Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

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Alorasul (Hauptstadt von Rental IV), Rental-System, 12. Januar 2266, 16:00 Uhr

Jayden blickte fasziniert auf den Transmitterbogen, der sich vor ihm erhob.

Ein Shuttle hatte ihn auf die Lu-Men-Ta-Rau gebracht, wo Kommandant Lu ihn empfangen hatte. Der Rentalianer war einen Kopf kleiner als Jayden und entsprach damit der normalen Größe eines Rentalianers. Er trug eine rotblaue Uniform, auf deren linker Brustseite das Emblem des Rentalianischen Sternensystems aufgenäht war. In seinem Gürtelholster steckte eine Waffe, die den doppelten Umfang eines terranischen Pulsers besaß.

Lu deutete auf den Transmitterbogen. »Wir werden von hier aus direkt in die Herrscherresidenz wechseln.«

Jayden nickte. Bisher hatte er nur von dieser Technik gehört, sie aber noch nie benutzt. Der Bogen war etwa drei Meter hoch und zwei Meter breit – er ähnelte einer Tür, die mitten auf einem Podest stand. Überall waren Schaltflächen und Panels angebracht, aus denen kleine Antennen hervorragten. Ein Flimmern aus dutzenden Punkten entstand inmitten des Rahmens, verdichtete sich und bildete Sekunden später eine glatte, rötliche Fläche. Auf der anderen Seite standen drei Rentalianer, die Jayden verschwommen ausmachen konnte.

»Gehen Sie voran.« Lu deutete auf den Bogen.

Jayden trat bis dicht vor die Fläche, dann holte er tief Luft und trat hindurch. Es war, als ginge er durch eine Tür, in deren Rahmen ein Wasserfall herabplätscherte. Er spürte das Durchdringen dieser Fläche, mehr auch nicht.

»Kommandant Cross«, grüßte ihn Al-Re-Al. Der Herrscher trug eine graue Tunika. »Willkommen auf Alus.« Er verwendete den Eigennamen von Rental IV. »Es freut mich, Sie hier begrüßen zu dürfen.«

Die Rentalianer mochten keinen Wert auf Höflichkeitsfloskeln legen, doch sie hatten die Sitten und Gebräuche ihrer Gäste zweifellos studiert.

»Ich danke Ihnen, Al-Re-Al.«

»Dies ist mein Berater, So-Li-Se-Ma-Ru-To.« Er deutete auf einen älteren Rentalianer zu seiner Linken, dessen Fell komplett weiß war. »Und dies der Systemkommandant, Ti-Xu-Fa-Te-Ro-Le-Su-Se.«

Jayden nickte beiden freundlich zu und konzentrierte sich darauf, sich »To« und »Se« zu merken. Was gäbe er jetzt für ein fotografisches Gedächtnis. Möglicherweise wäre es doch gar nicht so schlecht, die Kommandochips dahingehend zu erweitern, wie es momentan im Solaren Rat diskutiert wurde. »Ich danke Ihnen, auch wenn die Gründe für mein Hiersein ernster Natur sind.«

»Das dachte ich mir.« Al-Re-Al wandte sich um und lief davon.

Jayden, zuerst ein wenig überrascht, schloss schnell zu ihm auf. »Erklären Sie mir das.«

Der Rudelführer schwieg, bis sie sein Büro erreichten. Der weitläufige Raum an der Spitze des obeliskförmigen Gebäudes war zu allen Seiten hin verglast. Glücklicherweise litt Jayden nicht an Höhenangst. Gerade zog ein Schwarm krokodilartiger Vögel an der Glasfront vorbei.

Jayden sank auf einen Gravstuhl. Zwischen ihm und dem Rudelführer stand ein niedriger Tisch, dessen Fläche aus einem Grafit-ähnlichen Material bestand.

