Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Auf der Gedenkfeier von Henry Snyder

»Ach du großer Gott!«, rief Mrs. Snyder und schob sich an Mrs. Bertram vorbei zur Tür hinein. »Ach du großer Gott!«, wiederholte sie, hielt sich die Hand aufs Herz und hyperventilierte. »Henrys Filme! Wie könnt ihr es wagen?«

Ja, das fragte sich Mason auch gerade. Wie konnte Danielle nur? Er fuhr sich an die Lippen, die von dem Kuss noch glühten, und sah entschuldigend zu Mrs. Snyder

»Sein Heiligtum!«, schrie Mrs. Snyder. »Sein Ein und Alles. Was habt ihr getan?«

Mason blickte sich um. Einige der Dosen lagen auf dem Boden verstreut. Danielle bückte sich und sammelte sie wieder auf. »Ach, wie dumm. Entschuldigen Sie, Mrs. Snyder.« Rasch stapelte sie die Dosen aufeinander und gab sie Mason. »Hilfst du mir mal, sie zurückzustellen, bitte?«

Sie reichte ihm den Stapel. »Sie müssen wieder nach Datum geordnet werden, so wie sie im Regal lagen.«

Mason nahm die Filme entgegen und verstand. So würden sie die Gelegenheit haben, noch mal einen Blick auf das Datum der Filme zu werfen. Wenn der richtige dabei wäre, könnten sie den vielleicht unbemerkt einstecken und verschwinden. »Natürlich. Tut mir echt leid, Mrs. Snyder.«

Er nahm die Dosen, blickte auf das Datum, bevor er sie wieder wegstellte. Mrs. Snyder stand neben ihnen, presste die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf.

Nach ein paar Minuten hatten sie alles aufgeräumt. Leider war kein Film aus dem Herbst 1984 dabei. Wäre auch zu schön gewesen, dachte Mason.

»Fertig«, sagte Danielle. »Bitte entschuldigen Sie noch mal, Mrs. Snyder. Das war sehr … pietätlos von uns.«

Mrs. Snyder nickte nur. Dann fing sie wieder mit dem Kopfschütteln an. Eine dicke Träne kullerte ihre Wange hinab.

»Wir sollten gehen«, sagte Mason und griff Danielle am Arm.

Sie liefen zum Ausgang. Die anderen Gäste, die die Führung mit Mrs. Bertram gemacht hatten, warteten zum Teil im Flur oder standen beisammen und taten so, als ginge sie das alles nichts an. Alle, bis auf eine.

Mrs. Holt stürzte herbei. Ihre Augen funkelten zornig. Sie packte Danielle am Arm und zerrte sie aus dem Kino. »Komm sofort mit. Du auch, Collister!«

Danielle protestierte, doch es half nichts. Shannon schleifte ihre Tochter mit sich, wie einen Sack Kartoffeln. Mason folgte mit einigem Abstand. In der Eingangshalle gelang es Danielle schließlich, sich von ihrer Mutter zu lösen. Sie betrachtete ihren Ellbogen, der knallrot war.

»Du wirst dich ab sofort von diesem Jungen fernhalten!«, schrie Danielles Mum.

»Ich bestimme meine Freunde selbst, das sagte ich dir ja bereits«, erwiderte Danielle.

»Oh nein, junge Dame. So nicht!« Shannon packte ihre Tochter erneut und zog sie zur Ausgangstür. »Ab sofort wirst du auf unbestimmte Zeit nicht mehr zum Reiten gehen. Du hast außerdem Hausarrest.«

»Mum …«, wollte Danielle einwerfen, aber Shannon zerrte sie zur Tür hinaus. »Wenn du dich mir noch einmal widersetzt, werde ich dich zu Brandon nach Harvard schicken!« Sie verschwand mit Danielle in der Dunkelheit. Mason lief langsam hinterher und sah den beiden nach.

Es regnete mittlerweile. Mrs. Holt hielt ihre Handtasche als Schutz über den Kopf und eilte zum Wagen. Danielle blickte über ihre Schulter zurück zu Mason. Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu, wollte noch etwas sagen, aber ihre Mutter war derart in Rage, dass Danielle nicht mehr zu Wort kam. Eine Limousine fuhr vor. George stieg aus und hielt die Tür auf, ohne eine Miene wegen Shannons Gekeife zu verziehen. Die Schimpftiraden von Shannon Holt verstummten erst, als George die Autotüren schloss.

