Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Chris nickte und schwieg. Es vergingen einige Sekunden, in denen sie sich nur ansahen. Wie gerne würde sie ihn fotografieren. Er wäre das perfekte Model.

»Wenn das vorbei ist …«, sagte er leise, doch was auch immer er fragen wollte, würde Olivia nicht erfahren, denn in dem Moment platzte Randy zur Tür herein. »Da seid ihr ja …«

Sofort fuhren Chris und sie auseinander, als hätten sie etwas Verbotenes getan.

»… endlich«, schloss Randy den Satz ab und starrte Olivia und Chris an, als wären sie Teil der Ausstellung. »Störe ich?«

»Nein.« Olivia schoss die Röte in die Wangen. Herrgott, sie wurde nie rot! Rasch drehte sie sich zur Seite, damit es Randy nicht sehen konnte.

»Ich kann auch wieder gehen«, sagte Randy mit einem Schmunzeln in der Stimme.

»Sei nicht albern«, gab Olivia zurück. »Was ist das für ein Umschlag?« Sie deutete auf das braune Kuvert in Randys Hand. Themenwechsel waren noch immer die beste Ablenkung.

Randy starrte auf das Papier in seiner Hand. »Oh, das. Das sind deine Fotos von gestern.«

Und schwupps, war der peinliche Moment von eben komplett vergessen. »Ist nicht dein Ernst!« Sie rannte zu Randy, riss ihm das Kuvert aus der Hand wie ein Verhungernder einem Koch das Essen und zog die Fotos aus dem Umschlag.

»Die Speicherkarte hat ganz schön was abbekommen, aber ich konnte einen Teil der Daten retten und ausdrucken. Ich schätze, die Bilder sind nicht so, wie du sie dir erhofft …«

»Oh mein Gott!«, sagte Olivia, als sie das erste Foto sah. »Das glaube ich nicht.«

Sie zog das zweite Bild heraus, das dritte, das vierte. »Unglaublich«, flüsterte sie die ganze Zeit über.

»Wow«, sagte Chris, der hinter sie getreten war. Olivia spürte seine angenehme Wärme im Rücken und sofort schlug ihr Herz einen Tick schneller. Er nahm ihr ein Foto ab und betrachtete es genauer. »Die sind fantastisch.«

»Ja, oder?«, sagte Olivia und begutachtete das nächste Bild. Es lag ihr normalerweise nicht, sich selbst zu loben, aber in diesem Fall war es nicht ihr Verdienst, dass die Fotos so großartig geworden waren. Alle Rottöne waren invertiert worden. Einige Details waren verwaschen, die Lichter, die sie vom Karussell fotografiert hatte, wurden als weichgezeichnete Spitzlichter dargestellt. Es sah aus wie abstrakte Kunst. Das Bild von Randy auf dem Holzpferd war mit das Beste. Seine Silhouette war verzerrt, er sah aus als hätte er Flügel, die als Lichtbogen um ihn herumreichten.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Chris.

»Indem ich meine Kamera zertrümmert habe.«

»Bitte?«

»Lange Geschichte.«

Er nahm ihr einige der Fotos aus der Hand und pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Bin sehr gespannt, die zu hören.«

Sie drehte sich zu ihm und lächelte ihn über ihre Schulter hinweg an.

Randy räusperte sich lautstark. »Also, ich will euch nicht unterbrechen bei eurer Flirterei, aber ich habe auch Neuigkeiten wegen der Galerie.«

Olivia schlug Randy mit dem Umschlag auf die Schulter. »Wir flirten nicht. Wir unterhalten uns über Kunst.«

»Klar doch«, sagte Randy und kramte in seiner Umhängetasche nach einem schmalen Leitzordner, der randvoll mit Papieren war. »Hier steht alles, was ich über Rebecca Reach zusammentragen konnte. Zumindest in der Kürze der Zeit zwischen Schule und jetzt.«

»Steinbeck, du bist unglaublich«, sagte Olivia, gab Chris den Umschlag mit den Fotos und nahm ihm den Ordner aus der Hand. Sie blätterte ihn auf. Die Papiere waren voller Post-its mit kleinen Notizen wie ›Rebeccas Schulzeit‹, ›Rebeccas College‹, ›Freunde‹, ›Wohnorte‹ und so weiter.