Endlich brach der Herrscher sein Schweigen. »Sie kommen wegen des Artefakts.«

Jayden öffnete verblüfft den Mund. »Das tue ich.«

»Ich fürchte, Sie sind zu spät.«

*

IL HYPERION, Rental-System, Parkposition, 12. Januar 2266, 16:30 Uhr

Es war immer wieder ein erhabenes Gefühl, im Konturensessel des Captains Platz zu nehmen. Noriko loggte sich mit ihrem Kommandoaccount ein und überprüfte die eingegangenen Nachrichten der Stationen. Die Stellarkartografie meldete die Aktualisierung der Daten über das rentalianische System, der Maschinenraum sendete beständig Updates über den Status des Hochenergiespeicherrings, und Commander Akoskin informierte sie über die erfolgreiche Aktivierung der neuen Waffenprotokolle auf Grundlage der von Noriko ausgearbeiteten Verbesserungen. Wegen der Änderungen, die Giulia und sie durchgeführt hatten, steigerte sich die Leistung der Nahbereichsabwehr ob einer geänderten Abfolge in der Algorithmussequenz um fünf Sekunden!

Sie erhob sich und trat an den Rand des Kommandopodestes. Giulia und sie hatten mehrere Tage durchgearbeitet, um die Überarbeitung abzuschließen. Sie nahm einen großen Schluck ViKo und atmete tief durch. Die wenigen Stunden Schlaf in den letzten Tagen waren zu wenig gewesen. Sobald Captain Cross zurückkehrte und sie ablöste, würde sie in ihre Koje fallen und eine gehörige Portion Schlaf nachholen. Vermutlich ging es Giulia genauso.

Die L.I. war eine überraschend gesellige Person, dafür, dass sie zu den Technikern gehörte. Noriko ärgerte sich darüber, dass gerade sie, der man an Bord so übel mitspielte, derart von Vorurteilen geprägt war.

»Multiple Raketenstarts geortet!«, rief Lieutenant Kensington plötzlich. Gleichzeitig hämmerte sie praktisch auf ein Icon ihrer Konsole ein, worauf die Brücke in das rote Licht des Gefechtsalarms getaucht wurde.

Trotz der antrainierten Reflexe ließ Noriko vor Schreck ihren ViKo-Becker fallen, der über das Kommandopodest rollte, sich aber glücklicherweise selbstständig abdichtete.

Sie hechtete zurück in den Konturensessel und rief: »Lieutenant Kensington, ich will wissen, woher diese Raketen kommen! Commander Akoskin, Sie haben mit sofortiger Wirkung Gefechtskontrolle!«

»Aye, Ma’am«, kam es gleichzeitig aus zwei Kehlen.

»Ausgangspunkt der Raketen ist ein rentalianisches Schiff, das soeben aus dem Phasenraum gefallen ist«, erklärte Kensington.

»Direkt im System?!«

Die Ortungsoffizierin überprüfte die Anzeigen, dann nickte sie. »Sie müssen genau gewusst haben, wo sie einen solchen Stunt gefahrlos durchführen können.«

»Das Schiff selbst hat uns längst passiert«, sagte Akoskin, während seine Finger über diverse Icons auf der Waffenkonsole glitten. »Aber sie haben Waffengondeln abgesetzt. Einschlag der Raketen in zwanzig Sekunden. Ziele sind die HYPERION und die uns umgebenden Schiffe der Rentalianer. Auslastung der Abwehr liegt voraussichtlich bei achtzig Prozent. Wir erhielten bereits mehrere Lasertreffer, doch die Schilde halten.«

»Schießen Sie die Gondeln ab!« Noriko ballte die Hände zu Fäusten. Es war überflüssig, Akoskin detailliertere Anweisungen zu erteilen. Der Mann wusste, was er zu tun hatte. Sie zwang sich dazu, schweigend abzuwarten und die Ereignisse auf dem Taktik-Plot zu beobachten.