Und wie komme ich jetzt heim? Mason blickte dem davonfahrenden Auto hinterher und empfand Mitleid für Danielle. Sie saß echt in einem goldenen Käfig.

Mason seufzte und drehte sich zu einem der Türsteher um. »Können Sie mir vielleicht ein Taxi rufen?«

»Ich fürchte nicht, Sir, aber in der Eingangshalle ist ein Telefon, das Sie gerne benutzen dürfen. Gleich neben der Glasvitrine.«

»Danke.«

Mason lief zurück ins Haus. Es war sehr ruhig geworden. Die Gäste waren vermutlich im Kino und schauten den angekündigten Film. Vorausgesetzt Mrs. Snyder hatte sich wieder einigermaßen in den Griff bekommen. Er blickte sich kurz um und sah das Telefon. Es war einer dieser auf nostalgisch gemachten Apparate mit Wählscheibe und Kabel. Lustig. Mason nahm den Hörer in die Hand. Wie war noch gleich die Adresse dieses Schuppens? Er hätte besser aufpassen sollen, statt zu überlegen, wie die Leute hier auf ihn reagieren würden. Während er nachdachte, fiel sein Blick auf die Glasvitrine, vor der er vorhin mit Danielle gestanden hatte. Er betrachtete noch einmal voller Sehnsucht die Sportpokale und wählte die Vermittlung.

»Vermittlung, was kann ich für Sie tun?«

»Äh, Hi. Ich bin …« Und dann sah er etwas anderes, das ihm vorhin gar nicht aufgefallen war. »Hat sich erledigt, danke.« Er legte den Hörer zurück auf die Gabel und lief zur Vitrine. In der hinteren Reihe, leicht verdeckt von einem Foto und einem goldenen Pokal über einen gewonnenen Cup, lag eine Filmdose. War die schon vorhin da gewesen?

Mason blickte sich kurz um, ob ihn jemand beobachtete. Die Türsteher scherten sich nicht um ihn und starrten nach draußen, und von den anderen Gästen war ebenfalls nichts zu sehen. Er öffnete die Vitrine und zog die Filmdose heraus. »September bis Oktober 1984.« Fast hätte er sie wieder fallen lassen. »Das gibt’s ja nicht.« Rasch schob er die Dose unter sein Hemd, schloss die Vitrine und rannte hinaus in den Regen.

*

Angel Island

»Autsch«, sagte Randy und drückte den Eisbeutel auf die Nase. Zum Glück war nichts gebrochen und die Blutung hatte rasch aufgehört. Hoffentlich gab es keine Schwellung, sonst hätte er einiges an Erklärungsbedarf, wenn seine Tante am Wochenende von ihrer Schulung zurückkam.

Die beiden Jungen, die sich mit Luka und Dorian vorgestellt hatten, hatten Olivia und Randy durch ein kleines Wäldchen geführt. Es war ziemlich gruselig gewesen, zwei Fremden durch die Dunkelheit zu folgen, doch warum sollten sie sie erst retten, um ihnen dann etwas anzutun? Randy hatte die ganze Zeit über Olivia nicht aus den Augen gelassen. Sie folgte ihm, die Kameratasche fest an ihren Oberkörper gepresst. Er hatte das Klirren vorhin gehört. Vermutlich war einiges zu Bruch gegangen. Objektive waren empfindlich.

Schließlich gelangten sie mit ihren beiden Rettern an eine kleine Wohnwagensiedlung. Diese war mit Maschendraht eingezäunt. Es gab einen Eingang, an dem ein junger Mann, vermutlich um die zwanzig, Wache hielt. Dorian sprach mit dem Wachposten und deutete dabei immer auf Olivia und Randy. Schließlich ließ er sie passieren. Randy und Olivia folgten den beiden Jungs durch die Wohnwagen. In einigen brannte noch Licht, aus einem der Fenster linste eine ältere Frau, und irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund.

Dorian und Luka führten sie zu einem dunkelblauen Wohnwagen, bei dem bereits die Farbe abblätterte. Dorian öffnete, schaltete das Licht an und ging zum Eisschrank, während der jüngere der beiden, Luka, sich sofort daran machte, Tee zu kochen.

Jetzt saß Randy da, das Eis auf die pochende Nase gedrückt und hoffte, dass der Schmerz bald nachlassen würde.

Luka reichte Olivia eine dampfende Tasse Tee. Sie nahm sie dankend an und setzte sich auf einen Holzstuhl an der gegenüberliegenden Wand. Die Kameratasche stellte sie daneben ab.

