhe schossen und ein weiteres der Gefäße zum Leuchten brachten.

»Revelio Anima Noctis«, rief Alex.

Bernstein floss über die Linien und schoss in ein weiteres Gefäß.

»Revelio Memorum«, sprach Max.

Rötliche Essenz zerfaserte und fuhr so wuchtig in eines der Gefäße, dass dieses beinahe in einem Splitterregen aufgegangen wäre.

»Revelio Aeternum«, vollendete Kyra.

Eine undefinierbare Essenz sprang aus dem Wechselbalg und fuhr in das letzte Gefäß ein. Ein Geschöpf wie Kyra vermochte aus eigener Kraft keine Magie zu wirken, es sei denn, sie kopierte einen Magier bis auf die tiefste Ebene. In diesem Fall war die Lösung jedoch einfacher. Kyra trug ein Bernsteinarmband, das Tilda befüllt hatte, und löste die Magie mit den Worten aus.

Die unterschiedlichen Essenzen loderten in allen vier Himmelsrichtungen und umgaben Wesley und Chloe, die wie zwei Sandkörner in einem Wüstensturm wirkten. Ihre Haare lohten, die Haut schien sich aufzulösen, Schreie erklangen. Jen konnte nicht sagen, wer von beiden sie ausstieß, sie klangen fremd und urtümlich.

»Sie wehrt sich«, brachte Wesley schließlich hervor.

Jen fragte sich, welche Vorkehrungen Merlin noch getroffen hatte, um seine Jünger im Fall der Fälle zu schützen. Waren es weitere eingeritzte Symbole auf dem Knochen?

 

Bei ihrer Reise in die Vergangenheit hatten sie beobachtet, wie Leonardo da Vinci solche auf einem der Knochen von Rasputin angebracht hatte, damit dieser seine Gestalt nicht länger wechseln konnte. So war aus dem Wechselbalg endgültig der Mensch geworden. Gebunden an eine einzelne Gestalt war er gestorben und so auch wiedergeboren worden.

Symbole auf dem Knochen schienen eine ganz spezielle Macht zu besitzen, die weit über normale Zauber hinausging.

»Du musst sie bezwingen«, krächzte Alex.

Sein angestrengtes Gesicht ließ Jen stutzen. Auch Max und Kyra wirkten, als stemmten sie sich mit aller Kraft gegen etwas. Sie selbst fühlte sich leicht und unbeschwert, ihre Essenz schien nicht zur Neige zu gehen.

»Halte … nicht lange durch«, brachte Wesley hervor.

Sie konnte nicht eingreifen, ihm nicht helfen. Er war das Schlüsselelement des Zaubers, seine besondere Gabe. Nur er konnte Chloe zurückführen, die Reise auslösen. Eine gänzlich neue Form des Memorum Excitare, wie es auch durch Mentigloben durchgeführt wurde.

Kyra blinzelte, ihre Lider flatterten.

Alex keuchte, ein Schweißtropfen glitt über seine Stirn.

Max ballte die Hände, schien dieses Mal jedoch nicht bereit, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen. Er schleuderte noch mehr seiner Essenz zu dem Gefäß, fest entschlossen, bis ans Limit zu gehen.

Und darüber hinaus?

Er musste es nicht herausfinden. Wesley erlangte die Oberhand, Jen konnte es spüren. Chloes neongrüne Flammen wurden durchsichtiger, unterwarfen sich Wesleys tobendem Silberglanz.

Die Umgebung schien sich in einen rotierenden Kreisel zu verwandeln, die Zuflucht veränderte ihre Position, die Ebene war oben und unten, überall zugleich. Aus dem Nichts erschien Alex‘ Mum, neben ihr die Schattenfrau, dazwischen Aleister Crowley.

Längst hatte Kyra das Bewusstsein verloren und schwebte auf ihrer Position, Alex hatte die Augen verdreht, nur noch das Weiß war darin zu sehen. Dann erschlaffte auch er. Max brüllte auf, als Edison neben ihm erschien.

Jen begriff.

»Lass los, Max. Es sind nur Erinnerungen. Der Zauber bringt sie hervor, Splitter all dessen, was wir erlebt haben.«

Max schaute sich noch einmal um, betrachtete Edison eingehend und schluckte. Er nickte mit glitzernden Augen, dann ließ er los. Ohne Bewusstsein stieg er empor.

Damit war sie die Einzige, die noch stand.

Ein Wabern glitt über die Ebene. Im nächsten Augenblick war sie befüllt mit Abertausenden von Menschen. Frauen, Männer, Kinder in der Kleidung unterschiedlicher Epochen.

»Erinnerungen«, flüsterte Jen. »Aus so vielen Leben.«

Sie erkannte einen Mann in Frack und Zwirn, passend für einen Nachtclub in den 1920ern in Chicago gekleidet, dazwischen einen Unbekannten in arktischer Ausrüstung, das Gesicht von Raureif bedeckt. Ganz vorne standen Jana und ihre Mum, das ewige Mahnmal für die Kraft des Drachen in ihr. Sie sah Clara, daneben eine Frau in Lendenschurz, deren Haut von dunklen Symbolen bedeckt war.

»Du bist eine Drachenreiterin«, flüsterte Jen. »Ich möchte dich kennen, euch alle kennen. All diese kostbaren Erinnerungen.«

Die Frau lächelte.

Jen konnte es spüren. Die Wucht der Erinnerung, den Zipfel so vieler Geheimnisse, vergessener Tragödien und gewonnener Schlachten.

»Ja, bald.«

Sie ließ los.

Und der Zauber trug sie fort in die Erinnerung von Chloe.

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