Chris schnalzte mit der Zunge. »Ein Neek, jetzt verstehe ich.«

»Sag ich doch.«

»Hier vorne«, sagte Randy und wechselte einen raschen Blick zwischen den beiden, »ist die Kurzzusammenfassung«.

Olivia nickte und begann zu lesen. »Rebecca Reach eckte schon öfter mit der Kunst an, die sie ausstellte. Vor zwei Jahren demonstrierten Tierschützer vor ihrer Galerie, weil sie einen Künstler förderte, der angeblich Pelze und Knochen von Tieren in seinen Kunstwerken verarbeitete. Hinterher stellte sich raus, dass es Kunstpelz und Plastikknochen waren. Ein anderes Mal machte sie der Pastor bei den Gemeindemitgliedern schlecht, weil er die Werke von einem ihrer Maler als Blasphemie empfand. Doch Rebecca zog ihr Ding weiter durch. Vor einigen Monaten fing dann der Vandalismus bei ihr an. Einmal waren die Reifen ihres Autos zerstochen worden, ein anderes Mal wurden die Fenster ihres Hauses eingeschlagen. Sie meldete alle Vorfälle, aber der Sheriff nahm es nicht sehr ernst. Laut Zeitungsberichten machte Rebecca ein ziemliches Gezeter auf dem Polizeirevier. Sie beleidigte sogar Bruker als inkompetenten Hornochsen, was ihr eine Nacht im Gefängnis einbrachte und – Achtung, das müsst ihr euch mal vorstellen: Bruker hat ihr daraufhin die Steuerprüfung auf den Hals gehetzt.« Olivia blickte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Der Sack Bruker hat sich bestimmt in seiner Ehre gekränkt gefühlt und wollte ihr eins auswischen.« Sie sah zurück auf den Artikel und las weiter. »Die Prüfer fanden allerdings nichts. Der Vandalismus klärte sich kurz danach auf. Es waren ein paar Jugendliche gewesen, die willkürlich fremdes Eigentum zerstörten. Es traf noch weitere Autos in der Nachbarschaft. Da hat sie Bruker also umsonst beleidigt.«

»Rebecca war bereits in der Schule energisch«, führte Randy weiter fort. »Sie hat die Highschool als Klassenbeste absolviert, ging danach aufs College, um Kunst und Marketing zu studieren. Dort stellte sie bereits ihre ersten Bilder aus und bewies ein Gespür für neue Talente. Außerdem war sie ein Marketing-Ass. Sie gestaltete zu jedem Künstler, den sie gut fand, ein aufwendiges Marketingprogramm, organisierte zum Beispiel zwei Elefanten und Artisten, um für die Ausstellung eines jungen Mannes aus dem Orient zu werben. Ach ja, sie ist auch noch großzügig. Sie fördert Nachwuchstalente und macht jedes Jahr eine Sonderausstellung, sowie diesen Wettbewerb. Der Ertrag dieser Ausstellungen geht an eine Hilfsorganisation. Dieses Frühjahr sollte das Geld in ein Hospiz fließen.«

»Davon hat Rebecca gar nichts erzählt«, sagte Chris. »An welches Hospiz sollte das Geld denn gezahlt werden?«

»Ähm, Moment«, sagte Randy und blätterte im Ordner herum, bis er den Post-it mit der Aufschrift ›Heartfull‹ fand und die Seite aufschlug. »Evelyn Granger ist Leiterin des Hospizes Heartfull. Sie führt es seit fünf Jahren mit großem Engagement und war bereits ein paar Mal in der Presse. Sie wurde vor allem für ihre warmherzige Art und ihr Einfühlungsvermögen gegenüber den Patienten gelobt. Außerdem legt sie sehr viel Wert auf ein familiäres Ambiente. ›Bei uns sollen Menschen in Würde sterben‹, wird sie zum Beispiel in der Gazette zitiert. Ach ja, und falls ihr euch fragt, warum ich das explizit markiert habe: Evelyn Granger und Rebecca Reach waren Zimmergenossinnen auf dem College. Bis vor einem halben Jahr hatten sie sogar noch regen Kontakt, und auf einmal brach der ab. Seither herrscht eine Eiseskälte zwischen den beiden.«

Olivia klappte den Ordner zu und schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das hast du innerhalb von zwei Stunden herausgefunden?«

Randy zuckte die Schultern, als wäre das das Normalste der Welt. »Hast du eine Ahnung, was man in Zeiten von Facebook, Twitter und Instagram herausfinden kann, wenn man weiß, wonach man suchen muss? Ein paar gut gezielte Schlüsselwörter und die Maschine spuckt dir alles aus, was du wissen willst. Gerade bei Menschen, die – wie Rebecca und Evelyn – in der Öffentlichkeit stehen, ist es ein Klacks. Das Ausdrucken und Abheften hat fast länger gedauert als alles andere.«

»Warum die beiden sich zerstritten haben, weißt du nicht zufällig?«, fragte Chris.