»Hast du mal reingeschaut?«, erkundigte Randy sich.

Sie nickte. »Die Kamera ist hin, genau wie das Objektiv.«

»Das tut mir leid, Olivia. Ehrlich.«

»Tja, und mir erst. Die ganze Aktion umsonst.« Sie fuhr sich durchs Gesicht und sagte noch etwas wie: »Miete zurückzahlen … wir landen alle auf der Straße …«, aber so genau konnte Randy es nicht verstehen.

»Ich könnte mir die Kamera mal ansehen. Vielleicht kann ich sie reparieren.«

Olivia blickte zu ihm hinüber. Ihre Schultern waren eingefallen, ihre Augen, die normalerweise wach und aufmerksam wirkten, waren glanzlos und trübe. »Selbst wenn du das schaffst, die Speicherkarte ist total nass geworden. Die Bilder von heute Abend sind sicherlich futsch, genau wie das Objektiv, das ich …« Olivia biss auf ihre Lippen und drehte den Kopf weg. Sie wischte sich rasch über die Augen, als wollte sie unter allen Umständen vermeiden, vor Randy zu heulen. »Das ist eine Katastrophe«, flüsterte sie.

»Hier«, sagte Luka und trat zwischen Randy und Olivia. Er lächelte Randy an und hielt ein Fläschchen in der Hand. »Das sind Bachblüten. Damit wirst du keine Schwellung bekommen.«

Randy zog die Augenbrauen hoch. Bachblüten. Na klar. »Du weißt aber schon, dass der Wirkstoff darin so stark verdünnt wird, dass er gar nicht helfen kann? Das ist ungefähr genauso, wie wenn ich Hustensaft in einen See kippe und dann einige Schlucke daraus trinke.«

Luka grinste. Ein Eckzahn hing auf Halbmast und würde sich bestimmt demnächst verabschieden, die beiden vorderen fehlten bereits und die neuen schoben nach. »Wenn sie angeblich nicht wirken, können sie nicht schaden. Nimm.«

Randy rollte die Augen. Er hielt nichts von dem ganzen homöopathischen Krimskrams, aber er wollte auch nicht unhöflich sein. Er nahm das Fläschchen von Luka und drehte es auf. Im Deckel war eine Pipette angebracht.

»Einfach auf die Zunge träufeln«, sagte Luka zufrieden. »Fünf Tropfen.«

»In Ordnung.«

Olivia trank einen weiteren Schluck Tee. »Der ist sehr lecker, was ist da drin?«

»Melisse, Baldrianwurzeln, Lavendelblüten, Kamille, Hopfen, Ringelblumenblüten, Schafgarbenkraut, Anis, Kümmel, Rosmarinblätter«, sagte Dorian und lächelte. »Und noch einige Spezialkräuter meiner Tante Albertha. Es beruhigt die Nerven.«

 

Olivia sah in die Tasse und nickte. »Danke.«

»Ja, danke«, sagte auch Randy. »Für die Rettung und so.«

»Gern geschehen«, sagte Dorian und setzte sich auf den Holztisch. Es knarzte und Randy rechnete schon damit, dass der altersschwache Tisch zusammenbrechen würde, doch er hielt. »Die Jungs kommen schon den dritten Abend her, um sich auf dem Parkplatz zu treffen. Es war Zeit, ihnen zu zeigen, dass sie sich ein anderes Territorium suchen müssen. Der Rummel ist unser Gebiet.«

»Der ältere von denen ist ganz rot angelaufen, haste das gesehen?«, fragte Luka. »Hab ihn voll auf die Zwölf getroffen.« Er nahm seine Steinschleuder aus der Hosentasche, spannte sie und schoss einen imaginären Stein. »Zack! Der saß.«

Die Steinschleuder war offenbar eine Eigenkonstruktion, denn so etwas hatte Randy noch nie gesehen. Sie hatte einen mechanischen Auslöser wie bei einer Armbrust und war größer als das, was sie als Kinder aus Ästen und Einmachgummis zusammengebastelt hatten. Vermutlich hatten die Geschosse deshalb so eine Durchschlagskraft gehabt.

Dorian lachte und wuschelte dem Kleinen durch die Haare. »Ja, hast du gut gemacht. Vielleicht reicht es, um sie fernzuhalten.«

»Wenn nicht, beschießen wir sie morgen wieder. Wir könnten Kuhdung von Rosaline in Kugeln formen und damit schießen.« Luka spannte wieder seine Steinschleuder und ballerte weiter imaginäre Kugeln durch die Luft.

