Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Hotel Allstar, Penthousesuite

Lucian McAllister versuchte bereits zum dritten Mal, Chris zu erreichen. Wenn der Typ nicht bald ans Handy gehen würde, würde Lucian ihn hochkant rauswerfen. Dummerweise war Chris absolut top, wenn es darum ging, neue Talente zu finden. Einen derart guten Scout hatte Lucian noch nie gehabt. Seit Chris für ihn arbeitete, hatten sich seine Einnahmen verdreifacht. Chris hatte einfach ein gutes Gespür für Trends und den richtigen Riecher, wann er wo zugreifen musste. So sehr es ihm zuwider war, das zuzugeben: Lucian mochte nicht mehr auf Chris verzichten. Daher sah er ihm nach, dass er sich seit Stunden nicht gemeldet hatte. Lucian legte sein Handy weg, griff zu dem Whiskeyglas und reichte es Rebecca. Sie saß zusammengesunken auf seiner Couch und schluchzte vor sich hin.

»Hier, das beruhigt die Nerven.«

»Danke«, sagte sie, griff nach dem Glas und kippte den Whiskey auf Ex hinunter. Sie musste nicht einmal husten. Diese Frau ist trinkfester als ein russischer Mafiaboss. »Was soll ich nur tun, Lucian? Wenn ich der Forderung dieses Grafen nachgebe, kann ich die Galerie genauso gut schließen.«

Lucian schenkte erst Rebecca nach, dann genehmigte er sich ebenfalls einen Schluck Whiskey. Im Gegensatz zu ihr kostete er das rauchige Aroma in vollen Zügen aus. Er war ein Genussmensch, durch und durch. »Erklär mir noch einmal genau, was dieser Graf zu dir gesagt hat. Wie lautete seine Forderung?«

Sie nahm einen weiteren Schluck, aber diesmal ließ sie einen Rest im Glas. »Er nutzt meine Galerie für seine Kunstgeschäfte. Im Grunde wäscht er sein Geld über meinen Laden. Er hat sogar ein Konto eingerichtet. Herrgott, Lucian, dieser Mensch hat meine Buchhalterin Mrs. Stewart irgendwie dazu gebracht, für ihn zu arbeiten. Die beiden schmuggeln seit Jahren Geld an mir vorbei und ich habe es nicht mitbekommen! Wie kann so etwas sein?«

Lucian schwenkte den Whiskey im Glas. Solche Dinge passierten. Geld floss in alle Richtungen, zur Bestechung, um Schweigen zu erkaufen oder Gefälligkeiten. Je mehr Geld auf einen Haufen kam, umso größer wurde die Kriminalität, und Rebeccas Galerie war in den letzten Jahren sehr erfolgreich geworden. »Und durch die Steuerprüfung, die du dir aufgehalst hast, wäre das fast aufgeflogen.«

»Ja«, sagte Rebecca. »Jetzt ist mir auch klar, warum die Stewart an dem Tag wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Büro geflitzt ist. Sie muss noch die Unterlagen von der Geldwäsche versteckt haben. Der Graf fordert nun, dass ich die Geschäftsführung der Galerie an einen seiner Leute abgebe. Die Galerie ist mein Lebenstraum, Lucian! Ich überlebe nicht, wenn er sie mir wegnimmt, nur damit er weiterhin seine Schmutzgeschäfte dort ausführen kann.«

Lucian nickte und trank den letzten Schluck Whiskey. »Lass mich kurz nachdenken, ja?« Er griff zur Flasche und schenkte Rebecca nach. Dann strich er ihr über die blonden Haare und lief in der Suite auf und ab. Er konnte besser überlegen, wenn er in Bewegung war. Er schob die Terrassentür auf und blickte über die Dächer von Barrington Cove. Was für ein malerischer Ort. Hier könnte er es tatsächlich länger als vier Wochen aushalten. »Und wenn du ihm einen Ersatz für die Galerie verschaffst?«, sagte Lucian und blickte über seine Schulter zu Rebecca. Ihr Glas war schon wieder leer.

»Wie meinst du das?«

»Er nutzt deine Galerie für seine Geschäfte, weil du viel Durchgangsverkehr hast. Was, wenn du ihm vorschlägst, seine Geschäfte an einen anderen Ort zu verlagern? Natürlich müsstest du ihm etwas Adäquates auf dem Silbertablett liefern. Etwas, worum er sich nicht großartig kümmern muss und das noch besser geeignet wäre als dein Laden.«

»Und was?«, fragte sie.

