Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Aua! Ach, shit!« Er hatte den Ball zu fest geschleudert. Das harte Leder traf ihn am Auge. Reflexartig schlug Mason aus. Der Basketball sauste durch die Luft und knallte gegen das Colaglas in Randys Hand, worauf sich die schwarze Flüssigkeit über dessen T-Shirt ergoss.

»’Ne Cola-Dusche, echt cool. Danke, Mann. Ich denke, ich geh jetzt besser.«

»Ja genau, hau doch auch ab.«

Randy schaute ihn noch einen Moment kopfschüttelnd an, dann raffte er seinen Eastpack zusammen und stapfte hinaus.

Als die Tür hinter ihm zuschlug, vergrub sich Mason in seiner Decke.

Ihr könnt mich alle mal.

*

Ein Samstag

Die Morgensonne fiel durch das Fenster herein und weckte Mason mit ihren warmen Strahlen. Er hielt die Augen geschlossen und genoss den Moment zwischen Schlaf und Aufwachen, kuschelte sich noch einmal in die Decke. Der Geruch von French Toast stieg in seine Nase. Es gehörte zum samstäglichen Ritual, gemeinsam mit seinen Eltern zu frühstücken. Einige Sekunden später hörte er das Rattern des Kaffee-Vollautomaten.

Vermutlich saß Dad am Frühstückstisch und schaute mit grimmigem Blick auf sein iPad, wo die Barrington Cove Gazette geöffnet war. Etwa eine halbe Stunde nach dem Frühstück fuhr er dann ins Büro, natürlich würde er auch am Samstag arbeiten.

Alles für die Firma.

Mason strampelte die Decke zur Seite. Normalerweise liebte er den Samstagmorgen. Heute war das anders. Der Streit mit Randy lag ihm im Magen und der Gedanke, dass er nichts gegen die Anschuldigungen tun konnte, ließ Wut in ihm hochkochen.

Da er praktischerweise in seinen Klamotten eingeschlafen war, verzichtete er darauf, Kapuzenshirt oder Jeans zu wechseln. Stattdessen streifte er nur frische Socken über und tapste ins Bad. Nach einer Katzenwäsche ging es ein Stockwerk tiefer.

»Morgen«, sagte er.

»Guten Morgen, Schatz«, kam es von seiner Mum.

Sie hatte bereits zwei French Toasts auf seinen Teller gepackt und der fertige Latte stand daneben. Weil Samstag war, sogar mit echtem Kaffee, nicht dem koffeinfreien Zeug, das sie ihm sonst immer andrehen wollte.

Er dankte ihr mit einem Lächeln. Obwohl er keinen Appetit hatte, begann er zu essen.

»Morgen«, brummte sein Dad, stieß einen Seufzer aus und legte das iPad beiseite. »Ich habe gestern noch mit dem Anwalt gesprochen. Wir werden die nächsten Tage abwarten müssen. Leider ist der Sheriff nicht gerade kooperativ.«

Mason verzichtete auf eine Bemerkung. Brian war der schlimmste Bully der Schule. Mobbing schien eines seiner liebsten Hobbys zu sein. Sein Vater – der Sheriff von Barrington Cove – war ähnlich gestrickt, aber ein ganz anderes Kaliber. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hasste Sheriff Bruker Masons Dad.

Da wird er sich die Trophäe Mason Collister nicht entgehen lassen.

»Wir kriegen das schon hin«, kam es von seiner Mum. »Herrgott, diese Idioten müssen doch kapieren, dass du niemals so dumm wärst …« Ein Seufzen. »Lassen wir das.«

Sie wirkte müde. Genau genommen wirkte seine Mum immer müde. Sie leitete ein Touristik-Büro, und da die Hauptsaison bevorstand, ging sie jeden Tag früh aus dem Haus und kam erst spät zurück. Während sie unter der Woche ein teures Businesskostüm, dezente, aber edle Rubinohrringe und irgendwelche total besonderen Schuhe trug, war es heute ein einfacher Jogginganzug. Ihre schwarzen Locken fielen ungestylt über die Schultern.

»Klar, passt schon. Keine Sorge«, sagte er. Im Lügen hatte er im letzten Jahr eine Menge dazugelernt. »Ich bin dann mal weg.«

»Aber du hast noch nicht aufgegessen.« Seine Mum deutete auf den Teller.

Schnell griff er nach dem verbliebenen French Toast, klappte ihn zusammen und schob ihn in den Mund.