»Ich wusste gar nicht, dass hier überhaupt jemand wohnt«, sagte Randy.

»Und es wäre schön, wenn ihr das für euch behaltet«, sagte Dorian und sah Randy fest in die Augen. »Wir wollen hier keine Fremden. Ich werde schon erklären müssen, warum wir euch hierher mitbrachten.«

»Das hättet ihr nicht gemusst, aber danke«, sagte Randy. »Von uns erfährt niemand etwas.«

»Was macht denn die Nase?«, fragte Dorian.

Randy betastete die Stelle, auf die er den Schlag erhalten hatte. »Erstaunlich gut. Tut gar nicht mehr weh.«

»Siehste«, sagte Luka und grinste breit. »Hab doch gesagt, dass die Bachblüten helfen.«

»Wenn ihr euch soweit wieder fit fühlt, werden wir euch zurück zu eurem Auto begleiten«, sagte Dorian und sah zum Fenster. »Es sieht nach Regen aus, bald wird ein Gewitter reinziehen. Luka, nimm noch ein paar Steine mit. Nur zur Sicherheit.«

Luka straffte die Schultern und salutierte. »Aye, Aye, Captain.« Er lief zu einem Wandschrank und öffnete ihn. Drinnen lagen Steinschleudern in verschiedenen Größen und Tupperdosen mit Steinen in allen möglichen Formen und Farben. Luka öffnete die Tür weiter und Randy stockte. An der Innenseite klebte ein Plakat.

»Das habe ich doch schon mal gesehen«, sagte er und stand auf. Das Bild zeigte einen Mann, der in einem Netz lag, wie es Trapezkünstler verwendeten. Er grinste übers ganze Gesicht, hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt und wirkte so selig, als hätte er soeben den Sprung seines Lebens geschafft. Das gleiche Bild hatte Randy bei Billys Unterlagen gefunden. Daneben hatte Billy mit per Hand geschrieben: »Was ist mit Marek? Verbindung zu Marietta?«

Olivia stand ebenfalls auf, um sich das Bild genauer zu betrachten.

»Das ist mein Cousin Marek Cherkov«, sagte Dorian. »Das Bild ist von einer Generalprobe. Er hatte mit seinen Brüdern Viktor und Finn gerade eine neue Nummer einstudiert und wollte sie am nächsten Abend vorführen, aber dazu kam es nicht mehr. Er verschwand in der Nacht zuvor und kehrte nie zurück.«

»Oha, warum das?«, fragte Randy.

»Das weiß niemand so genau. Angeblich soll er ein junges Mädchen geschwängert haben, das einige Monate später getötet wurde.«

Randy schluckte. »Weißt du zufällig, wie das Mädchen hieß?«

»Marietta«, sagte Luka schnell. »Marietta King.«

Olivia und Randy zuckten gleichzeitig zusammen.

»Sie soll wunderschön gewesen sein«, fuhr Luka fort. »Ein braunhaariger Engel mit Flügeln. Sie hat Marek erst entführt und ist dann selbst ins Feenreich gegangen, um für immer bei ihm zu sein.«

»Du musst aufhören, dir all diese Fantasybücher reinzuziehen, Luka«, sagte Dorian. »Marietta war natürlich kein Engel und Marek ist nicht in irgendeinem Feenreich.«

»Aber Marietta war von Marek schwanger gewesen?«, fragte Randy.

»Schwanger war sie wohl, aber sicher nicht von Marek. Er hatte als Kind die Röteln gehabt und konnte keine Kinder mehr zeugen. Das sagt zumindest Tante Loretta, und als seine Mutter wird sie es wissen.«

»Marietta King war schwanger«, wiederholte Olivia. »Da sieh mal einer an. Wann genau ist das gewesen?«

Dorian tippte sich ans Kinn. »Lass mal überlegen … das müsste im Sommer 84 gewesen sein.«

»Was wurde aus dem Kind?«

»Keine Ahnung. Ich kenne ja nur die Geschichten von damals aus den Erzählungen.« Dorian betrachtete noch einmal das Bild von Marek und seufzte.

»Könnten wir eventuell mit deiner Tante reden?«, fragte Randy. Vielleicht könnten sie von ihr noch ein paar brauchbare Informationen über Marietta bekommen.