Lucian drehte sich wieder zurück und ließ seinen Blick schweifen. Tja, das war eine gute Frage. Eine sanfte Brise wehte ihm vom Meer um die Nase. Der Regen gestern Nacht hatte die Luft abgekühlt. Es war ein angenehmer, sonniger Tag heute.

Sein Handy vibrierte.

Lucian zog es heraus, sah aufs Display und hob ab. »Chris. Endlich. Wo bist du denn, herrje?«

»Unterwegs. Ich habe vielleicht einen Hinweis darauf, wer in die Galerie von Rebecca eingebrochen ist.«

Lucian stockte. Wie war das möglich? Dieser Graf war doch für den Einbruch verantwortlich gewesen, das hatte er selbst zugegeben. »Ich höre.«

Und Chris erzählte. Von einem Hospiz hoch oben in den Bergen, von einer wütenden Freundin, die nichts mehr mit Rebecca zu tun haben wollte, von Farbe unter ihren Fingernägeln, von Hass und Wut und Unversöhnlichkeit. Und während Lucian Chris lauschte, reifte eine Idee heran. Jetzt wusste er, wie er Rebecca helfen konnte.

*

Epilog I – Ende gut, alles gut?

Einen Tag später

Olivia nippte an ihrem Dr. Pepper und las die Schlagzeile der heutigen Sonntagsausgabe in der Gazette: »Inhaberin des Hospiz Heartfull wegen Einbruchs in Galerie verhaftet«. Offenbar hatte Lucian gleich nach Chris‘ Anruf seine Beziehungen spielen lassen und den Sheriff beim Hospiz mit einem Durchsuchungsbefehl vorbeigeschickt. Die Durchsuchung hatte über zwei Stunden gedauert. Erst sah es nicht so aus, als würden sie etwas finden, doch dann entdeckten die Beamten im Keller etliche Dosen der Farbe Sweet Color in dem gleichen Rot, das auch in der Galerie an die Wände geschmiert worden war. Die Beamten nahmen Mrs. Granger mit zur Wache. Dort konnte sogar ein Videobeweis vorgelegt werden, den eine Mitarbeiterin aus dem Verkehrsüberwachungsbüro abgegeben hatte. Der Einbrecher hatte zwar die Überwachungskameras in der Galerie ausgeschaltet, aber nicht die Verkehrskamera gegenüber auf der Straße. Auf der war deutlich zu sehen, wie der Wagen von Mrs. Granger, ein weißer VW-Golf, vor der Galerie hielt, jemand ausstieg (der zwar nicht gut zu erkennen war, aber der durchaus auf Mrs. Granger passen könnte) und in die Galerie einbrach. Mrs. Granger stritt alles ab, aber die Beamten fanden auch dieses Fahrzeug in einer Garage im Hospiz. Das Firmenlogo des Hospizes war zum Teil abgeklebt worden, offensichtlich hatte Mrs. Granger nicht riskieren wollen, dass der Wagen während des Einbruchs erkannt wurde.

Da Rebecca auf eine Anzeige verzichtete, kam Mrs. Granger mit einem blauen Auge davon. Sie musste eine Strafe zahlen (die Summe war der Zeitung leider nicht bekannt) und musste von ihrem Posten als Geschäftsführerin des Hospizes zurücktreten. Dieses wurde nun von einem Mr. Warren übernommen. Olivia betrachtete das Bild von ihm. Er war ein unscheinbarer Mann. Absoluter Durchschnittstyp mit kurzen Haaren, mittlerer Statur und einem Durchschnittsgrinsen. Mrs. Reach ließ, als Zeichen ihres Bedauerns über diesen Vorfall, das geplante Preisgeld von zehntausend Dollar dem Hospiz zukommen. Sie würde fortan als Förderin des Hospizes auftreten und die Einrichtung unterstützen, wo sie nur konnte. Der Wettbewerb wurde abgesagt.

Olivia schlug die Zeitung zu. Die ganze Sache lag ihr im Magen, nicht nur, weil sie jetzt ein richtig großes Geldproblem hatte, sondern auch wegen Mrs. Granger. Olivia konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass die Frau mit dem runden Gesicht so etwas getan haben sollte, obwohl die Beweise gegen sie sprachen. Vielleicht glaube ich auch einfach zu sehr an das Gute im Menschen.

