Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Den Blick auf das Display gerichtet, lief sie zum Treppenabgang. Als sie gerade auf die oberste Stufe treten wollte, hörte sie die Stimmen. Blitzschnell tauchte sie zur Seite weg, hinter das Geländer.

»… Abreibung verdient«, erklang die Stimme von Pratt Thompkins. »Wurde ja auch Zeit, dass wir endlich das ‚Go‘ kriegen.«

Der Dealer musste ihnen gefolgt sein. Während sie damit beschäftigt gewesen waren, Bilder zu machen und den Geheimraum zu untersuchen, hatte Thompkins die ganze Zeit in ihrer Nähe gelauert, um jetzt zuzuschlagen.

Angsterfüllt spähte Danielle über das Geländer nach unten.

»Ich nehm mir den Schlaksigen vor«, sagte eine andere Stimme. »Der hält sich wohl für einen ganz Schlauen.«

»Ist mir egal«, kam es von Pratt zurück. »Aber Collister gehört mir. Das Bürschchen war mir schon zuwider, als er noch den großen Helden auf dem Spielfeld gegeben hat. Wurde echt mal Zeit, dass er eine verpasst bekommt. Und wenn ich schon ’ne Abreibung vom Boss bekomme, weil die Einnahmen heute einbrechen, dann kann ich mich wenigstens vorher abreagieren.«

Danielle überlegte fieberhaft. Die zwei mussten zwar in der Nähe des Anwesens gelauert haben, doch sie hatten nicht bemerkt, dass Olivia und Mason davongefahren waren. Vermutlich würde es ihnen gar nicht schmecken, wenn sie die Wahrheit erkannten.

Sie musste Hilfe herbeiholen, und zwar schnell.

»Wen haben wir denn da?«, erklang eine dritte Stimme direkt neben ihr.

Sie schrie auf und fuhr herum. Das Handy entglitt ihren Fingern, fiel über die Balustrade und zerschellte am Boden.

*

Masons Magen knurrte. Langsam bekam er Hunger, während er an nichts anderes denken konnte, als seine Unschuld zu belegen. Er musste irgendwie nachweisen, dass Pratt hinter der Sache steckte.

Gemeinsam mit Olivia war er zuerst zu einem Schlüsseldienst gefahren, wo sie – verbotenerweise – die Hausschlüssel des Tarnowski-Anwesens hatten nachmachen lassen. Von dort ging es zur Redaktion. Olivia stieg mit einem »Fass nichts an« aus dem Auto und verschwand in der Redaktion.

Mason schaute aus dem Fenster und beobachtete die vorbeilaufenden Menschen. Mütter mit ihren Kindern, die auf dem Weg in die Shoppingmall waren. Pärchen, die gemeinsam an der Küstenstraße entlang joggten. Sogar eine Truppe Rentner sah er, die bewaffnet mit Decken in Richtung Strand marschierten.

Das Gebäude der Barrington Cove Gazette lag an einer dicht befahrenen Hauptstraße, gegenüber vom Strand. Es war ein großer Glasbau mit einem ringsum laufenden Grünstreifen. In der Lobby standen Sofas, bezogen mit schwarzem Leder, und kleine Tische, auf denen Magazine lagen. Ein grimmig dreinblickender Pförtner scheuchte die meisten Ankömmlinge davon.

Der Gazette gehörte das gesamte Gebäude. Im ersten Stock erkannte er zahlreiche Köpfe hinter den Fenstern, mehr war nicht auszumachen.

Komm schon, Olivia, beeile dich.

Es war längst Nachmittag. Wenn sie Pratt lückenlos überwachen wollten, mussten sie langsam damit anfangen. Vermutlich hing er noch immer in der Nähe des Steinbruchs herum.

Mason hätte es längst überprüft, nur leider hatte Olivia die Software zur Überwachung der Wanze auf einem Pad der Redaktion gespeichert. – Und das war gesperrt. Bedauerlicherweise hatte sie vergessen, den PIN ebenfalls auszuborgen.

Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie wieder aus dem Redaktionsgebäude trat. Unweigerlich musste er daran zurückdenken, wie sie ihn am Strand fertiggemacht hatte. Damals hatte er sie für ein eingebildetes, arrogantes Miststück gehalten. Warum half sie ihm jetzt trotzdem? Es hatte eher so geklungen, als würde sie ihm am liebsten eine reinhauen.