»Die Gondeln handeln autark, es gibt keine Datenverbindung mehr zu dem Schiff, das sie ausgesetzt hat. Damit ist ihre Rechenkapazität beschränkt und unserer Nahbereichsabwehr unterlegen. Ich setze Schiffs-Pulser und eine geringe Menge an Raketen ein.«

Noriko hätte unbedacht alles an Raketen abgeschossen, was die HYPERION in ihren Arsenalen hatte, doch das wäre natürlich Unsinn gewesen. Die Gondeln des unbekannten rentalianischen Schiffes besaßen keine Verbindung zu ihrem Hauptcomputer. Täuschkörper oder Schiffsechos zu erkennen, war ihnen somit nicht mit gleicher Effektivität möglich, wie es ihnen sonst gelungen wäre.

Die Raketen der HYPERION hingegen konnten auf die Rechenkapazität des Schiffes zurückgreifen und somit Täuschkörper ebenso erkennen wie Sensorechos. Damit waren ihre Möglichkeiten denen der Feinde deutlich überlegen.

»Auf Einschlag vorbereiten.« Die Stimme von Lukas Akoskin klang ruhig und beherrscht.

Das Gefechtssystem hatte jeden Konturensessel auf der Brücke mittlerweile in ein Prallfeld gehüllt und die Spezialgurte aus den Schulterflächen ausgefahren.

Im Holotank konnte Noriko verfolgen, wie ein Schwarm aus Lichtern näherkam und von Antiraketen abgefangen wurde. Das Verteidigungssystem warf dem feindlichen Beschuss Mikrowellen- und Gammastrahlung entgegen, Laserstrahlen zerschnitten die Torpedos und Täuschkörper taten ihr Übriges. Das System wurde damit fertig.

Mit Erschrecken stellte Ishida fest, dass trotzdem eine einzelne gegnerische Rakete den Wall durchdrang und auf Deck drei einschlug.

»Hüllenpanzerung auf Deck drei, Sektion eins perforiert«, sagte Lieutenant McCall, die den Kontakt zur Schadenskontrollabteilung hielt. »Siegelschaum wurde eingeleitet. Nano-Reparatur ist in Gang. Keine Opfer. Die feindlichen Gondeln sind zerstört.«

Noriko atmete auf. »Wie sieht es bei den Rentalianern aus?«

»Alle drei Schiffe sind schwer beschädigt.« Akoskin runzelte überrascht die Stirn. »Sie haben ihrerseits nicht gefeuert, keinerlei Defensivmaßnahmen eingeleitet und ihre Schilde sind unten.«

Noriko deaktivierte Prallfeld und Gurte. »Lieutenant McCall, verbinden Sie mich mit der Lu-Men-Ta-Rau.«

Nach einigen Minuten sagte die Kommunikationsoffizierin: »Ma’am, ich habe Lu in der Leitung.«

Das Bild des Rudelführers erschien. »Hier ist Commander Ishida. Können wir Ihnen helfen?«

»Unser Antrieb ist ausgefallen, die Transmitter versagen«, sagte Lu.

»Können wir Ihnen bei der Evakuierung behilflich sein?«

Lus Ohren zuckten. Ein Ausdruck negativer Gefühle. »Unser Schiff wird bestehen, wenn auch knapp. Doch wir können die Dunkelheit nicht aufhalten. Verfolgen Sie das Schiff und zerstören Sie es.«

Noriko überlief es eiskalt. »Wir sollen eines Ihrer Schiffe zerstören?«

»An Bord befindet sich das Urböse. Es ist zurückgekehrt, um uns heimzusuchen. Halten Sie es auf.«

Bild-Frames begannen sich zu überlagern, dann brach die Verbindung zusammen.

Auf dem Taktik-Plot im Holotank entfernte sich das rentalianische Schiff immer weiter. Der prognostizierte Kurs deutete auf einen der größeren Asteroiden hin, der im Nirgendwo zwischen den Welten schwebte.

 

»Lieutenant Task, setzen Sie einen Verfolgungskurs«, befahl Noriko. »Lieutenant McCall, ich brauche eine Verbindung zu Captain Cross.«

Die HYPERION setzte sich in Bewegung – für Norikos Geschmack jedoch viel zu langsam.