Ein weißes Ferrari-Cabrio fuhr vor und hielt direkt vor dem Eiskaffee. Die Gäste blickten auf, um den Wagen und den darin sitzenden Jungen zu bewundern. Olivia lächelte. Chris sah zu ihr herüber, grinste und stieg aus dem Wagen aus. Er sah mal wieder unfassbar gut aus. Heute trug er ein luftiges T-Shirt, das bei jeder Bewegung seinen Oberkörper umschmeichelte und Olivia vage vermuten ließ, was für Muskeln sich unter dem Stoff befanden. Seine Jeans war in einem dunklen Blau, saß aber genauso perfekt wie die gestrige.

»Hallo, schöne Frau«, sagte Chris, schob die Sonnenbrille – diesmal eine Gucci – ins Haar und beugte sich nach vorne, um sie auf die Stirn zu küssen. »Geht es dir gut?«

»Ja«, sagte Olivia, obwohl es nicht stimmte. Ihr ging es beschissen. Am Montag musste sie Mr. Cohen irgendwie die fällige Miete zahlen und sie hatte keine Ahnung, wie sie das machen sollte. Außerdem musste sie in der Redaktion anrufen und ihnen begreiflich machen, was mit ihrer Kamera passiert war. Vielleicht konnte Olivia die wenigstens abstottern. Und wegen der Miete hatte sie sich tatsächlich schon überlegt, ob sie Danielle anhauen sollte. Doch allein der Gedanke war ihr zuwider. Olivia wollte sie nicht ausnutzen, nur weil sie reich war. »Und dir? Wie geht es dir?«

»Okay«, sagte Chris und setzte sich neben sie. Olivia entging nicht, dass alle weiblichen Gäste im Café zu ihr blickten. Sollen sie ruhig, der Typ gehört mir.

»Wir werden morgen wieder abreisen. Lucian muss zurück nach New York, die nächsten Aufträge warten.«

»Oh, morgen schon.«

»Ja, da die Ausstellung leider geplatzt ist, müssen wir nicht länger unsere Zeit vertrödeln … seine Worte, nicht meine. Ich würde liebend gerne hier noch etwas rumtrödeln.«

Eine Bedienung kam, um Chris’ Bestellung aufzunehmen. »Einen Kaffee, bitte. Schwarz.«

Olivia nippte an ihrem Dr. Pepper und sah auf den Ferrari. Das Ding ging sicherlich ab wie der Teufel, wenn man es richtig fuhr.

»Magst du nachher ans Steuer?«, fragte Chris, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Machst du Witze? Ich würde dafür sterben.«

»Das musst du nicht, ein Kuss würde mir zum Beispiel vollkommen genügen.«

Olivia blickte zu ihm hinüber und lächelte. »Das lässt sich einrichten.« Vielleicht durfte er auch etwas mehr als nur küssen, sie würde es sich noch überlegen. »Wo hast du eigentlich die Autos immer her? Erst einen Porsche, dann einen Ferrari.«

 

»Ich bestelle sie für Lucian vor. Wir mieten sie in jeder Stadt neu.«

»Autovermietung de luxe.«

»Sozusagen. Er mag es eben pompös. Ich bräuchte die Karren nicht unbedingt. Ach, ganz wichtig, bevor ich es vergesse!« Chris sprang vom Stuhl auf und rannte zurück zum Wagen. Er nahm einen braunen Umschlag vom Beifahrersitz, ähnlich dem, den Randy ihr in der Galerie gereicht hatte. Bestimmt will er mir meine Bilder zurückgeben. Er wollte sie ja Lucian zeigen, vielleicht fand er sie so schlimm, dass er sie erst gar nicht angeschaut hatte. Chris kam wieder und legte den Umschlag vor ihr auf den Tisch. »Hier.«

»Sind das meine Fotos?«

»Nicht direkt. Mach auf.«

Olivia wischte sich die Hände an ihrem Rock trocken und öffnete den Umschlag. Darin war ein Scheck. Sie zog ihn heraus und hätte ihn vor Schreck fast wieder fallen lassen. »Um Gottes Willen!«, schrie sie. Die Gäste blickten zu ihr. Sie schlug die Hand vor den Mund.