»Ich bin überrascht, das Auto ist nicht in die Luft geflogen«, sagte Olivia. Sie schwang sich hinter das Steuer und startete den Motor.

»Haha.« Mason hielt ihr das Pad entgegen. »Wärst du so nett? Ich will prüfen, wo Pratt ist. Der Idiot scheint im Steinbruch zu wohnen.«

Sie zog einen Zettel hervor, studierte ihn einige Sekunden lang und gab dann mit fliegenden Fingern den PIN-Code ein. »Weißt du, dieser Tag entpuppt sich wirklich als … interessant. Eigentlich wollte ich mir meine Kamera schnappen, am Strand entlang spazieren und die Felsformationen fotografieren. Stattdessen spiele ich Babysitter.«

Sie sah sich kurz um, scherte aus und fuhr los.

»Du bist nur ein Jahr älter als ich«, sagte er, den Blick auf das Interface gerichtet, das sich viel zu langsam aufbaute. »Tu nicht so, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen.«

Olivia schnaubte nur und bretterte haarscharf an einer Omi mit Trolli vorbei. Die Südtangente war zu dieser Zeit dicht befahren, die Hälfte der Stadt wollte zum Strand. Glücklicherweise fuhren sie in die andere Richtung, sonst wäre längst kein Durchkommen mehr gewesen.

Sehnsüchtig blickte Mason in Richtung Strand, dann galt seine Aufmerksamkeit wieder der Software.

Eine Stadtkarte erschien auf dem Display. Gebäude waren gelbe Flächen, Straßen graue Striche. Er suchte den grünen Punkt, der den Standort von Thompkins markierte, wurde im Steinbruch aber nicht fündig.

»Er ist nicht mehr dort«, murmelte Mason.

»Oookay.« Olivia steuerte den Wagen in eine enge Kurve, die Bremsen quietschten.

»Oh, nein!«

»Jetzt stell dich nicht so an.«

»Ich spreche nicht von deinem Fahrstil, sondern Thompkins!« Er hielt ihr das Pad vor die Nase. »Der Dreckskerl ist im Tarnowski-Haus.«

Olivia riss entsetzt die Augen auf.

Dann drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch. »Halt dich fest.«

*

Ein bekannter fauliger Atem schlug Danielle ins Gesicht. Sie wollte sich abwenden, aber Pratt hielt sie fest. Er war ganz nah. Ihre Brust wurde eng.

»Wenn das nicht das kleine Püppchen aus dem Steinbruch ist«, sagte Thompkins. »Tja, wir sind nicht so blöd wie ihr dachtet. Einer meiner Männer hat euch verfolgt.« Er sah sich um. »Das ist doch die Bude vom alten Tarnowski. Hier gibt es nichts Wertvolles zu holen. Warum also seid ihr hier?« Er grinste sie an. »Wo sind deine kleinen Freunde, hm?«

Hinter ihr stand ein breitschultriger Typ mit Vollbart und Nasenpiercing, der sie erwischt und zu Thompkins gebracht hatte. Er hatte sie auf einen Stuhl im Zentrum der Eingangshalle gedrückt und sich vor ihr aufgebaut.

Danielle begriff in einem Moment des Entsetzens, dass sie Thompkins alle unterschätzt hatten. Er war nicht einfach ein kleiner Dealer, sondern ein waschechter Psychopath. Der Kerl wollte weit mehr, als Mason nur eine kleine Abreibung verpassen. Dieses gierige Funkeln in seinen Augen machte ihr Angst.

Mason und Olivia waren in Sicherheit, aber was war mit Randy? Wenn der kleine Nerd den Geheimraum verließ, würden diese Halbaffen ihn erwischen.

Der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern. Ihre Finger begannen zu zittern. Schnell ballte sie die Hände zu Fäusten, damit es nicht auffiel.

»Lass mich noch mal anders fragen«, sagte Thompkins.

Er ließ seine Fingergelenke knacken. Mit einem Lächeln schaute er auf die Überreste ihres Smartphones. Ein Tritt, und von dem Gerät mit dem durch den Fall zersprungenen Display blieben nur Einzelteile übrig. – Plastik, Aluminium, irgendwelche winzigen Platinen.