»Sie ist nicht da. Sie ist ins Gefängnis gefahren, um ihre beiden Söhne zu besuchen. Da nimmt sie sich immer ein Hotel für eine Nacht und kommt erst am nächsten Morgen zurück.«

»Gefängnis? Das ist ja … furchtbar.« Ein Sohn spurlos verschwunden, zwei andere im Knast. »Die arme Frau.«

»Ja. Tante Loretta hat damals in einer Woche drei Söhne verloren. Erst ist Marek verschwunden, dann wurden seine Brüder kurz darauf wegen Einbruchs mit Totschlag verhaftet. Nachdem die beiden ihre Haftstrafe abgesessen hatten, überfielen sie einen Lebensmittelladen und verletzten den Inhaber schwer. Sie landeten wieder im Bau und wir hocken immer noch hier fest, während die anderen Zirkusleute weitergezogen sind. Tante Loretta bringt es nicht übers Herz, meine Cousins zu verlassen, egal, was sie angestellt haben.«

»Wahnsinn. Ihr wohnt hier seit knapp dreißig Jahren, weil eure Tante nicht weg will?«

»Wir sind eine Familie. Wir halten zusammen.«

Beneidenswert, dachte Randy. Er liebte seine Tante über alles, aber sie konnte nicht seine Eltern ersetzen und manchmal sehnte sich Randy einfach nach einem harmonischen Familienleben.

»Wenn es euch besser geht, bringen wir euch gerne zurück«, sagte Dorian. »Wir werden es vor dem Regen schaffen.«

Olivia blickte zum Fenster hinaus. »Das wäre toll, denn die Sonne geht auch bald auf und wir beide müssen in die Schule.«

»Außerdem haben wir eine Verabredung mit diesem Archer, falls du dich erinnerst«, sagte Randy.

»Den Wettbewerb kann ich mir eh in die Haare schmieren. Selbst wenn wir den Fall lösen, habe ich keine Bilder, mit denen ich daran teilnehmen kann.«

»Willst du ihm absagen?«

Olivia zuckte die Schultern. Sie wirkte so verloren und verletzlich, dass Randy sie am liebsten in den Arm genommen hätte.

»Lass uns das später entscheiden, okay?«, sagte er stattdessen und gähnte herzhaft. Vielleicht konnte er sich wenigstens ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Auf der anderen Seite hatte er als erstes Fach Geschichte bei Mr. Kelso. Die perfekte Gelegenheit, um etwas Schlaf nachzuholen. Da musste dieses Mal ausnahmsweise Mason alles notieren.

*

Die Galerie reachAble

Freitagmittag, 14 Uhr

Olivia lief am Straßenrand auf und ab und kaute auf ihrer Unterlippe. Das Smartphone hielt sie fest umklammert und starrte alle paar Minuten aufs Display. Sie hatte es nicht fertig gebracht, das Treffen abzusagen, auch wenn sie kurz davor gewesen war. Sie hatte zigmal das Smartphone gezückt und die Nummer aufgerufen, doch letztendlich nicht gewählt. So stand sie hier und wartete. Archer verspätete sich bereits um zehn Minuten. Noch fünf und er hätte die obligatorische Viertelstunde überschritten. Wie lange sollte sie auf ihn warten? Welche Zeitspanne war angemessen? Würde er überhaupt kommen? Olivia blies frustriert die Luft zwischen den Zähnen durch. Sie hatte Kopfschmerzen und war übermüdet. Nachdem sie erst Randy abgeliefert hatte und dann nach Hause gekommen war, hatten alle zum Glück tief und fest geschlafen. Auf dem Tresen hatte ein Zettel geklebt. Von ihrer Mum:

Olivia, Dein Vater ist wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Wir sind früh zu Bett. Bitte sei leise, wenn du kommst. Er braucht seinen Schlaf. Im Kühlschrank sind noch Burritos, falls du Hunger hast. Tequiero, Mamá.

Olivia war nach oben geschlichen, hatte eine Wanne eingelassen und sich zwei Stunden hineingelegt. Vermutlich würde sie Ärger wegen der Wasserrechnung bekommen, aber sie musste den Dreck der Nacht von sich waschen.

Nach einem unruhigen Zwei-Stunden-Schlaf war sie schließlich aufgestanden, hatte sich Aspirin eingeworfen und war zur Schule gefahren. Noch nie war ihr der Unterricht so zäh und überflüssig vorgekommen wie heute. Sie hatte die anderen nur kurz gesprochen. Sie hatten sich alle für den späteren Nachmittag im Geheimraum verabredet. Vorausgesetzt, Olivia würde nicht im Stehen einschlafen.