»Nein, aber fast zur gleichen Zeit ging die Randale in Rebeccas Leben los. Die zerstochenen Reifen, eingeschlagene Fensterscheiben et cetera.«

»Na, so ein Zufall«, sagte Chris.

»Vielleicht sollten wir mal bei Mrs. Granger vorbeischauen, was meint ihr?«, fragte Olivia.

»Ich bin dabei.«

»Ich kann nicht«, sagte Randy. »Tut mir leid, aber Mason hat mir vorhin in der Schule gesagt, wir müssten uns unbedingt treffen. Er hat den Film und braucht meine Hilfe beim Abspielen.«

Olivia war natürlich sofort klar, um was für einen es sich handelte. »Oh, echt?«

»Nein, ich erfinde das nur, weil ich es spannend finde«, sagte Randy.

»Blödmann.« Olivia lachte und wollte ihm den Ordner auf den Kopf hauen, doch er riss ihn ihr aus den Händen. Sie wandte sich zu Chris. »Da wäre ich gerne dabei«, sagte sie. »Mason ist mein Freund.«

Chris zuckte, sichtlich irritiert, als sie Mason als Freund bezeichnete. »Äh, klar. Mach du ruhig.«

»Also, er ist nicht so ein Freund. Also kein Boyfriend-Freund, wenn du verstehst«, fügte sie rasch an. »Ich bin Single.«

»Oh Mann«, sagte Randy und klemmte den Ordner unter den Arm. »Ich warte draußen auf dich, komm einfach, wenn du so weit bist, dann kannst du mich gleich mit ins Haus nehmen.«

»Wie bist du überhaupt hierher gekommen?«, fragte Olivia.

»Es gibt öffentliche Verkehrsmittel. Sind ganz praktisch von Zeit zu Zeit.«

Randy ging und ließ sie alleine. Für eine Sekunde blieb Olivia unschlüssig zurück, dann drehte sie sich um und lächelte ihn an. Sie wollte nach ihren Bildern greifen, die Chris noch immer in den Händen hielt, aber er zog sie weg.

»Wenn du nichts dagegen hast, zeige ich die mal Lucian. Er wird sie lieben.«

Ob sie etwas dagegen hatte, wenn er ihre Fotos einem der berühmtesten Fotografen zeigte, weil er sie so toll fand? Machte er Witze? Als Antwort küsste sie ihn auf die Wange und hauchte ein Danke hinterher. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ sie die Galerie mit diesem herrlichen Kribbeln im Bauch, als würde eine Horde Schmetterlinge darin herumflattern.

 

*

Tarnowski-Haus, etwas später

Mason saß vor dem Bildschirm. In einem Chatfenster war Danielle zu sehen. Sie hatte sich via Skype hinzugeschaltet, weil sie nach der Kusssache Hausarrest bekommen hatte. Vorhin hatten sie sich auch nur kurz in der Schule von Weitem gesehen, weil Danielle ständig von ihren Freundinnen umlagert gewesen war. Wie Bodyguards hatten sie sie abgeschirmt, als wäre es ihr Auftrag, Danielle von allen anderen Schülern der Barrington High fernzuhalten. Und es war ihnen gelungen. Mason fand nicht eine Sekunde Zeit, sich alleine mit ihr zu unterhalten. Dafür hatte sie ihm irgendwann im Laufe des Vormittags einen Zettel mit ihrer Skypeaddy in den Spind geschoben. Da sie auch keine Gelegenheit gehabt hatte, mit Randy oder Olivia zu sprechen, hatte Mason Danielle auf den neuesten Stand wegen Marietta gebracht.

»Der arme Randy bekommt ganz schön was ab«, sagte Danielle. Der Schreibtisch, auf dem ihr Computer stand, war gegenüber von ihrem Fenster aufgebaut. Mason konnte sogar die einzelnen Bäume in ihrem Garten erkennen, so gestochen scharf war das Bild.