»Und jetzt stell dir vor, ich mache das gleich noch mal, allerdings mit deiner Hand.« Pratt lächelte schmierig. »Also, ich wiederhole meine Frage genau ein Mal: Wo sind deine kleinen Freunde? Wo ist Collister?«

»Ich bin alleine hier.« Danielle hatte schon recht früh gelernt, überzeugend zu lügen. Sie trug das Gesicht eines blonden Engels, wie man ihr als Kind immer wieder gesagt hatte, und einem solchen traute niemand Böses zu. Zugegeben, sie war manchmal eher ein kleines Teufelchen gewesen, allerdings hatte ihr Bruder ihr in nichts nachgestanden.

Leider glaubte Thompkins, der Schweinehund, ihr kein Wort.

»Na schön, dann eben anders.« Er griff nach ihrer Hand.

In diesem Moment erklang ein Keuchen am oberen Ende der Treppe.

»Danielle?!« Es war Randy.

»Verschwinde!«, rief sie. »Ruf den Sheriff.«

Glücklicherweise handelte Randy richtig, er warf sich herum und rannte davon. Wenn er schnell genug war, kam er vielleicht noch in das Geheimversteck.

»Na schön, dann erledige ich das eben selbst.« Thompkins streifte sich einen Schlagring über die Finger der rechten Hand. »Pass auf sie auf.«

»Was … du kannst doch nicht …« Danielle wollte aufstehen, aber eine unbarmherzige Hand drückte sie wieder in das Sitzkissen. »Und fessele sie ordentlich.«

»Mach ich, Boss.«

In ihrem Geist sah sie Randy, der unter dem Hieb eines Schlages zu Boden ging. Panik überfiel sie.

Lauf Randy. Bitte lauf, so schnell du kannst.

*

»Sollen wir nicht den Sheriff rufen?«, fragte Mason. Er wollte gar nicht daran denken, was beim Tarnowski-Anwesen gerade geschehen mochte.

»Tolle Idee«, sagte Olivia und quälte erneut den Motor, indem sie eine Kurve nahm, einen Gang nach oben wechselte und das Gaspedal nahezu gleichzeitig durchtrat. »Hey, Sheriff, wir haben uns illegal Zutritt zum Haus eines toten Schriftstellers verschafft, nachdem mein Auftrag dort erledigt war. Das hier sind die Nachschlüssel. Und Mason kennen Sie ja, das war der mit den Drogen. Aber natürlich sind wir hier die Opfer, weil wir eine Wanze illegalerweise an das Auto …«

»Okay«, stoppte Mason ihren Redefluss. »Ich hab es dann auch kapiert. Trotzdem müssen wir uns überlegen, was wir tun, sobald wir ankommen, falls Thompkins und seine Schläger wirklich noch dort sind.«

 

»Hm. Leider haben wir nicht viele Möglichkeiten«, sagte Olivia. »Pratt und seine Bande sind harte Brocken. Die kennen gar nichts.«

»Kennst du ihn etwa?« Sie fuhren an der Ausfahrt zum Steinbruch vorbei. Vor ihnen tauchte eine Einbahnstraße auf, was Olivia aber nicht bekümmerte. Mason klammerte sich an seinen Gurt, als sie hupend einem entgegenkommenden Auto auswichen.

»Weißt du, es gibt so etwas wie das wirkliche Leben«, sagte sie bitter. »Klar, dass du und Danielle damit nichts anfangen könnt. Reiche Eltern, beliebter Sportler, da vergisst man das schon mal. Aber ich wohne im südlichen Distrikt von Barrington Cove und, auch wenn jeder in der Stadt es totschweigen will: Das Gesetz ist den Leuten dort meistens schnuppe.«

Mason schluckte. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, seine Familie als reich zu bezeichnen. Sein Dad arbeitete hart, ebenso seine Mum. Sie besaßen natürlich ein Haus in Pinewood Oaks, einem neu gebauten Stadtteil, was sich nicht jeder leisten konnte. Trotzdem konnten sie nicht mit einer Prachtvilla konkurrieren, in der Danielles Familie wohnte. Beides war allerdings besser als der südliche Distrikt, der von allen nur Favelas genannt wurde. Der Bürgermeister hätte es niemals zugegeben, doch zwischen mexikanischen Einwanderern, Jugendbanden und Drogenumschlagplätzen hatten seine Deputys keine Chance.