Sie sah erneut auf die Uhr ihres Smartphones. Achtzehn Minuten Verspätung. Und vorausgesetzt, ich warte hier nicht noch zwei Stunden auf Archer. Olivia schüttelte den Kopf, nahm ihre Handtasche von der Schulter und suchte nach den Aspirin und der Flasche Wasser, die sie sich eingepackt hatte. Sie spülte gerade die Tabletten hinunter, als ein schwarzer Porsche 911 mit getönten Scheiben vor der Galerie einbog. Olivia stockte. Was für eine grässliche Angeberkarre. Sie hatte Porsche noch nie etwas abgewinnen können und das nicht nur, weil ihr Vermieter einen fuhr. Die Fahrertür ging auf und Archer stieg aus.

Bedauerlicherweise sah er, wie am Tag zuvor, einfach umwerfend aus. Bedauerlich deshalb, weil Olivia für einen Moment sogar ihren Zorn über seine Verspätung vergaß, dabei hasste sie nichts mehr als unzuverlässige Menschen. Archer trug ein weißes Hemd und helle Jeans, die bestimmt extra für ihn geschneidert worden waren, so perfekt wie sie saßen. Sie hatten Flicken und Löcher an den Taschen und am Knie. Sicherlich waren auch diese extra angefertigt worden. Olivia konnte sich nicht vorstellen, dass er seine Jeans derart verschliss. Er fuhr sich durch die braunen Haare und blickte zu ihr. Seine Augen waren hinter einer dunklen Dolce & Gabbana-Brille verborgen. Sie winkte ihm zu und schalt sich gleichzeitig dafür. Nur dumme Mädchen winken Typen zu! Reiß dich zusammen, Oliv!

Chris schien es eh nicht zu kümmern, er nickte nur, schloss die Tür und kam um den Wagen zu ihr gelaufen.

»Hi«, sagte er.

»Hi«, erwiderte Olivia und wartete, ob er sich für die Verspätung entschuldigen würde. Aus der Nähe erkannte sie, dass seine Haare noch etwas feucht waren, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen. Und er roch nach einem dezenten Aftershave, obwohl die Bartstoppeln an seinem Kinn darauf hindeuteten, dass er sich nicht rasiert hatte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Chris. »Du glotzt mich an, als hätte ich irgendwo Essensreste am Hemd hängen.« Er schaute an sich hinab, überprüfte sein weißes Hemd auf Flecken.

Olivia schüttelte sich. »Äh, nein, hast du nicht, aber du bist zu spät. Ich stehe mir hier seit fast zwanzig Minuten die Beine in den Bauch.«

Er ließ von seinem Hemd ab und zuckte die Schultern. »Tja, kommt vor. Wollen wir rein? Der Boss braucht sein Auto in einer halben Stunde wieder.«

Olivias Mund klappte auf. »Höflichkeit ist nicht so deine Stärke, oder? Ich bin hier, weil ich dir helfen will und nicht, weil ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß.«

Chris schnappte Luft, um etwas zu erwidern, doch er schwieg.

Olivia stemmte die Hände in die Hüften. Sie war diesem Kerl nichts schuldig, egal wie gut er aussah. »Ich gehe jetzt«, sagte sie und drehte um. »Sieh zu, wie du alleine zurechtkommst.«

»Warte«, rief er ihr nach und packte sie am Ellenbogen.

Olivia starrte auf seine Hand an ihrem Arm und machte sich los. Er nahm die Sonnenbrille ab, fuhr sich durchs Gesicht und seufzte.

»Ich wollte nicht pampig sein und mich auch nicht verspäten. Mir ist klar, dass du mir nur helfen willst.« Er blickte zu Boden und kickte einen Stein weg. »Bitte entschuldige. Ich stehe etwas unter Strom im Moment.«

 

»Wer nicht?«

Chris sah auf und Olivia direkt in die Augen. Um seine linke Iris zog sich ein grüner Ring. Ein schöner Kontrast zu dem restlichen Braun. »Es tut mir wirklich leid. Ich wollte deine Zeit nicht überbeanspruchen. Wenn du also noch magst, würde ich mich freuen, dir die Galerie zu zeigen.«

Olivia schürzte die Lippen, schluckte ihren verletzten Stolz herunter und nickte. »Also gut. Lass uns reingehen.«

Er lächelte leicht. »Dort entlang, bitte.« Chris deutete auf einen Weg, der um das Gebäude herumführte. Nach einigen Minuten gelangten sie an eine Stahltür. Er kramte einen Schlüsselbund heraus. Neben dem Schloss war ein Display mit Zahlen angebracht. Chris tippte eine Nummer ein, drehte den Schlüssel und die Tür öffnete. Er ließ Olivia den Vortritt.