»Du sollst essen, nicht schlingen.«

»Lass ihn doch, Martha.« Sein Dad winkte ab. »Randy wartet bestimmt schon. Sag deinem Freund, ich habe mir den Quellcode für seine neue App angeschaut. Saubere Arbeit. Falls er jemals ein Praktikum bei uns machen will, die Tür steht ihm offen.«

Nun musste Mason doch grinsen. Eher würde Randy eine eigene Firma in der Garage hochziehen, als für den Konzern zu arbeiten. Er mochte Masons Dad, hasste aber dessen Firma.

»Klar, mache ich.«

Fluchtartig verließ er das Haus. Sein Skateboard lehnte noch immer an der Hauswand, wo er es gestern zurückgelassen hatte.

Erst als er darauf stand und die Häuser links und rechts an ihm vorbeizogen, löste sich der Knoten in seiner Brust. Es war ein warmer Sommermorgen, die Vögel zwitscherten ringsum und Blütenduft lag in der Luft. Vom Meer wehte eine sanfte Brise heran.

Was Randy wohl gerade tat?

Vermutlich saß er auf der Terrasse, hämmerte irgendwelche Codes in seinen Laptop und vergaß dabei alles um sich herum. Und wie er dessen Tante kannte, bei der Randy lebte, las sie ihm jeden Wunsch von den Augen ab und versorgte ihn mit Brötchen, Nougatcreme und Marmelade.

Mason rollte vorbei am Bäcker, dem Waschsalon, dem Kiosk von Frau Geißen – der er kurz zuwinkte – und bog schließlich in einen kleinen Waldweg ein. Ab hier musste er zu Fuß weitergehen. Er schob das Gestrüpp beiseite und lief über den geheimen Pfad, den er im letzten Sommer entdeckt hatte, seinem Ziel entgegen. Nicht einmal Randy wusste davon.

In den Tagen nachdem das erste Video seines epileptischen Anfalls auf YouTube aufgetaucht war und er zum Stadtgespräch avancierte, hatte er sich oft hier verkrochen.

Er trat aus dem Dickicht hervor. Vor ihm lag eine kleine versteckte Bucht, eingesäumt von Felswänden, die rechts und links in die Höhe wuchsen. Sie verbargen den winzigen Strand in Richtung Meer vor neugierigen Augen. Bisher schien noch kein anderer den Platz entdeckt zu haben – zumindest war er nie auf jemanden getroffen.

Er schlüpfe aus seinen Sneakers, knüllte die Socken zusammen und zog die Jeans hoch übers Knie. Er genoss das Gefühl des Sandes unter seinen Fußsohlen, das Rauschen der Wellen, den Geruch nach Meer. Weiter vorne führte ein alter, verfallener Steg aufs Wasser hinaus. Die Bohlen waren morsch, hielten ihn aber locker aus.

An der letzten Bohle war ein Ring angeschlagen, in dem jemand ein Tau befestigt hatte. Das zugehörige Boot war allerdings schon lange verschwunden.

Mason überlegte gerade, ob er lieber schwimmen oder einfach die Füße ins Wasser hängen sollte, als ein Geräusch hinter ihm erklang.

Er fuhr herum.

Vor ihm stand ein Mädchen in seinem Alter.

»Was machst du hier?«, fuhr er sie an.

*

Irgendwie schaut er traurig aus.

Sie hatte es gar nicht darauf angelegt, leise zu sein. Doch Mason Collister war so in Gedanken vertieft, dass er sie nicht bemerkte. Er stand am Rand des Steges und schaute aufs Meer.

Schnell schoss sie ein paar Bilder. So natürlich wirkend, bekam sie in nächster Zeit niemanden mehr vor die Linse.

Unter dem Kapuzenshirt zeichneten sich breite Schultern ab. Das dichte dunkelblonde Haar war nach hinten gekämmt und sie konnte Muttermale und Leberflecke auf seinem Hals erkennen. Am linken Handgelenk trug er ein kleines Lederbändchen mit einem einzelnen Stahlglied, auf dem die Initialen MC eingestanzt waren.

Mason Collister.

Natürlich kannte sie ihn; wer tat das nicht?

Irgendein Geräusch musste sie verraten haben, denn plötzlich fuhr er herum. Sein nachdenkliches Gesicht verwandelte sich in eine wütende Fratze.

»Was machst du hier?«, fuhr er sie an.