»Aber ich dachte, Thompkins ist ein kleiner Dealer«, sagte er schließlich nur. »Ich meine, er vertickt Zeug im Steinbruch.«

»Er ist mehr als das«, sagte Olivia. »Und aus irgendeinem Grund hat er es auf dich abgesehen.«

»Super! Da fühle ich mich gleich deutlich wohler. Wir müssen den Sheriff alarmieren, sonst schlagen die Typen uns vier zu Brei!«

Olivia rollte mit den Augen. »Hatten wir darüber nicht schon gesprochen? Aber klar, das ist ja immer deine Lösung. Wenn es brenzlig wird, rennst du zu anderen.«

»Aber …«

»Nein!«, fauchte sie. »Hast du es noch immer nicht begriffen? Es gibt niemanden, der dir hilft. Ob in der Schule oder auf der Straße: Die Leute rümpfen die Nase, wenn ich auftauche. Ich bin die Kleine mit der Schrottkarre, die Kleine aus den Favelas. Wenn du so aufwächst, lernst du wenigstens, dass du in der Realität alleine bist und für dich selbst einstehen musst.« Sie funkelte ihn an. »Du bist die Leiter nach unten gefallen, Collister. Jetzt steh auf und lerne zu kämpfen … oder geh unter.«

Für einen Moment hatte Mason das Gefühl, als läge er wieder auf dem Boden. Unter ihm der Sand der geheimen Bucht, über ihm Olivia, die auf ihn herabblickte.

»Es tut mir ja leid, dass dir das Leben so übel mitgespielt hat«, sagte er, »aber das heißt nicht, dass mein Leben mit deinem vergleichbar ist. Wenn ich meine Unschuld bewiesen habe, wird alles wieder so wie früher.«

Olivia schüttelte den Kopf, eher traurig als wütend. »Egal, wie diese Geschichte hier ausgeht: Es wird nie mehr wie früher für dich sein.«

Vor ihnen tauchte das Anwesen auf.

*

Im gleichen Moment, als vor Randy die Standuhr auftauchte, entschied er sich dagegen, das Geheimversteck zu benutzen. Zum einen, weil es dort unten nach der ersten Sichtung keinen zweiten Ausgang gegeben hatte. Zum anderen, weil er nicht tatenlos dabei zusehen konnte, wie diese Widerlinge Danielle etwas antaten. Hilfe musste her, doch die konnte er nur von hier oben rufen.

Er schlug also einen Haken und rannte in eines der angrenzenden Zimmer, während er sein Smartphone herauszog.

Der Raum sah aus wie eine Privatkapelle. Die Fenster bestanden aus Buntglas, auf das jemand Engel, Dämonen und allerlei anderes religiöses Zeug gemalt hatte. Direkt davor stand ein steinerner Altar, in den Verzierungen eingehauen waren. Im Hintergrund gab es vier Säulen, auf denen je eine Vase stand.

Randy sah sich fieberhaft um. Leider gab es keinen weiteren Ausgang.

»Ganz dumme Idee, Kleiner«, erklang die Stimme von Thompkins. »Ich hab ja keine Ahnung, wo Collister ist, aber das ist mir auch herzlich egal. Du genügst völlig.«

»So? Wofür denn?«

Randy überlegte fieberhaft, was er tun konnte. Hier gab es außer einer hölzernen Kabine, die mit einem Vorhang abgetrennt war, keine weiteren Flucht- oder Versteckmöglichkeiten. Abgesehen von zwei zusätzlichen, antik aussehenden Vasen auf einem Steinsims an der Wand ließ sich auch nichts als Waffe gebrauchen.

»Um eine Nachricht zu überbringen.« Es knirschte, als Pratt näher kam. Erst jetzt registrierte Randy die Scherben am Boden, das heruntergerissene Bild in der Ecke, den zerbrochenen Stuhl im Schatten eines Erkers. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Die Spinnweben an dem Holz des Stuhls deuteten darauf hin, dass das schon eine ganze Weile zurücklag.

Mit einem Satz war er bei den zerbrochenen Holzresten und schnappte sich das Stuhlbein. Abwehrend hob er es in die Höhe, um Pratt auf Distanz zu halten.

»Kleiner, du hast keine Ahnung von einem echten Kampf, was?« Mit einer Handbewegung wollte er Randy das Stuhlbein aus der Hand schmettern.

Doch er wich aus, holte aus und schlug seinem Angreifer auf die Hand mit dem Schlagring. Aufstöhnend taumelte Pratt zurück und riss sich die Waffe herunter. »Das hättest du nicht tun sollen.«

Thompkins tauchte unter einem zweiten Hieb weg, schlug Randy das Stuhlbein aus der Hand und holte aus.