Klappt doch mit den guten Manieren. Drinnen sprang sofort ein Bewegungsmelder an und erleuchtete den Gang, in dem sie standen. Die Luft war angenehm kühl, es roch nach Kunststoff und Reinigungsmittel. Vielleicht hatte schon eine Putzfrau angefangen, die Sauerei zu entfernen.

»Dann lass mal hören, wie hast du dir das vorgestellt?«, fragte er, während sie durch den Flur liefen.

»Ein Freund von mir, Randy, wollte dazu kommen.« Sie hatte vorhin mit ihm telefoniert und er sagte, er würde noch etwas benötigen, bevor er sich mit Olivia in der Galerie treffen konnte, und sie solle schon mal vorgehen. »Er ist ein kleiner Neek und hat bestimmt eine Idee.«

»Neek?«

»Ja, äh … eine Mischung aus Nerd und Geek: Neek eben.« Den Kosenamen hatte Mason sich ausgedacht.

»Aha.«

Sie sah zu Chris hinüber. Er hatte die Sonnenbrille in die Haare gesteckt und sah wirklich zum Anbeißen aus. »Hat sich die Polizei denn schon bei euch gemeldet?«

»Nein. Der Boss hat mit dem Sheriff gesprochen, aber der hat ihm wenig Hoffnung gemacht. Wenn sich übers Wochenende nichts ergibt, werden wir wieder abreisen, denn dann war es das mit Ausstellung und Wettbewerb.« Chris schüttelte den Kopf. »Für Lucian ist das keine große Sache. Er macht weiter, als wenn nichts geschehen wäre«, sagte er leise. »War ja auch nur mein Traum, der da geplatzt ist. Meine erste große Ausstellung, mein Sprungbrett in die nächsten Kreise, meine …« Chris unterbrach sich und winkte ab. Offenbar hatte er mehr verraten, als er wollte.

»Das tut mir leid«, sagte Olivia.

Chris schnaubte nur, öffnete eine Doppeltür und ließ Olivia erneut den Vortritt. Sie standen jetzt in der Halle, in der die Kunstwerke ausgestellt wurden. Olivia hatte sie vor ein paar Tagen nur von draußen gesehen. Seither hatte sich einiges verändert. Die Ausstellungsstücke waren zur Seite geräumt worden, die Bilder abgehängt und ein Teil der Schmierereien war bereits weggewischt worden. Das große Fenster zur Straße hin war ebenfalls ersetzt worden.

»Ihr wart aber schnell mit dem Saubermachen«, sagte Olivia.

»Die Polizei meinte, es wäre in Ordnung. Rebecca hat schließlich die Putzfrau beauftragt, die Schmiererei wegzuwischen. Ich schätze, sie will so schnell wie möglich wieder für Ordnung sorgen.«

Olivia durchquerte den Ausstellungsraum. Ihre Sneakers quietschten auf dem Linoleumboden. »Ist sie nicht daran interessiert, den Fall aufzuklären?« Ihre Stimme hallte in dem hohen Raum wider.

Chris zuckte die Schultern. »Ich kann Rebecca nur schwer einschätzen. In der einen Minute ist sie total euphorisch wegen einer Sache – und in der nächsten verliert sie das Interesse daran. Wenn du mich fragst, wirft sie irgendwelche lustigen Pillen ein. Wie heißt diese neue Partydroge noch mal?«

»Black Flash.«

»Richtig. Davon hatte uns der Bürgermeister erzählt, als wir bei ihm letzte Woche zu Gast waren.«

»Der Bürgermeister lädt euch ein?«

»Der Boss wird zu allem und überall hin eingeladen«, sagte Chris. »Er hat bereits einen Fototermin mit ihm vereinbart, um eine neue Portraitreihe zu schießen. Vom Präsidenten der Vereinigten Staaten zum Bürgermeister von Barrington Cove«, erzählte er weiter. »Lucian knipst alles, wenn der Preis stimmt.«

»Und der wird nicht billig sein.«

»Mindestens fünfstellig, damit er überhaupt sein Stativ auspackt.«

Olivia hob die Augenbrauen und schmunzelte. »So nennt man das also heutzutage.«

Chris sah sie eine Sekunde verdutzt an, dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Das war nicht annähernd so anzüglich gemeint, wie es geklungen hat.«