*

Alorasul (Hauptstadt von Rental IV), Rental-System, 12. Januar 2266, 17:30 Uhr

Jayden lauschte gebannt den Worten von Al-Re-Al. Die Übersetzung drang in einwandfreiem Solar aus zwei Mikro-Lautsprechern, die an der Innenwand seiner Gehörgänge klebten. Gleichzeitig filterten sie die Originalklänge, wodurch es für Jayden so wirkte, als spräche der rentalianische Rudelführer Solar.

»Wir wurden völlig überrumpelt.« Al-Re-Al legte die Ohren an. Ein Zeichen für Schwäche, Unterwürfigkeit oder Kraftlosigkeit, wie Jayden mittlerweile wusste. »Ein Team aus Wissenschaftlern fand bei der Ausschachtung eines Asteroiden vor einem halben Zyklus uralte Kavernen.«

Vor sechs Monaten, dachte Jayden. Das war lange bevor wir das Fraktal fanden.

»Darin schwebte ein Würfel. Seine schwarze Oberfläche glänzte im Schein der Bergungsstrahler. Ich selbst sah nur Aufnahmen, doch allein diese wirkten … Grauenerregend. Wir ließen das Artefakt von einem unserer Schiffe abholen. Doch kurz bevor es hier eintraf, beschleunigte das Schiff und wechselte in den Phasenraum.«

Jayden runzelte die Stirn. Sein erster Gedanke war, dass die Besatzung dem Fraktal zum Opfer gefallen war, doch dann hätte das Raumschiff kaum davonfliegen können. Anscheinend wirkte die Strahlung auf die Rentalianer anders als auf Menschen. Oder dieser Würfel besaß generell eine andere Wirkung als sein Pendant auf dem Mars. »Ich nehme an, Sie haben seitdem nichts mehr von diesem Schiff gehört?«

»So ist es.«

Bevor Jayden weiter nachhaken konnte, erklang ein dumpfer Ton im Raum. Auf der Oberfläche von Al-Re-Als Tischplatte erschien eine Meldung.

Jayden konnte sich nicht damit anfreunden, dass die Rentalianer ihre Monitore flach in die Tischplatten integrierten. Das bot nun allerdings den Vorteil, dass er ebenso darauf sehen konnte wie der oberste Rudelführer.

Ein Schreck durchfuhr ihn, als er mehrere wrackgeschossene Raumer entdeckte. Im Hintergrund schwebte die HYPERION.

Ein Berater stürzte herein, beugte sich über den Rudelführer und begann hektisch zu sprechen.

Jayden sprang auf. »Was ist passiert?«

»Nun, Captain«, sagte Al-Re-Al. »Es sieht so aus, als hätten wir unser Schiff soeben wiedergefunden.«

*

»Sir!« Noriko ließ sich ihre Erleichterung nicht anmerken. »Sind Sie über die Ereignisse informiert?«

»Das bin ich. Wie ist der Status der HYPERION?«

»Minimale Schäden«, berichtete Noriko. »Keine Opfer.«

Der Captain lächelte. »Sehr gut. Wir müssen schnell handeln. Das Schiff, das Sie gerade verfolgen, hat vor wenigen Minuten einen Entertrupp über ein Transmittertor auf den Asteroiden geschickt. Sie haben eine Antimateriebombe von dort geholt. Auf dem Schiff befindet sich einer der Würfel!«

»Ich kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Aber offensichtlich ist die Besatzung noch am Leben.«

»Scheinbar wirkt die Strahlung bei ihnen anders. Ich weiß es nicht. Doch was auch immer ihr Ziel ist: Sie dürfen diese Bombe nicht einsetzen. Heften Sie sich an ihre Fersen.«

Noriko überdachte die Optionen. »Sir, bei Unterlichtgeschwindigkeit sind die Rentalianer zu höheren Geschwindigkeiten fähig als wir. Sie werden in den Phasenraum wechseln, bevor wir sie einholen können. Zwar können wir sie auf Interlink theoretisch überholen, doch da wir nicht wissen, wo sie wieder in den Normalraum wollen, wird es schwierig, sie aufzuhalten. Und solange sie im Phasenraum sind, können wir nicht angreifen.«