»Das ist deine Bezahlung. Lucian war total begeistert von den Bildern. Er möchte sie gerne kaufen.«

»Für fünftausend Dollar?«

»Das ist nicht viel, ich weiß, aber …«

Bevor er weitersprechen konnte, beugte Olivia sich nach vorne und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Es war ein kurzer, unschuldiger Kuss, aber später könnten sie das ja weiter vertiefen. Die Kellnerin brachte den Kaffee.

Chris lächelte Olivia an, zog eine Zwanzig-Dollar-Note aus seiner Hosentasche und reichte sie der Bedienung. »Danke, aber ich denke, wir sind nicht mehr durstig.«

Olivia stand auf, den Scheck fest an sich gepresst, die andere Hand verwob sie mit Chris‘. Er lief mit ihr um den Wagen, öffnete die Fahrerseite und ließ sie einsteigen. Olivia wartete, bis er das Auto umrundet hatte, verwahrte den Scheck sicher in ihrer Handtasche, startete den Motor und ließ ihn aufheulen. Was für ein Geräusch.

»Halt dich fest, Archer, das wird ein heißer Ritt.«

Er lachte auf. »Bereit, wenn du es bist.«

Olivia trat das Gaspedal durch und düste los. Der Wind wehte in ihren Haaren und in ihrem Gesicht. Noch nie hatte sie sich so frei und losgelöst gefühlt. Vielleicht war das doch alles zu irgendetwas gut gewesen.

*

Epilog II – Neue Kontakte

Lucian saß, mit dem Handy am Ohr, auf dem Balkon seines Penthouses in New York und blickte auf den Big Apple. Er hatte die Füße hochgelegt und genehmigte sich den besten Scotch, den er besaß.

»Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit«, sagte der Graf am anderen Ende der Leitung. »Den vermeintlichen Beweis aus der Überwachungskamera an der Straße vorzulegen, war sehr klug. Nur interessehalber, wie haben Sie das geschafft?«

»Das war gar nicht so schwer und wäre noch überzeugender gewesen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. Durch einige Kontakte konnte ich jemanden in der Verkehrszentrale bestechen, der das Band einschmuggelte. Wir haben es vorher natürlich entsprechend präpariert und den Einbruch einfach noch einmal nachgestellt. Es war zwar etwas schwer, einen ähnlichen Wagen wie den von Mrs. Granger zu finden, aber letztendlich ist mit genügend Geld alles möglich. Noch etwas Pimpen mit Photoshop und AfterEffects, und das Band sah täuschend echt aus. Ich bewege mich in einer Branche, die davon lebt, Dinge so darzustellen wie sie nicht sind. Eigentlich war es ein Heimspiel für mich.«

»Mit dem ich überaus zufrieden bin. Ich kann Männer mit solch einem Einfallsreichtum immer brauchen. Wenn Sie also Interesse daran hätten, den ein oder anderen Job für mich zu erledigen, wäre das auch für Sie von großem Nutzen.«

Lucian grinste und blickte in den Nachthimmel. Heute war Vollmond. Seine Lieblingszeit. »Ich werde darüber nachdenken. Und wegen Rebecca Reach sind wir uns auch einig.«

»Solange sie schön brav die vereinbarte Summe monatlich abdrückt, kann sie ihre kleine Galerie weiterleiten.«

»Sehr gut. Es hat mich gefreut, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Graf.«

»Mich ebenso, Lucian. Mich ebenso. Wir hören wieder voneinander.«

Lucian legte auf und sah auf das dunkle Display. »Davon bin ich überzeugt, verehrter Graf.«

*

Epilog III – 1984

Harrisons Dad betrat als erster das Polizeirevier, dicht gefolgt von seinem Sohn, dann Billy, und die letzten waren Jamie und Shannon. Jamie zitterte am ganzen Körper, und das lag nicht am Regen, der sie auf dem Weg hierher durchnässt hatte. Neben ihm schluchzte Shannon. Seit Minuten schon brachte sie nichts anderes mehr fertig als zu wimmern, und er konnte es ihr nicht verübeln. Er hielt ihre Hand so fest, dass seine Finger taub waren. Sein Hemd klebte nass an seinem Rücken, seine Haare hingen in Strähnen in sein Gesicht, und seine rechte Schulter schmerzte höllisch von dem Sturz im Putzraum. Marietta war tot. Tot! Das war absolut unmöglich. Wie konnte sie tot sein? Bis vor ein paar Stunden noch hatte er mit ihr geplaudert, gescherzt, gelacht. Sie hatten sich überlegt, wie gut sie morgen im Test mit den Prüfungsfragen abschneiden würden, und jetzt war sie einfach nicht mehr da. Marietta war tot.