Olivia gab ihm einen Stups gegen den Ellbogen. Chris lächelte noch immer, als er ihre Hand abwehrte. Olivia lief weiter und ließ sich die Summe noch mal durch den Kopf gehen. Fünfstellig! Und das nur dafür, dass Lucian anrückte und sein Equipment aufbaute. Sie musste irgendwie Zugang zu dieser Welt erhalten. Das wäre die Möglichkeit, ihre Eltern zu entlasten, sie könnte jede Behandlung von Dad bezahlen, eine neue Wohnung suchen. Maria könnte in einem gesünderen Umfeld aufwachsen. All das war machbar, wenn Olivia nur in dieser Branche Fuß fassen könnte.

Chris blieb in der Mitte der Halle stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, mit was willst du anfangen?«

Ich würde gerne wissen, ob du eine Freundin hast oder nicht … »Tja, ich weiß nicht. Bis Randy kommt, könnten wir uns ja vielleicht die Überwachungsvideos anschauen. So was habt ihr hier doch sicherlich.«

»Ja, aber dreimal darfst du raten, was in der Nacht des Einbruchs nicht funktioniert hat.«

»Ist nicht wahr.«

»Sie haben alle nur Rauschen aufgenommen. Das war das erste, was die Polizei überprüft hat. Der Einbrecher hatte sie vorher kurzgeschlossen.«

»Verdammt.« Olivia kaute auf ihrer Unterlippe und blickte sich um. Sie deutete auf die roten Kleckse auf den Wänden, die noch nicht abgewischt worden waren. »Ist das eigentlich Blut?«

»Nein. Rote Farbe. Immerhin hat der Sheriff das gleich überprüft. Er hat sogar die Marke ausfindig gemacht: Sweet Color. Er meinte, das wäre eine ganz heiße Spur. Dass ich nicht lache. Die Farbe wird nur übers Internet bei zig Online-Shops verkauft. Den Käufer zu finden, grenzt also an ein Wunder.«

Olivia nickte und ging näher. Das Wort ›Heuchlerin‹ war noch zu lesen, die anderen Wörter waren bereits weggewischt. »Wer könnte so einen Hass auf Rebecca Reach haben, um das zu tun?«

»Da gibt es eine Menge Leute«, sagte Chris und lehnte sich neben sie an die Wand. »Rebecca hat viele Neider. So sagt sie zumindest.«

»Und wer?«

»Keine Ahnung. Meistens unterhält sie sich mit Lucian. Ich schätze, ich bin für sie nur der olle Lakai, der die Fotoausrüstung trägt – und es stimmt ja auch.« Er kramte in seiner Hemdtasche und zog ein Päckchen Kaugummi heraus. »Magst du? Sind zuckerfrei.«

Olivia nickte und griff danach. Sie mochte eigentlich keinen Kaugummi. Als er ihr das Päckchen hinhielt, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Finger über seine strichen. Ein wohliger Schauer schoss durch ihren Körper. Sie ließ sich mehr Zeit, als sie eigentlich benötigte, um das Kaugummi aus der Packung zu pfriemeln. Chris behielt sie dabei fest im Blick.

»Du hast spanische Wurzeln, oder?«

»Sí«

»Die dunklen Haare, der Teint, deine perfekte Haut … Außerdem betonst du manche Silben ein wenig gedehnter, als ein Amerikaner es tun würde. Dein Sprachrhythmus ist melodischer.«

»Was dir alles auffällt.« Olivia war hier geboren und Englisch somit ihre Muttersprache, aber es war gut möglich, dass sich durch das Spanischreden zuhause ein leichter Akzent einschlich. Endlich hatte sie das Kaugummi befreit und steckte es in den Mund.

»Ich beobachte gerne Menschen und überlege mir, woher sie stammen oder was sie bereits erlebt haben, wo sie hingehen, wovon sie träumen. So Dinge eben.« Er steckte das Päckchen Kaugummi ein und lachte. »Albern, ich weiß.«

»Finde ich gar nicht. Ehrlich gesagt, geht es mir auch oft so. Wenn ich draußen beim Fotografieren bin zum Beispiel. Dann sehe ich die Welt plötzlich mit anderen Augen. Licht, Formen, Schatten, Gesichter, alles bekommt eine neue Bedeutung. Die Welt durch den Sucher einer Kamera zu beobachten, fokussiert den Blick aufs Wesentliche.«