Für einen Moment verschlug es Olivia die Sprache, was wirklich selten vorkam. Ihr Mitleid war wie weggewischt. Stattdessen hätte sie ihm am liebsten eine verpasst. »Ich wusste nicht, dass ich deine Erlaubnis brauche, um ein wenig am Strand zu spazieren.«

»Ähm.«

»Wie geistreich. Das gibt ’ne Eins in Kontern.«

»Kein Grund sich so anzuschleichen«, versuchte er Boden wieder gut zu machen.

»Ich hätte auch mit drei Hunden und einem Elefanten im Schlepptau hier antreten können, du warst gedanklich total weg.«

Der Wind frischte auf und wirbelte ihr Haar umher, brachte die Anhänger ihrer Halsketten zum Klimpern. Olivia trug heute nur ein ärmelloses Shirt, auf ihren Armen entstand eine Gänsehaut.

Ohne Mason weiter zu beachten, betrat sie den Steg. Dieser selbstverliebte Trottel konnte sie mal kreuzweise. Sie nahm ihre Kamera, richtete sie auf das Meer und schoss weitere Bilder.

Die Bohlen hinter ihr knarzten. »Du bist Fotografin?«

Olivia seufzte. »Allein diese Frage!«

»Was? Was habe ich denn jetzt wieder Falsches gesagt?«

Als sie sich umwandte, stand er wie ein begossener Pudel vor ihr. Die Augen aufgerissen, die Schultern in die Höhe gezogen.

»Du weißt wirklich nicht, wer ich bin?«

»Ähm. Sollte ich?«

»Der Artikel für die Schülerzeitung vor zwei Jahren. Der Leitartikel, du weißt schon. Ich war die inkompetente Fotografin, die du unbedingt ausgetauscht haben wolltest, weil sie deine sportliche Seite nicht ausreichend einfangen konnte. Erinnert sich unser Supersportler wieder?«

»Oh.«

»Ja, oh.«

Sie fuhr damit fort, die Felswände, das Wasser und die Bohlen des Steges zu fotografieren. Vor allem Letzteres war interessant. Das Spiel zwischen Licht und Schatten, dazu die organisch gewachsene Struktur des verfallenen Holzes. Dass irgendwelche Teenager sich mit Herzchen, Monogrammen und Sprüchen verewigt hatten, kam auch richtig gut. Mit etwas Glück konnte sie eines der Bilder für den Tourismus-Wettbewerb verwenden.

 

Die Gazette wird das nicht interessieren. Sei's drum. Der Wettbewerb bringt kein Geld, aber dafür Kontakte.

»Tut mir leid wegen damals«, sagte Mason kleinlaut.

Verblüfft schaute Olivia auf. Hatte er sich wirklich gerade entschuldigt? Der arrogante Übersportler musste verdammt tief gefallen sein, um das Wort ‚Entschuldigung‘ in seinen Sprachschatz aufzunehmen.

»Aber du musst das verstehen«, fuhr er fort. »Die haben gestern Drogen in meinem Spind gefunden. Irgendwer will mich fertigmachen. Und jetzt bist du hier, an meinem Strand und …«

»Wie bitte?!« Olivia hätte vor Wut beinahe ihre Nikon fallenlassen. »Sag mal, geht‘s noch? Gar nichts muss ich verstehen! Ganz ehrlich, es wundert mich, dass nicht die gesamte Schule dich fertigmachen will. Du bist noch genau so arrogant wie früher. Alles dreht sich nur um Mason Collister.«

Mit jedem Schritt, den sie auf ihn zu machte, wich er einen zurück.

»Das hier ist nicht dein Strand! Und anstatt in Selbstmitleid zu baden, könntest du ja auch einfach versuchen, den Verantwortlichen zu finden, hm? Nur so ein Gedanke. Ach was, Daddy wird das bestimmt für dich erledigen. Dann kauft er dir auch gleich ein neues Skateboard, und schon geht es dem kleinen Mason wieder gut.«

Sie versuchte, nicht an ihre Mutter zu denken, deren Alltag darin bestand, die Toiletten im Stadtarchiv zu schrubben. Oder an ihren Dad, der ständig Rückenschmerzen hatte, weil er täglich zwölf Stunden für einen Hungerlohn arbeitete und am Wochenende einen Zweitjob ausübte. Seit einigen Wochen beklagte er sich außerdem über immer heftiger werdende Magenschmerzen, weigerte sich aber rigoros, einen Arzt aufzusuchen. Er vertrat vehement die Meinung, so ein Quacksalber koste immerhin Geld, das die Familie nicht habe.