Harrisons Dad stand am Empfangstresen und redete mit einem jungen Officer. Jamie konnte nicht hören, was sie sagten, aber kurz darauf stand der Typ auf und deutete einen Flur hinunter.

Jamie blickte zu den anderen. Harrison wirkte genauso verloren wie Jamie sich fühlte, Billy blutete immer noch, Shannon schluchzte unaufhörlich vor sich hin, und er selbst fühlte sich einfach nur leer und ausgelaugt.

»Sie ist tot«, sagte er zum wiederholten Mal. Vielleicht konnte er es eher begreifen, wenn er es nur oft genug sagte? Marietta ist tot. In dieser Sekunde wurde Jamie klar, was er noch für Marietta empfunden hatte. Er liebte sie noch immer, hatte er immer, würde er immer, und es gab keine Möglichkeit mehr, ihr das zu sagen.

»Folgt mir, bitte«, sagte ein junger Deputy. Sie gehorchten mechanisch. Jamie war froh, dass jemand die Führung übernommen hatte, dass er nur noch reagieren musste. Geh links, er ging links, geh rechts, er ging rechts.

Der Deputy zeigte auf einen Warteraum mit Glaswänden. Ein Wasserspender stand in der Ecke. Jamie hätte ihn am liebsten angesetzt und den ganzen Kübel auf einmal leer getrunken. »Willst du ein Glas Wasser?«, fragte er Shannon.

Sie nickte.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie.

»Wir werden alle verhaftet und wegen Mordes angeklagt«, sagte Billy, der als letzter den Raum betrat. Er fuhr sich durch die Haare, lief einmal quer durch das Zimmer und sah aus, als wollte er gleich losschreien. »Du hast es doch gehört. Sie wollen einen Schuldigen, und da kommen wir gerade recht.«

»Mein Dad wird das hinbekommen«, sagte Harrison. »Er hat genügend Erfahrung mit solchen Dingen. Wir müssen ihm einfach vertrauen und das tun, was er sagt. Also erst einmal die Aussage verweigern. Hört ihr? Das ist wichtig.«

»Vor allem müssen wir uns absprechen, damit wir bei einer Geschichte bleiben«, sagte Billy.

»Was willst du denn absprechen?«, fragte Shannon. »Herrgott, Jamie und ich waren nicht einmal in der Nähe, als Marietta umgebracht wurde!«

»Nein, vermutlich habt ihr irgendwo rumgeknutscht.«

Shannon biss sich auf die Lippen, schlug die Hände vors Gesicht und fing wieder an zu heulen. Jamie legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. »Toll, Billy. Echt toll.«

»Ich sag nur, wie es ist.« Billy hielt vor einer Wand an und schlug so fest darauf ein, dass der Putz abbröckelte. »Verdammte Scheiße!«, schrie er.

Jamie hätte am liebsten mitgeschrien. Er konnte Billy verstehen. Alles was sie gewollt hatten, war eine Chance bei dem Wettbewerb morgen zu haben, und nun war eine von ihnen tot.

Er drückte Shannon fester an sich und betete, dass seine Eltern bald eintreffen würden. Vielleicht wussten sie, was zu tun war, denn er konnte keine Entscheidungen mehr treffen.

Ende des 2. Teils

III

Eine verhängnisvolle Erfindung

von Ute Bareiss

Barrington Cove, 1984

Rektorat der Barrington High

Das Sekretariat wurde nur vom Licht der Straßenlaternen und der mageren Funzel erhellt, die Marietta in der Hand hielt. Gespenstische Schatten tanzten an den Wänden. Billy wischte die vor Aufregung schweißfeuchten Hände an seiner Jeans trocken und versuchte erneut vergeblich, den Schlüssel, den Shannon hatte nachmachen lassen, im Schloss der Tür zum Rektorat zu drehen.

Verdammt! Irgendwie schien ihr ganzer Plan, die Prüfungsfragen für morgen kurz und unkompliziert abzugreifen, in die Hose zu gehen.