Der Schlag traf Randy frontal in den Magen. Mit einem Mal schien die gesamte Luft pfeifend aus seiner Lunge zu weichen – er klappte zusammen. Er hielt sich den Magen.

»Und jetzt reden wir Klartext.« Thompkins lachte.

Randy wich, mehr im Reflex als aus Kalkül, Thompkins’ Fuß aus, rollte sich zur Seite und kletterte auf den Steinaltar. Von hier oben konnte er zumindest ordentlich Tritte verteilen.

Sein Gegner stoppte den Angriff und betrachtete ihn nachdenklich. Schließlich zuckte er die Schultern. »Prinzipiell kann die Nachricht natürlich auch anders aussehen – endgültiger.« Er griff nach einer der antiken Vasen und warf sie. »Fang!«

Im Reflex riss Randy die Hände in die Höhe. Die Vase war überraschend schwer und die Wucht des Aufpralls ließ ihn zurücktaumeln. Plötzlich war hinter ihm das dünne Buntglasfenster. Er krachte direkt an jene Stelle, an der ein überdimensionaler Engel in einem gleißenden Licht aus dem Himmel herabstieg.

Glas zersplitterte. Randy ließ die Vase los und ruderte mit den Armen. Überall um ihn herum waren Scherben in der Luft, blaue, rote und gelbe. Irgendwo schrie jemand seinen Namen.

»Ich denke, wir sind hier fertig«, sagte Thompkins.

Dann war da nur noch Himmel über ihm.

Randy fiel in die Tiefe.

*

Danielle saß zitternd in der Eingangshalle und wartete darauf, dass irgendetwas geschah. Immerhin, es war ein gutes Zeichen, dass Thompkins nicht schon zurückgekehrt war. Möglicherweise hatte Randy tatsächlich entkommen können.

»Wir sind hier fertig«, erklang Thompkins’ Stimme vom oberen Absatz der Treppe. Schnell kam er heruntergeeilt. »Los, wir verschwinden.«

»Was ist mit Randy?!« Danielle erkannte entsetzt, dass die Haut an der rechten Hand des Kerls aufgeplatzt war. Blut quoll hervor.

»Sagen wir einfach, dass dein kleiner Freund uns keine Scherereien mehr macht.«

Schon eilte er aus dem Haus, seinen Speichellecker im Schlepptau. Vermutlich warteten die anderen vor dem Gebäude.

Als sie alleine war, handelte Danielle. Dieser eine Dilettant hatte sie auf den Stuhl gefesselt, von richtigen Knoten aber keine Ahnung.

Mit neun Jahren war sie zum ersten Mal mit ihren Eltern und ihrem Bruder auf der Yacht der Familie unterwegs gewesen. Mit elf konnte sie jeden Knoten knüpfen, den die Maats in ihrem Repertoire hatten.

Immer wieder zitterten ihre Finger. Es war nicht so leicht wie anfangs gedacht, den Knoten der Fesseln zu lösen. Ihre Haut war längst wundgescheuert. Noch nie zuvor war es Danielle so schwer gefallen, sich zu konzentrieren. Was hatte Thompkins mit Randy angestellt?

Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Wuschelkopf tot in einem der Räume liegen. Ohne dass sie es verhindern konnte, löste sich eine Träne aus ihrem rechten Auge. Sie verfluchte sich selbst für diese Gefühlsduselei.

Typisch Frau, hätte ihr Dad jetzt gesagt.

Endlich konnte sie den Knoten lösen.

Sie sprang erleichtert auf und rannte die Treppen empor. Wo war Randy? An der Standuhr angekommen, sah sie sich um. Entsetzt blieb ihr Blick am Durchgang zu einem angrenzenden Raum hängen. Sie sah Blutsprenkel am Boden, zerbrochenes Holz.

Langsam betrat sie den Raum.

Bunte Scherben lagen auf einem steinernen Altar verstreut. Dazwischen die Reste einer Vase, gerade noch als solche erkennbar.

Und dahinter …

»Oh, nein!«

Ein riesiges Loch prangte im Fenster. Danielles Körper setzte sich wie von Geisterhand in Bewegung, obwohl sie sich am liebsten in einer Ecke des Raumes zusammengekauert hätte. Sie wollte nicht sehen, was sie gleich sehen würde.

Sie spähte hinab.

Und sah Randy.

Und eine Menge Blut.