»Ihr reichen Jungs seid doch alle gleich«, sagte sie. »Wartet darauf, dass euch alles von alleine zugeflogen kommt. Und wenn dann mal eine kleine Hürde auftaucht, oje, dann rufen wir schnell Mummy und Daddy, damit die alles in Ordnung bringen. Wach auf, Collister! Du bist nicht mehr der hippe Sportler, den alle Welt vergöttert. Willkommen in der wirklichen Welt.«

»Ich …« Er strauchelte, stürzte, fiel rücklings in den Sand. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihr auf.

»Es ist ziemlich simpel: Entweder du kämpfst für dich selbst und machst die fertig, die dir ans Bein pinkeln – oder du gehst unter. Viel Glück.«

Wie er so vor ihr lag, bekam sie Mitleid. Der Ausdruck in seinen Augen … So hatte sie damals auch ausgesehen. Mason Collister schien erst jetzt zu begreifen, dass das entspannte Leben vorbei war. Sie rechnete ihm keine großen Chancen aus. Er hatte nie gelernt zu kämpfen, ganz im Gegenteil.

Olivia schluckte.

Dann riss sie sich von dem Anblick einer zerstörten Seele los und stapfte durch den Sand davon.

*

Zur gleichen Zeit

Verblüfft starrte Danielle auf ihre Oma, die mitten im Satz die Augen geschlossen hatte und eingeschlafen war. »Gran?«

Das sieht ihr gar nicht ähnlich.

In ihrer Hosentasche vibrierte das Smartphone zum hundertsten Mal. Sie nahm es heraus und überprüfte mit einem Blick die Apps. Zwei neue Tweets, fünf Likes bei Facebook und drei neue Follower auf Instagram. Dazwischen eine Nachricht ihrer Mum – ganz altmodisch per SMS – und ein Anruf in Abwesenheit von einer Freundin, die noch nicht wusste, dass sie keine Freundin mehr war. Nichts Wichtiges also.

Sie schob das Gerät wieder in ihre Hosentasche. Normalerweise schaltete sie es nur an einem Ort der Welt komplett aus – hier in der Seniorenresidenz Zur rüstigen Eiche.

Für gewöhnlich schlief ihre Gran aber auch nicht ein. Die Mutter ihrer Mutter war gerade mal vierundsiebzig und dazu noch äußerst rüstig. Sonntags stand der Tanztee an, unter der Woche ging sie mit Freunden spazieren, zum Yoga – kaum zu fassen! – und schwamm regelmäßig.

Danielle stand auf, griff nach einer Decke und legte sie ihrer Gran über die Beine. Lächelnd betrachtete sie das Gesicht der alten Frau, die tiefen Falten, das ergraute Haar, die Grübchen im Mundwinkel. Sie hielt sich jeden Samstag frei, um hierher zu kommen. Gemeinsam plauderten sie ein wenig, aßen ein Stück Kuchen und spielten eine Partie Schach.

Danielle seufzte.

Obwohl sie ihrer Mum ständig erklärte, dass Gran gar nicht ins Altenheim musste, hatte ihre Mutter darauf bestanden.

Dann war der Besuch heute eben nur ein Intermezzo. Sie schrieb schnell ein paar Zeilen auf einen Zettel und klemmte ihn unter die kleine Porzellankatze, die auf dem marmornen Couchtisch stand.

Ihr Blick fiel auf das Tablettenetui. Die Medikamente, die ihre Gran für den Blutdruck nehmen musste, waren blau. Die Tabletten in dem Etui aber rosa. In der Regel besuchte der örtliche Arzt, Doktor Silverman, jeden Bewohner der Seniorenresidenz an einem Tag in der Woche. Im gemeinsamen Gespräch wurde erörtert, ob die Medikamente halfen und ob eine Umstellung notwendig war. Die Heimleitung sorgte dann dafür, dass die korrekte Dosierung des entsprechenden Medikaments von den Pflegern an die Bewohner ausgegeben wurde. Laut Vertrag musste die Klinikleitung Danielles Eltern informieren, wenn der Arzt eine Änderung an der Medikation vornahm.

Na, die können was erleben.