»Hast du eine Nagelfeile in deiner Tasche?«

Marietta reagierte nicht auf seine Frage, blickte nur gedankenverloren zur Tür, durch die Jamie und Shannon Arm in Arm verschwunden waren.

Er stupste sie an. »Hallo! Nagelfeile?« Sie feilte doch öfter im Unterricht unter dem Pult die Nägel, bestimmt hatte sie auch jetzt eine dabei.

Marietta zuckte zusammen, legte die Taschenlampe auf das Sideboard und machte sich daran, in ihrer bunten Stofftasche zu wühlen. »Glaubst du, das funktioniert?«

Billy zuckte die Schultern. »Einen Versuch ist es allemal wert. Ich denke, es wird nicht viel fehlen, dass er passt, die Kopie des Schlüssels kann ja nicht so falsch sein.«

Außerdem musste er sich irgendwie beschäftigen, während Jamie und Shannon nach dem Ersatzschlüssel suchten. Die nächtliche Stille im Schulgebäude, das Wissen um das Verbotene, das sie taten, die Schatten an den Wänden – das alles verursachte ein Grummeln in seiner Magengegend.

Auch Marietta wirkte nervös, ihre Hand zitterte, als sie ihm die Nagelfeile reichte.

Der Schlüssel wurde warm in seiner Hand. Billy wischte mit dem Daumen ein paar Metallspäne weg und hobelte mit der feinen Seite der Feile die Unebenheiten glatt.

Warum hatte Marietta den beiden so wehmütig nachgesehen?

»Macht es dir was aus, dass deine beste Freundin jetzt mit Jamie zusammen ist?« Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen – was war das denn für eine bescheuerte Frage?

Marietta kicherte fast schrill. »Wie kommst du denn darauf?«

Billy hoffte, dass die Hitze, die in seine Wangen schoss, im Halbdunkel nicht zu sehen war. Er beugte den Kopf und ließ die schulterlangen dunklen Locken über sein Gesicht fallen, während er eingehend die Schlüsselkanten prüfte. »Nur so. Du hast so geguckt.«

Marietta pustete ihren Pony aus dem Gesicht. »Quatsch. Im Gegenteil. Ich hoffe, die beiden werden glücklich.«

Billy hätte beinahe den Schlüssel fallenlassen, den er gerade wieder zur Probe ins Schloss stecken wollte. Damit hätte er nun definitiv nicht gerechnet.

Als würde sie eher mit sich selbst sprechen, fuhr sie, mit dem Blick gegen die Decke gerichtet, fort. »Jeder hat doch sein Glück verdient …« Sie brach ab und das darauffolgende Lachen klang verbittert.

»Was …« Mitten im Satz erstarrte Billy. War da ein Geräusch auf dem Flur gewesen? Geistesgegenwärtig legte er seine freie Linke auf Mariettas Mund und deutete mit dem Kopf gegen die Tür. Ihm wurde eiskalt.

»Das sind doch bestimmt Shannon und Jamie«, hauchte sie fast lautlos.

Billy schüttelte den Kopf. Die wären doch lauter, Jamie kannte keine Vorsicht. Fieberhaft schaute er sich um, sein Blick flog über den großen, penibel aufgeräumten Schreibtisch, die Sideboards, einige Aktenschränke an den Wänden, eine große Zimmerpalme. Es gab kein vernünftiges Versteck.

Wieder dieses seltsame Scharren.

»Unter den Schreibtisch«, wisperte er.

Hoffentlich würden diese verfluchten Rollen nicht quietschen, wenn er den Stuhl zurückzog. In einem Bruchteil von Sekunden, der ihm wie Stunden erschien, zog er den Stuhl unter dem Schreibtisch hervor. Millimeter um Millimeter. Das leichte Kratzen auf dem Linoleum erfüllte den kompletten Raum. Billy biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten. Endlich konnte er den Stuhl anheben und beiseitestellen.

Falls ihnen jemand auf die Schliche kommen wollte, verhielt­­ sich derjenige jedenfalls äußerst leise. Wieder nur ein Klacken, es schien von draußen zu kommen. Gerade so, als wollte ihnen jemand auflauern. Warum gab sich derjenige nicht zu erkennen, wenn er sie erwischen wollte? Das war das Unheimlichste, was Billy je in seinem Leben widerfahren war. Es schlug die Story um Längen, als ihn auf dem Friedhof um Mitternacht plötzlich eine Katze von hinten angesprungen hatte.