»Das stimmt, aber man sieht kaum noch was. Seine Nase hat einen leicht gelblichen Ton, sonst nix.«

»Und Marietta war tatsächlich schwanger? Ist ja der Hammer.«

»Ja, aber niemand weiß, was aus dem Kind wurde. Es kann genauso gut sein, dass sie es abgetrieben hat.«

»Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube es einfach nicht. Ist so ein Gefühl. Oh, warte kurz, da klopft jemand.«

Der Bildschirm wurde auf einmal schwarz und Danielle war verschwunden. Mason sah seine Reflektion im Monitor. Er fuhr sich durch die Haare und versuchte, einige Strähnen zu glätten. Er sollte mal wieder zum Friseur.

Nicht mal eine Minute später wählte ihn Danielle von Neuem an. Er nahm ab.

»Alles klar bei dir?«

»Ja, das war Mum. Sie hat mir frisch gepressten O-Saft gebracht. Ich glaube, sie wollte eher sehen, ob ich durchs Fenster geflohen bin.«

»Wie geht es denn zu Hause? Hat sie noch etwas gesagt?«

»Kein Wort. Als wäre das alles nicht passiert.«

Das wäre Mason auch am liebsten, aber er konnte das Geschehene nicht rückgängig machen.

»Wann wollten Randy und Olivia kommen?«, fragte Danielle.

Mason sah auf die Wanduhr, die sie aufgehängt hatten. »Kann nicht mehr allzu lange dauern. Ich bin echt gespannt, was in dem Film zu sehen ist. Zum Glück besaß Billy einen Super-8-Projektor.« Er deutete hinter sich. Um die Zeit zu überbrücken, bis Olivia und Randy kamen, hatte Mason schon mal alles aufgebaut und eine Wand freigeräumt, die sie als Leinwand nutzen konnten. »Wenn ich wüsste, wie ich den Film einlegen muss, hätte ich schon längst reingeschaut.«

»Ich bin auch ziemlich gespannt, nachdem wir so viel daran gesetzt haben, das Ding zu bekommen.«

Mason rieb sich durch den Nacken und beugte sich näher an den Monitor. »Ja, darüber wollte ich auch mit dir sprechen … wegen unseres Kusses …«

Danielle zog eine Augenbraue nach oben und wartete. Wie sollte Mason das formulieren. Er mochte Danielle, aber nicht so. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihr was anzufangen. Vielleicht, weil sie nun im King-Fall zusammenarbeiteten oder weil ihm die Freundschaft zu ihr zu wichtig geworden war, um sie durch eine Beziehung zu gefährden. »Ja, also …«, stammelte er weiter. Ob sie sauer sein würde? Oder war es ihr sogar recht, wenn sie das Thema fallen lassen würden?

Jetzt schmunzelte sie und beugte sich ebenso nah an die Webcam. »Was in Vegas geschieht, bleibt in Vegas. Wie klingt das?«

»Du meinst, wir werden nie wieder ein Wort darüber verlieren?«

»Sieh es als taktischen Schachzug und hake die Sache einfach ab, Collister.« Sie nahm ein Glas mit Orangensaft vom Schreibtisch und prostete ihm zu.

Er nickte, griff nach seiner Pepsi und tat es ihr gleich. »Einverstanden.«

»Mason? Wir sind wieder da«, rief Randy von oben.

»Olivia und Randy kommen gerade«, sagte Mason zu Danielle, die sicher Randys Rufen nicht gehört hatte.

»Sehr gut, dann kann es endlich losgehen.«

Keine Minute später kamen die beiden die Treppe hinunter.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte Mason.

»Ja«, sagte Randy und warf seine Tasche auf den Tisch. »Olivia hat ein wenig länger mit der Verabschiedung gebraucht.« Er formte einen Kussmund.

»Nimm dich bloß in Acht, Steinbeck«, sagte Olivia und gab ihm einen Schubs.

»Will ich wissen, worum es geht?«, fragte Mason.

»Weiberkram«, sagte Randy.

»Der nicht zufällig Chris Archer heißt?«, ertönte Danielles Stimme aus dem Rechner.