Jedem Bewohner der Zur rüstigen Eiche war ein direkter Ansprechpartner zugeteilt – ein Pfleger, der bei Problemen die Ärzte und die Leitung der Residenz informieren konnte. Laut Heimleitung wurde so jedem ihrer älteren Mitbewohner eine Betreuung rund um die Uhr zuteil.

Ha, ha.

Danielle hatte recherchiert. Tatsächlich holten diese Idioten in der Chefetage sich Schulabgänger und zahlten ihnen einen Hungerlohn. Dass die unaufmerksam waren, wunderte sie nicht im Geringsten. So entstanden Fehler. Gerade im Falle älterer Menschen, die auf Hilfe angewiesen waren, konnte das böse Folgen haben.

Sie nahm das Pillenetui.

Leise schloss sie die Tür des Appartements hinter sich. Der Boden war mit einem dicken Teppich ausgelegt. – Das scheußliche Blumenmuster darauf tat ihr jeden Samstag aufs Neue in den Augen weh.

An der Rezeption erfuhr Danielle, dass Pfleger Mischa sich im Park herumtrieb. Sie musste nicht lange suchen. Der schwarzlockige Kerl saß auf der Bank, schaute in den Himmel und genoss die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

»Hey, du.« Danielle stapfte auf ihn zu. Im Näherkommen schwenkte sie das Medikamentenetui durch die Luft. »Was sind das für Pillen?«

»Hm.« Er schaute auf, die Augen glasig.

»Bist du etwa high?!« Ihr Kiefer klappte gen Erdmittelpunkt. »Oh mein Gott, du bist high.«

»Was sind das für Pillen?«, sie hielt sie unter seine Nase.

»Die Schlaftabletten«, sagte er, ein debiles Grinsen auf dem Gesicht.

»Schlaftabletten! Meine Gran hat Probleme mit dem Herzen!«

»Kann gar nicht sein. Ich hab hier …«, er tastete nach einem Brett, an dem eine Liste klemmte – und konnte es beim dritten Versuch sogar festhalten. »Da steht es doch. Jenkins. Herz … Oh. Da hab ich wohl die Pillendosen verwechselt. Ah ja, alles klar, ihr Nachbar braucht die Schlaftabletten. Der Kerl war mal Direktor an der alten Barrington High, wusstest du das?« Er lachte.

Sie starrte ihn an. »Ist dir eigentlich klar, was du getan hast?!«

Er zuckte die Schultern. »Das wird schon wieder. Ich tausche die Tabletten gleich aus. Ist ja nix passiert.«

»Was hast du genommen?« Ihr kam ein furchtbarer Verdacht.

Während sie den Idioten in Gedanken erwürgte, war sie gleichzeitig maßlos entsetzt. Glasige Augen, zittrige Hände, das waren Symptome, die man unter Jugendlichen in Barrington Cove dieser Tage öfter zu sehen bekam.

»Jetzt mach dich mal locker, Fehler passieren«, sagte er. »Ich bin auch nur ein Mensch.« Bei dem ganzen Stress muss ich ab und zu ausschalten. Das war nur ’ne Black.«

Danielle schloss die Augen.

Die Black Flashs, kurz Blacks genannt, waren der neueste Schrei. Sie wusste nicht, woraus sie bestanden, doch die Wirkung war weithin bekannt. Nach der Einnahme entstand ein Gefühl der Entspannung, das dabei half, einzuschlafen oder nach einer schweren Klausur abzuschalten. Zugegeben, nach der letzten Geschichtsklausur war sie auch in Versuchung gewesen. Für etwa eine Sekunde oder so.

Leider gab es nichts umsonst. Die Nebenwirkungen waren Kurzatmigkeit, Konzentrationsstörungen und Ausschläge in den verschiedensten Körperregionen. Es gab Geschichten … sie schüttelte schnell den Kopf, um den Gedanken loszuwerden.

Leider waren die Tabletten leicht herzustellen. Immer wieder gab es Schüler, die sie selbst machten und unters Volk brachten.

Gerade gestern hatte es an der Schule erneut eine Razzia gegeben. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet das ehemalige Sport-Ass Mason Collister eine Packung der Blacks in seinem Spind gehabt hatte. Andererseits wunderte sie gar nichts bei diesen arroganten Sportlern, die von sich selbst dachten, sie seien die Krone der Schöpfung.