*

»Nicht zum Haupteingang«, sagte Mason. »Lass uns sicherheitshalber hinter dem Haus parken. Dann schleichen wir uns an und schauen erst einmal, was vor sich geht.«

Olivia nickte. Sie versuchte noch immer, den Anschein zu wahren, dass nichts sie aus der Ruhe bringen konnte. Doch wer immer Pratt Thompkins auch war, das Zusammentreffen mit ihm hatte das toughe Mädchen aus der Bahn geworfen. Das wiederum machte Mason mehr Angst als die Tatsache, dass der Dealer sich vermutlich im Tarnowski-Haus befand. Er warf das Pad auf den Rücksitz.

Olivia fuhr mit dem Auto direkt vor den Hintereingang des Gebäudes. Einen Augenblick lang ließ sie die Hände noch am Lenkrad und atmete tief durch.

»Packen wir es an«, sagte sie.

In diesem Moment krachte etwas Schweres direkt auf das Wagendach. Das Geräusch und die Delle im Dach kamen so abrupt, dass Mason aufschrie.

Sie handelten gleichzeitig, sprangen aus dem Wagen.

Mason blieb wie angewurzelt stehen, als er erkannte, was – oder genauer: wer – da auf das Autodach geknallt war. Ein heißer Schreck fuhr ihm in die Eingeweide. »Randy!«

Sein Freund lag verkrümmt da. In seinen Haaren steckten winzige Buntglassplitter, die Jeans war an einigen Stellen aufgerissen. Er hatte mehrere Schnittwunden im Gesicht, die heftig bluteten.

Randy stöhnte.

»Alter, was ist passiert?!«, fragte Mason. Er stieg auf die Motorhaube und kletterte auf das Dach. »Hey, Randy! Mach keinen Scheiß.« Da war Blut. Und Glas. Und Randys Haut war bleich.

Olivia kam über den Kofferraum mit einem medizinischen Notfallkit in den Händen. »Okay, bleib ganz ruhig liegen«, sagte sie. Routiniert tastete sie ihn ab. Danielle stand im Fensterrahmen, schaute durch das zerbrochene Fenster zu ihnen herab, die Hand vor den Mund geschlagen. Ihre Augen waren schreckgeweitet.

»Wir müssen einen Krankenwagen rufen«, sagte Mason. Sein Blick wanderte in die Höhe. Hinter dem zerbrochenen Fenster tauchte Danielle auf.

»Vergiss es«, erwiderte Olivia. »Bis die hier sind, schaffen wir es zehnmal zum Krankenhaus. Außerdem hat mein Dad mich dazu gezwungen, drei Erste-Hilfe-Kurse zu belegen, bevor er mir ein Auto erlaubt hat.«

Mason beobachtete, wie sie Randy weiter untersuchte. Er fühlte sich so machtlos. »Kann ich irgendwie helfen?«

Olivia schüttelte den Kopf.

Schritte erklangen.

Als Mason sich umwandte, stürzte gerade Danielle um die Ecke. »Dieser miese Scheißkerl«, fluchte sie. »Das war Thompkins. Er und seine Leute sind hier aufgetaucht.«

Mason konnte es noch immer nicht begreifen. »Aber warum? Nur wegen der Steinbruch-Sache?«

Danielle hatte nur Augen für Randy. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Arme zitterten unkontrolliert. »Später. Sag mir zuerst, was mit ihm los ist.«

Olivia schaute auf. »So weit ich das beurteilen kann, hat er keine schwerwiegenden Verletzungen abbekommen, aber ich bin kein Arzt.« Gerade desinfizierte sie die Schnittwunden und sprühte ein Pflaster auf.

Ächzend kam Randy in die Höhe. »Geht schon.«

Mason half ihm vom Autodach. Der Freund humpelte ein wenig, hielt sich den Magen und sah aus, als habe ihn jemand in eine Waschmaschine gestopft und den Schleudergang angeschaltet.

 

Mason warf einen Blick auf Olivias Auto. Die Delle im Wagendach war ordentlich und ein sich verästelnder Riss lief über die Windschutzscheibe. Damit würden sie nicht weit kommen.

»Wie kommen wir jetzt zum Doc?«, fragte Mason.

»Ich erledige das«, sagte Danielle. »Allerdings bräuchte ich ein Handy. Pratt hat meines zertreten.«

Mason reichte ihr seines.

Er stützte Randy ab, konnte nicht hören, was Danielle in den Hörer sprach. Sie war extra ein paar Schritte davongegangen. Aber es klang nicht so, als ob sie den Notarzt oder einen Krankenwagen rief.