 

Billy quetschte sich zwischen Marietta und den Papierkorb unter den Schreibtisch. Sie war nicht groß, aber er musste seinen Kopf gewaltig einziehen. Plötzlich überkam ihn die Angst, sein lautes Herzklopfen könnte bis auf den Flur zu hören sein.

Was, wenn sie erwischt wurden? Würden sie alle von der Schule fliegen? Collegepläne adieu? Was war das eigentlich für eine schwachsinnige Idee gewesen, die Prüfungsfragen zu klauen?

Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Schon nach kurzer Zeit schmerzte jeder Körperteil.

Draußen blieb es ruhig.

Seine Anspannung ließ nach, dafür fing sein rechtes Bein an zu kribbeln, gleich würde es einschlafen. Marietta bewegte sich auch unruhig, ihre Brust drückte gegen sein Knie. Er musste raus hier.

Gerade als er sich daran machte, unter dem Schreibtisch hervorzukriechen, klopfte es gegen das Fenster. Billy zuckte zusammen, schlug mit dem Kopf gegen die Schreibtischplatte. Der Schlag hallte durch den Raum, während der Schmerz in seinen Schädel schoss. Marietta gab einen unterdrückten Laut von sich. Dann war es wieder still. Erst als er das Gefühl hatte zu platzen, merkte Billy, dass er die Luft angehalten hatte.

Verdammt, er ertrug das nicht mehr.

Ein Klacken gegen die Fensterscheibe jagte ihm einen Heidenschreck ein. Dann folgte ein lautes Gurren. Plötzlich wallte ein hysterisches Kichern in ihm auf. Er schlug die Hand vor den Mund. Tauben vor dem Fenster. Es waren wohl nur die Tauben, die den Lärm gemacht hatten!

Marietta schien es ebenfalls realisiert zu haben, denn auch sie prustete heraus, während sie unter dem Tisch hervorkroch. Sie konnten sich beide nicht mehr einkriegen vor Lachen, die Anspannung entlud sich in albernem Gekicher, das nicht enden wollte.

Nach einer Weile stöhnte Billy auf. »Boah, ich dachte echt, die erwischen uns.«

Marietta winkte ab. »Ach was, dann wären wir halt davongelaufen. Einfach weg. Weit, weit weg.« Ein sehnsüchtiger Ausdruck trat auf ihr Gesicht, das von den Schatten weichgezeichnet wurde. Sie bückte sich, um einen imaginären Faden von ihrer schwarzen Cordhose zu zupfen, die sie wahrscheinlich, wie alle Mädels zurzeit, selbst noch mal ein Stück enger genäht hatte; sie klebte an ihr wie eine zweite Haut.

Bevor Billy antworten konnte, fing sie an leise zu singen.

»Ooh, she's a little runaway,

Daddy's girl learned fast,

All those things he couldn't say,

Ooh, she's a little runaway …”

Das Lied von Bon Jovi, das Anfang des Jahres die Charts gestürmt hatte. Es würde Billy zukünftig immer an diesen Moment erinnern, verbunden mit dem Bild, wie Marietta mit angehobenen Armen durch den Raum tanzte und sang.

Sie stoppte und wischte sich eine Träne unter dem Auge weg. Kam das jetzt noch vom unkontrollierten Lachen? Er trat unbehaglich von einem Bein aufs andere.

Sie blickte prüfend den schwarzen Strich auf ihrer Fingerkuppe an. »Bin ich verschmiert?« Ihre Stimme klang belegt.

Vorsichtig drehte er ihr Gesicht zum Fenster und tupfte einen Punkt schwarzer Wimperntusche mit der Spitze seines kleinen Fingers unter ihrem Auge weg. Dann schüttelte er wortlos den Kopf. Sie wirkte so traurig.

Marietta blinzelte. Es wurde wieder ganz still im Raum.

Billy schluckte. Räusperte sich. Schluckte wieder. »Ich gehe trotzdem mal draußen schauen, ob alles okay ist.« Fast fluchtartig verließ er den Raum. Und nahm Mariettas Wimperntusche auf seinem Finger als letztes Lebenszeichen von ihr mit nach draußen.

*