Na warte, du kleiner Mistkerl. Nach außen hin der sportliche Saubermann und hinten rum dealen. Wenn du dahinter steckst, mach ich dich fertig. »Wer hat dir die Dinger verkauft? Collister?!«

»Mann, Blondie, du machst deiner Haarfarbe echt alle Ehre.« Mischa kicherte. »Weiß doch jeder, wo man was zum Runterkommen herbekommt«, sagte er noch, dann war er wieder abgedriftet.

Danielle sah ein, dass es keinen Sinn ergab, hier weiter zu machen. Stattdessen schnappte sie sich die Patientenliste zusammen mit dem Medikamentenetui und stapfte zum Heimleiter. Sie würde dafür sorgen, dass ihrer Gran nie wieder etwas geschah.

Und dann kümmere ich mich um dich, Collister.

*

Crest Point

»Alter, das ist eine total blöde Idee«, sagte Randy, während er sich ein Ginsterblatt aus den Wuschelhaaren zog. »Wir sollten den Sheriff verständigen.«

»Sicher nicht! Die glauben uns doch kein Wort. Du sprichst hier von Brukers Dad.«

Sie lagen zwischen zwei Ginsterbüschen und starrten in die Tiefe. Da sie nur ein Fernglas hatten, wechselten sie sich dabei ab, die Jungs und Mädchen dort unten zu beobachten.

Es war kein Geheimnis, dass sich die coolen Kids im Crest Point trafen. Mason selbst war einst jeden Samstagmittag hier gewesen. Es gab versteckte Ecken, in denen man rummachen konnte, ohne dass Erwachsene dabei störten. Natürlich liefen hier auch Dinge ab, über die nie jemand sprach, obwohl jeder Bescheid wusste.

»Dort drüben ist Bruker. Und er hat deine ehemaligen besten Freunde vom Basketball-Team dabei«, sagte Randy. Aufmerksam spähte er durch das Fernglas.

Neben Randy lag sein Eastpack, der von einer Schachtel ausgebeult wurde. Randy nannte es sein »Überlebenspaket«. In ihm trug er allerlei technischen Krimskrams mit sich herum.

»Schon gut, ich will keine Details«, sagte Mason. »Sag mir einfach, wenn du Pratt gefunden hast.«

Ebenso wie jeder wusste, dass im Crest Point gedealt wurde, kannte auch jeder den Namen des Dealers. Pratt Thompkins war Mitte zwanzig und damit neun Jahre älter als Mason und Randy. Der Typ hatte den Abschluss nicht geschafft, war aber irgendwie im Umkreis der Schule hängen geblieben. Ob es um Drogendeals, Diebstähle oder leichte Körperverletzungen ging: Der Sheriff verhaftete Thompkins mindestens einmal im Monat. Seltsamerweise konnte man ihm nie etwas nachweisen und er war 48 Stunden später wieder auf freiem Fuß.

»Ist gar nicht so einfach«, murmelte er.

Mason legte den Kopf auf die verschränkten Arme und schaute umher. Blütenduft lag in der Luft, der Geruch von verbranntem Holz stieg in seine Nase; dort unten brannte ein Lagerfeuer. Er konnte das Lachen hören, das sich in den Mauern fing und hier oben widerhallte.

Der kleine Disput mit Olivia am Strand hatte ihm die Augen geöffnet. Monatelang hatte er seinem alten Leben nachgetrauert und darüber sein neues vergessen. Leider machte die Logik hinter den Worten den Verlust nicht ungeschehen. Er könnte jetzt dort unten sitzen, mit den anderen Cocktails trinken und später in der Dämmerung Marshmallows über dem Lagerfeuer grillen. Stattdessen hing er die meiste Zeit alleine rum – oder mit seinem neuen besten Freund Randy.

Aber immerhin bin ich frei, machte er sich selbst klar.

All die Zwänge, denen jeder dort unten unterworfen war, galten für ihn nicht länger. Wie leicht es sich doch als Paria lebte, wenn man es erst mal akzeptiert hatte. Schlimmer war, dass er sich jetzt selbst mit anderen Augen sah. Er war tatsächlich ein Widerling gewesen. – Olivia hatte Recht.

 

»Hab ihn!«, rief Randy.

Mason zuckte zusammen. »Cool, das hat jetzt auch der letzte Goldzeisig gehört.« Er knuffte ihn in die Seite. Glücklicherweise gehörte Randy nicht zur nachtragenden Sorte Mensch. Als Mason bei ihm aufgetaucht war, um sich nach dem gestrigen Streit zu entschuldigen, hatte der Freund nur abgewunken.