»Wir werden abgeholt«, sagte sie schließlich. »Und keine Angst, dieser Fahrer ist deutlich schneller hier, als ein Krankenwagen.«

Mason und Danielle stützten Randy, nahmen ihn in die Mitte. Olivia schloss das Auto ab und folgte. Gemeinsam gingen – oder in Randys Fall: humpelten – sie zur Straße vor.

Irgendwann tauchte eine schwarz glänzende Limousine auf. Mason starrte mit offenem Mund zu Danielle, die fast ein wenig verlegen wirkte.

Olivia war sichtlich unwohl, als ihnen ein Fahrer in schwarzer Uniform mit einer Schirmmütze auf dem Kopf die Tür aufhielt.

Danielle stieg als Letzte ein. »Bringen Sie uns zu Doktor Silverman, George.«

Sanft wurde die Tür geschlossen.

Die Limousine setzte sich in Bewegung.

*

Vom Moment seines Sturzes an verwandelte sich der Tag für Randy in eine Abfolge aus Schmerz, Gesichtern, die sich besorgt über ihn beugten, und Getuschel, das gerade noch im Bereich des Hörbaren lag.

Der letzte klare Gedanke war der Fall aus dem Fenster und die Visage von Pratt Thompkins, die aus seinem Gesichtsfeld verschwand, während er fiel. Dann war da Olivia, die ihn abtastete, Mason, der ihm vom Autodach half.

Eine schwarze Limousine kam herbeigerollt.

An diesem Punkt fragte sich Randy, ob er all das nur träumte. War er tatsächlich aus dem Fenster eines alten Herrenhauses gefallen, direkt auf das Auto von Olivia, einem Mädchen, das er erst vor wenigen Stunden kennengelernt hatte?

Die Sitzkissen in der Limousine fühlten sich auf jeden Fall echt an und weich. Er lehnte sich zurück. Olivia begann damit, ihm Glassplitter aus dem Haar zu zupfen.

Das beständige monotone Geräusch der Fahrt ließ ihn wegdösen. Zwar sagte Olivia irgendetwas davon, dass er nicht einschlafen durfte, doch das war ihm herzlich egal.

Als er die Augen wieder öffnete, lag er auf einer Behandlungspritsche. Ein älterer Mann mit grau meliertem Haar schaute zu ihm herab und hielt ein kleines Lämpchen vor seine Augen; bewegte es hin und her.

Mason stand mit den beiden Mädchen daneben. Besorgt starrten sie zu ihm hinab, als wäre er dem Tod geweiht.

»Er hat einen Schock«, sagte der Mann. Erst jetzt bemerkte Randy, dass der einen weißen Kittel trug. »Glücklicherweise keine Gehirnerschütterung.« Eine Schwester trat ein und reichte ihm zwei Röntgenbilder und eine MRT-Aufnahme. Randy erkannte beide Dokumente, hatte in wissenschaftlichen Zeitungen sogar schon einmal nachgelesen, wie die jeweiligen Geräte funktionierten. »Keine inneren Verletzungen oder Brüche«, sagte der Arzt, nachdem er die Unterlagen genauestens studiert hatte. »Ich verarzte die Schnitte und gebe ihm ein Beruhigungsmittel. Morgen ist er wieder auf den Beinen.«

»Danke, Doktor Silverman«, sagte Danielle erleichtert.

»Dank mir nicht, kleine Lady. Was auch immer hier vorgefallen ist, deine Eltern werden spätestens dann davon erfahren, wenn ich ihnen die Rechnung präsentiere«, erwiderte der Arzt. »Und wie ich deinen Vater kenne, ist er darüber nicht erbaut.« Fast wirkte der Mann schuldbewusst, als er auf Danielles Dad zu sprechen kam. »Sag es ihm besser selbst.«

»Klar.«

»Können wir ihn dann mitnehmen?«, fragte Mason hoffnungsvoll.

»Du bist der Collister-Junge, nicht wahr?« Das eben noch freundliche Gesicht von Doktor Silverman verschloss sich. »Nur damit wir uns verstehen: Wenn du Danielle in irgendeines deiner Drogengeschäfte mit hineinziehst, werde ich andere Seiten aufziehen. Gerade du mit deiner Kondition solltest die Finger von so etwas lassen.«

Rote Flecken bildeten sich auf Masons Gesicht. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er wütend wurde.