Olivia beugte sich über den Monitor. »Oh, hi. Das ist auch ’ne Art, an unseren konspirativen Sitzungen teilzunehmen.«

»Genau. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten«, sagte Danielle. »Und was ist jetzt mit diesem Archer-Typ?«

»Gar nichts«, sagte Olivia. »Wir haben uns nur nett unterhalten.«

»Pah«, machte Randy. »Du hättest die zwei sehen sollen, denen sind die Herzchen förmlich aus den Augen gehüpft.«

»Willst du eigentlich noch mal eins auf die Nase?«, fragte Olivia und formte die Hand zur Faust. »Mal sehen, ob du das auch mit Bachblüten behandeln kannst.«

Danielle kicherte und Mason rollte die Augen. »Da das jetzt geklärt ist, können wir endlich loslegen? Ich habe Hunger und zu Hause wartet frische Pizza.«

»Du hast immer Hunger«, sagte Randy.

»Stimmt, aber jetzt habe ich besonders großen Hunger, also?«

»Ach, bevor ich es vergesse«, warf Danielle ein: »Es kann sein, dass ich euch zwischendrin wegklicken muss. Mum kommt alle halbe Stunde in mein Zimmer.«

»Okay«, sagte Randy und schob den Film in den Projektor. »Dann lass uns mal sehen, was auf dem Band ist.«

*

Am anderen Ende der Stadt

Er lächelte.

Die Gedenkfeier war der perfekte Moment gewesen, um unbemerkt an das Material zu kommen. Da hatte der alte Knacker das Ding doch tatsächlich bei seiner Filmsammlung versteckt gehabt. Er muss sich sehr sicher gefühlt haben, solch ein offenes Versteck zu wählen. Auf der anderen Seite war es auch überaus klug. Snyder hatte dieses Kino geliebt und wohl jeden einen Kopf kürzer gemacht, der es unbefugt betreten hätte.

»Jetzt nicht mehr, alter Knabe.«

Während die Gäste bei der Führung waren, war er unbemerkt ins Kino geschlichen. Dort nahm er zwei Filmdosen – die richtige und eine willkürliche – und verließ den Raum, bevor er doch noch entdeckt werden konnte. Auf der Toilette im Erdgeschoss tauschte er die Filme aus, so dass in der richtigen Dose der Falsche lag. Eigentlich wollte er sie wieder zurück ins Kino bringen, doch die fette Mrs. Bertram war bereits mit den Gästen auf dem Weg dorthin. So hatte er ihn einfach in die Vitrine gelegt und war abgehauen.

Er hätte das schon viel früher erledigen sollen, statt jahrelang damit zu leben, von Snyder erpresst zu werden. »Das hat nun ein Ende.« Genauso wie Snyder selbst.

Es hatte ihn zwar eine große Stange Geld gekostet, den Pfleger zu bestechen, damit er einen Selbstmord durch Strangulation meldet, aber das Geld war es wert gewesen. Wenn ein alter, kranker, depressiver Mann beschloss, sich selbst das Leben zu nehmen, würde kein Hahn mehr nach der wahren Todesursache krähen.

Die Leinwand vor ihm flackerte auf, es ratterte, als das Band anlief und kurz darauf sah er die Bilder. Es war wie in der Mordnacht, doch diesmal hatte er eine andere Perspektive. Statt alles aus seiner eigenen Sicht zu erleben, schwebte er jetzt förmlich über dem Geschehen. Wie ein Geist. Er lehnte sich zurück und sah sich dabei zu, wie er Marietta King ein zweites Mal tötete …

Als alles vorüber war, schaltete er den Film ab. Wenn Snyder dieses Band der Polizei zugespielt hätte, wäre er erledigt gewesen. Snyder hätte den Mord von Marietta King mit nur einem Anruf aufklären können. Stattdessen hatte er sich entschieden, das Geld zu nehmen und sich ein schönes Leben zu machen. Vielleicht war der Krebs die Buße für sein Schweigen gewesen, wer wusste das schon.

Er nahm den Film aus dem Projektor und warf ihn in das Feuer im Kamin, das er zuvor angezündet hatte. Das Band schmolz vor seinen Augen zu einem Klumpen zusammen. Jetzt waren alle Beweise vernichtet. Alle Spuren beseitigt. Er lachte leise und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Alles lief genau nach Plan.

*

Tarnowski-Haus

»Eine Familienfeier?«, fragte Olivia und starrte wie die anderen fassungslos auf die Leinwand. Auf dem Band, das Mason und Danielle mitgenommen hatten, war tatsächlich eine Grillparty aufgenommen worden. Zu sehen waren ein junger Henry Snyder, der mit seiner Tochter in einem Planschbecken im Garten spielte, und eine ebenso junge Agnes Snyder, die am Tisch saß, Platzdeckchen häkelte und den beiden voller Wonne zusah. Die perfekte Familie an einem perfekten Tag, in einem perfekten Garten. »Ich glaube es nicht«, sagte sie noch einmal.