»Lass mal sehen.« Mason griff nach dem Fernglas. »Ah ja, da ist er. Und er vertickt wieder das Zeug.«

»Blacks?«, fragte Randy.

»Jap. Was denn sonst?«

»Und jetzt?«

»Hm. Wir beobachten.«

»Alter, du hast gar keinen Plan, oder?«

»Ich dachte, wir improvisieren«, gab Mason zu. »Immerhin wissen wir, dass Thompkins so ziemlich der Einzige ist, der regelmäßig das Zeug vertickt, also muss er auch Zugang zu den Chemikalien haben, die für die Herstellung benutzt werden. Entweder hat er das Zeug selbst in meinen Schrank gesteckt oder jemanden damit beauftragt.«

»Aber warum sollte er es dir unterjubeln? Das kostet ihn ’ne Menge Geld.«

»Ich glaube auch nicht, dass es seine Idee war.« Mason ließ das Fernglas sinken. »Irgendwer hat ihn dazu angestiftet und das Zeug bezahlt, um mich fertigzumachen. Ich wette auf Brian.«

»Der Kotzbrocken findet es doch toll, dich an der Schule immer wieder auflaufen zu lassen. Kann mir nicht vorstellen, dass er dich loswerden will. Da hätte er ja niemanden mehr zum Mobben. Außerdem, stell dir mal vor, sein Dad kriegt das raus.«

Ein netter Gedanke. Was würde der Sheriff von Barrington Cove tun, wenn sein Sohn dabei überführt wurde, wie er einem anderen Jungen Drogen unterschob? Der Gedanke gefiel Mason. Andererseits waren Randys Argumente nicht von der Hand zu weisen: Würde Brian ein solches Risiko eingehen, obwohl gerade alles so gut für ihn lief? Aber wer hatte sonst genug Geld, Einfluss und Mut, um so etwas durchzuziehen?

Randy nahm das Fernglas. »Oh, wow, da unten geht es gerade richtig zur Sache.«

»Was?«

»Danielle Holt – du weißt schon, die hochnäsige reiche Blonde – knöpft sich gerade Thompkins vor. Wie geil ist das denn?«

»Zeig her.«

Mason riss ihm das Fernglas aus der Hand.

*

Danielle hatte genug gesehen. Sie stapfte aus ihrem Versteck, donnerte den schmalen Weg nach unten in den Steinbruch und baute sich vor Thompkins auf.

Dieser elende Wicht stand vor ihr, begrüßte sie mit einem schmierigen Lächeln und zwinkerte ihr zu. »Na, Kleines. Wie geht‘s denn so?«

Vermutlich fand er das auch noch charmant. Wahrscheinlich hatten die Drogen ihm bereits alle Gehirnzellen zur Selbstreflexion zerfressen. Wenn es nicht um ihre Gran gegangen wäre, Danielle hätte sich diesem Subjekt nicht auf zehn Meter genähert. Bei dem Gedanken ballte sie die Fäuste. Ob sie es wagen konnte, ihn am Kragen zu packen?

»Hast du das Zeug auch an Mischa Blackwood verkauft?!«

»Was, wer?«

»Mischa Blackwood.« Sie betonte jede Silbe. »Der Pfleger im Zur rüstigen Eiche.«

Er zuckte die Schultern. »Kann schon sein.« Sein Blick fuhr über ihren Körper. »Wer bist du denn?«

Thompkins überragte sie deutlich. Genau genommen, überragte er mit seinen 1,95 Metern jeden Schüler um Längen.

Wie immer trug er einen schwarzen, abgewetzten Ledermantel und dazu passende Boots. In seiner Nase steckte ein Ring, was ihm in Kombination mit den kleinen Äuglein und der Knollennase das Aussehen eines überdimensionalen Schweins auf zwei Beinen verlieh.

»Das ist die kleine Holt«, sagte einer seiner Lakaien, ein rothaariger mit Wampe. »Voll die reiche Bitch.«

Weitere Helfer tauchten auf. Einige zogen ihre Schlagringe über die Hände.

Erst jetzt wurde Danielle bewusst, dass sie alleine war, während Thompkins eins, zwei, drei, ganze vier Helfer hatte. Was sie in deren Augen sah, verhieß nichts Gutes.

Dass die anderen Schüler im Steinbruch ihr halfen, war unwahrscheinlich. Die meisten hier konnten sie nicht leiden, standen sie sozial doch so weit unter ihr, dass der Neid jede Hilfsbereitschaft im Keim erstickte.