»Er hat nicht mit Drogen gedealt«, warf Danielle schnell ein. »Mal ehrlich Doc, er war Sportler.«

»Gerade die sind für so etwas anfällig. Aber das ist sowieso nicht meine Sache.« Er warf einen Blick in eine altmodische Papierakte. Randy war beruhigt. Er hatte kein Interesse daran, dass seine Krankenakte digital gespeichert wurde und durch irgendeine Sicherheitslücke früher oder später in den falschen Händen landete. »Da, unser Mister Steinbeck hier … ist das ein deutscher Name?«

Randy nickte. »Mein Vater war Deutscher«, sagte er mit kratziger Stimme. »Meine Mum kommt aus New York. Aber sie sind beide bei einem Unfall gestorben, als ich noch klein war. Seitdem lebe ich bei meiner Tante hier in Barrington Cove.«

»Ich verstehe.« Silverman räusperte sich. »Also, junger Mann. Ich entlasse dich in die Obhut deiner Freunde. Allerdings bist du noch minderjährig, daher werde ich deine Tante ebenso informieren wie die Eltern von Danielle.« Sein Blick wanderte zu Olivia. »Ich nehme an, dass ich mir das bei dir sparen kann. So etwas wie hier gehört bei euch vermutlich zur Tagesordnung.«

Olivia schien von der plötzlichen Feindseligkeit nicht überrascht. Sie wandte sich einfach ab und ging. Im Vorbeigehen griff sie Mason am Arm und zog ihn mit sich.

Danielle wollte etwas erwidern, schrumpfte jedoch unter dem durchdringenden Blick des Arztes zusammen. Sie kam zur Behandlungsliege, half Randy auf. Gemeinsam gingen sie zur Rezeption, wo eine Arzthelferin ihm eine einzelne verblisterte Tablette in die Hand drückte.

Wieder stiegen sie in die Limousine.

»Wohin?«, fragte der Fahrer.

»Wir bringen dich heim, okay?«, fragte Danielle. Sie warf einen kurzen Blick zu Olivia, als wolle sie etwas sagen, schaute dann aber schnell zu Boden.

»Klar. Meine Tante ist bis morgen Mittag auf einer Fortbildung, da wird dieser Idiot von Arzt sie sowieso nicht erreichen.«

»Alter, du pennst heute Nacht sicher nicht alleine!«, sagte Mason nachdrücklich. »Am Ende passiert dir noch was, weil dieser alte Sack was übersehen hat. Bringst du uns einfach zu mir, Danielle? Pinewood Oaks, Carrington Street 2b.«

Der Fahrer nickte und ließ die Zwischenscheibe nach oben gleiten.

»Tut mir leid, Olivia«, sagte Danielle, nachdem einige Sekunden lang peinliches Schweigen geherrscht hatte. »Doktor Silverman hat ein paar ziemlich … klare Vorstellungen von arm und reich.«

»Das ist nichts Neues für mich.«

Mit einem Mal fühlte Randy die Kluft förmlich, die sich zwischen ihnen auftat. Da war die arme Olivia, die sich seit ihrer Kindheit in den Favelas durchschlagen musste. Ständig wurde sie mit Stirnrunzeln und Naserümpfen konfrontiert, wenn sie in den besseren Vierteln unterwegs war. Er selbst hatte auch lange Zeit so gedacht.

Mason hatten bisher alle immer für das arme Opfer gehalten, gleichzeitig wurde ständig über seine Epilepsie getuschelt. Nach dem Debakel an der Schule kam jetzt noch die Drogensache hinzu. Lange würde der Freund das nicht mehr aushalten.

Danielle wiederum entstammte genau der Welt, in der die Leute auf Menschen wie Olivia und Mason herabschauten. Geld spielte keine Rolle, man fuhr mit Limousinen umher und hatte einen Arzt auf Abruf bereit, der ohne Fragen behandelte. Die Arztrechnung war natürlich auch kein Problem. Bei dem Gedanken wurde Randy ganz anders. Seine Tante nagte nicht am finanziellen Hungertuch, doch sie war kaum reich. Die Arztrechnung würde ein ordentliches Loch in die Haushaltskasse reißen.

Und wo in dem Ganzen bin ich?

Er war nicht schwarz, nicht weiß, sondern irgendwo im Einheitsgrau der Mitte. Der unsichtbare Nerd. Das Waisenkind aus dem Ausland. Der Nicht-Reiche, Nicht-Arme.