»Wir haben das alles für nichts und wieder nichts gemacht«, sagte Mason und schüttelte den Kopf. In den letzten Minuten war es totenstill unter ihnen geworden. Niemand konnte glauben, was sie da sahen. Der Film, in den sie so große Hoffnungen gesteckt hatten, der angeblich den Mörder von Marietta King zeigen sollte, war eine Sackgasse.

»Ihr habt den falschen Film mitgenommen«, sagte Randy.

»Ach? Echt?«, antwortete Mason patzig.

»Das meine ich nicht böse. Ihr könnt ja nichts dafür.« Er drehte die Filmdose herum und überprüfte das Datum. »Die Zeit stimmt. Entweder hat Henry Snyder die Dosen falsch beschriftet …«

»… oder jemand hat sie ausgetauscht«, vervollständigte Danielle den Satz. Randy hatte die Webcam extra so gedreht, dass sie auch zuschauen konnte.

»Snyder war so penibel mit allem, seine Frau sagte noch, die Filme wären sein Heiligtum gewesen, warum also sollte er die Dose falsch beschriftet haben? Das ergibt keinen Sinn.«

»Vielleicht wollte er eine falsche Spur legen«, sagte Olivia. »Deshalb hat er den echten Film in einer anderen Dose versteckt.«

»Na, Halleluja«, sagte Mason. »Dann finden wir den nie und nimmer. Der könnte quasi überall sein.«

»Das stimmt allerdings«, sagte Danielle und stützte das Kinn in die Handflächen.

»Okay«, sagte Randy und stoppte das Band mit der Feier. »Daran können wir leider nichts ändern und es bringt nichts, all unsere Energie auf diesen Film zu verschwenden, wenn wir gar nicht wissen, ob er noch existiert oder nicht.«

»Randy hat recht«, sagte Olivia. »Lasst uns wegen Mariettas Kind weiterforschen. Vielleicht finden wir dazu etwas. Der oder die Kleine müsste mittlerweile um die Dreißig sein. Es muss doch Unterlagen von damals geben, oder? Wir sollten noch mal mit Dorian sprechen und an dieser Sache dran bleiben.«

»Einverstanden«, sagte Mason. »Würde mich echt interessieren, ob mein Dad von dem Kind wusste.« Er schluckte. »Könnte er … Na ja …«

»Der Vater gewesen sein?«, fragte Randy. »Nie und nimmer. Also … das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ich glaube mittlerweile alles und nichts«, sagte Danielle. »Ob meine Mum von all dem wusste? Immerhin war sie die beste Freundin von Marietta.«

»Ich werde mal sehen, ob ich an alte Krankenhausunterlagen komme«, sagte Randy. »Falls sie nicht abgetrieben hat, muss sie das Kind irgendwo bekommen haben, vielleicht haben wir Glück und ihr Name taucht auf. Dann klärt sich das alles.«

»Einen Versuch ist es wert«, sagte Olivia und blickte zur Uhr. Sie würde zu gerne noch mal mit Chris telefonieren und sich wegen morgen absprechen. Nein, das stimmte nicht. Sie würde generell gerne mit ihm sprechen, nicht nur wegen morgen, aber das wäre ein hervorragender Vorwand für einen Anruf. Seine Telefonnummer hatte sie ja noch von dem Flyer.

»Olivia?«, sagte Mason auf einmal.

»Mhm?«

»Ich habe gefragt, wann du dich mit Chris im Hospiz triffst?«

 

»Oh, morgen früh um zehn. Warum?«

»Na ja, wenn du Hilfe brauchst, könnte ich euch begleiten.«

Olivia hob die Augenbrauen. »Danke. Ich denke, wir schaffen das auch so.«

Randy formte wieder die Lippen zum Kuss und schmatzte laut.

Olivia nahm den erstbesten Gegenstand – einen Bleistiftspitzer – vom Tisch und warf ihn nach ihm. »Ich habe dich gewarnt, Neek!«, rief sie und schleuderte gleich eine Schachtel Büroklammern hinterher. Er lachte, riss die Arme hoch und schrie laut um Hilfe.

Ihm würde das Lachen noch vergehen.

*