»Also … Ich wollte …« Sie atmete tief durch. »Glaubst du etwa, deine Schläger machen mir Angst?«

»Hm. Du scheinst nicht viel in der Birne zu haben, wenn du keine Angst hast.«

Hat er mich tatsächlich gerade als dumm bezeichnet? »Also, wenn ich den Abschluss nicht geschafft hätte, wäre ich nicht so vorlaut. Wie oft hat der Sheriff dich im letzten Monat verhaftet? Zählst du überhaupt noch mit?«

Thompkins wurde rot.

Treffer, versenkt. Danielle freute sich.

»Das letzte Mal war gerade vergangene Woche«, sagte er auf einmal gefährlich leise. »Körperverletzung. Vielleicht hätte Bruker mich nicht gehen lassen sollen.«

Plötzlich stand er vor ihr. Ein Atem, der nach Alkohol und Fäulnis stank, wehte ihr ins Gesicht.

Bevor Danielle wirklich nachdenken konnte, hatte sie schon ausgeholt und ihm eine gescheuert.

»Das«, sagte er drohend, »hättest du nicht tun sollen«.

*

Das ist jetzt ein Witz, dachte Olivia.

Sie lag zwischen zwei Findlingen, hatte das Teleobjektiv auf ihre Nikon geschraubt und beobachtete das Geschehen. Natürlich hatte ihr verdammtes Gewissen sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Mason Collister war ein arrogantes Arschloch, aber eben auch ein Opfer. Und nur weil sie keine Hilfe hatte, musste er nicht ebenfalls allein dastehen.

Ihre Schwester hatte mal gesagt, dass Olivia ein Helfersyndrom in die Wiege gelegt bekommen hatte – so wie alle anderen in der Familie auch. Das war natürlich lächerlich. Aber wenn ein Idiot wie Collister alleine zu ermitteln begann, verletzte er sich womöglich noch.

Also hatte Olivia ihre Kamera eingepackt, war zum Crest Point gefahren und lag nun hier – seit Stunden. Sie beobachtete und wartete darauf, das eine Bild zu schießen, mit dem sie Pratt Thompkins zu einem Geständnis bewegen konnte.

Dann war wie aus dem Nichts Danielle Holt aufgetaucht, eine zierliche Blonde, mit der sie gemeinsam den Mathekurs besuchte. Sie tobte wie ein Tornado den schmalen Pfad nach unten und verpasste Pratt schließlich eine Ohrfeige. Eine mutige, aber ganz und gar dämliche Tat. Diese kleine reiche Kuh musste wahnsinnig geworden sein.

Olivia überlegte gerade, was sie tun sollte, als Mason Collister und Randy Steinbeck hinter einem Ginsterbusch hervor gekrochen kamen und hinunter rannten. Es war abzusehen, dass sie Danielle Holt zu Hilfe eilten.

»Ihr macht mich fertig, Leute.«

Sie richtete das Objektiv aus und knipste, was das Zeug hielt.

*

Mason kam schlitternd zum Stehen, wäre beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. »Du wirst doch kein Mädchen schlagen.«

»Das Trio Infernale«, sagte Thompkins. Er lachte. »Da hat wohl der Kindergarten Auslauf bekommen? Und was wollt ihr jetzt tun, hm?«

Improvisieren, dachte Mason. »Wir haben den Sheriff alarmiert.«

»Ja, ist klar.«

Er nickte Randy zu. Vorsichtig zog dieser eine Fernbedienung aus der Hosentasche und betätigte einen Knopf. Eine Sirene begann zu heulen. Sie war noch weit entfernt, kam aber beständig näher. Im Steinbruch brach Tumult aus. Plastikbecher wurden weggeworfen, Mitschüler rannten davon.

»Netter Trick.« Thompkins zog die Nase hoch und spuckte einen schleimigen Klumpen auf die Erde. »Aber ich kenne das Geräusch. Hat da jemand einen Geräuschgenerator aufgepeppt?« Er schaute zu Randy. »Interessante Idee, die sind normalerweise leiser. Aber wenn du genau hinhörst, erkennst du den Unterschied zu ’ner echten Sirene.«

Er griff in die Tasche und zog einen Schlagring hervor. »Weißt du, Collister, ich schlage tatsächlich nur ganz selten Weiber. Aber wo wir jetzt auch zwei Typen hier haben, macht es das einfacher.«