»Das ist mir bewusst, Commander.« Der Captain machte keinen sehr glücklichen Eindruck. »Ich werde hier am Boden versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Irgendeinen Hinweis muss es geben. Doch bis Sie wieder von mir hören, kleben Sie an dem rentalianischen Schiff wie eine weganische Genfliege. Die Heimatflotte des Systems verteilt sich gerade über die Planeten und Habitate, um die Antimateriebombe aufzuhalten, falls das Schiff sie abfeuert. Damit sind ihre Kräfte allerdings gebunden und die Verfolgung wird problematisch, falls das Fraktal-Schiff das System verlässt.«

»Verstanden, Sir.«

»Gute Jagd. Cross Ende.«

Das Abbild des Captains erlosch.

»Lieutenant Task, Sie haben den Captain gehört«, sagte Noriko. »Heften Sie sich an das Schiff. Und bereiten Sie den Interlink-Flug vor.«

Peter Task nickte und begann Daten in seine Konsole einzugeben. Dabei waren seine Bewegungen langsam und bedächtig. Jedes Mal, wenn Noriko ihm zusah, wurde sie aufgrund seiner Behäbigkeit unruhig. Einmal hatte sie versucht, ein zwangloses Gespräch mit dem Lieutenant zu führen. Nach zehn Minuten hatte sie das Gefühl, sich durch zähen Treibsand zu bewegen. Er war ein sympathischer, aber phlegmatischer Kerl.

»Die rentalianische Raumüberwachung hat uns ein Signatur-Update geschickt«, meldete Lieutenant Tess Kensington. In Art und Auftreten war sie das genaue Gegenteil von Peter Task. Sie strahlte Energie und Elan aus, hatte stets ein etwas spöttisches Lächeln auf den Lippen und sprühte nur so vor Charme. In spätestens fünf Jahren würde sie ein eigenes Kommando übernehmen, da war sich Noriko sicher. »Wir verfolgen laut Datenbank das Schiff 'SE-RA-TA-LA-MU'. Furchtbar, diese Kettennamen. Wie soll man sich das merken?«

»Ich denke, wir tun uns allen einen Gefallen, Lieutenant, wenn wir uns auf 'SE-RA' beschränken.« Noriko hatte zwar kein Problem mit der langen Aussprache – sie hatte Linguistik als Wahlfach an der Akademie belegt –, doch nicht jeder kam damit so gut zurecht.

»Und wieder ein Protokollverstoß«, murmelte Lieutenant Bruce Walker.

Noriko dachte an die Ermahnung von Giulia. Sie hatte vorausgesehen, dass der Offizier versuchen würde, sie zu provozieren. »Wollten Sie eine Meldung machen, Lieutenant Walker?«

»Negativ, Ma’am.« Walker sprach in förmlichem Tonfall, dem keinerlei Emotionen zu entnehmen waren. »Wenn Sie sich dazu entscheiden, das Protokoll aufgrund persönlicher Erfahrungen zu umgehen und das Schiff eines assoziierten Volkes mit einer Bezeichnung zu betiteln, die im Gefecht leicht verwechselt werden kann, werde ich Ihre Entscheidung natürlich nicht kritisieren. Das steht mir als einfachem Lieutenant nicht zu. Trotzdem hoffe ich sehr, dass die HYPERION das Schicksal der INCEPTION nicht teilt, Ma’am.«

Obgleich Noriko damit gerechnet hatte, zuckte sie doch zusammen. Walker hatte ihr eine verbale Ohrfeige verpasst, ohne gegen die Regeln zu verstoßen. In seinen Augen lag ein gehässiges Funkeln, das jedoch nur Noriko bemerkte.

Als sekundärer Taktikoffizier besetzte Walker eine der Konsolen, die sich wie aufgefädelte Perlen an der Wand entlangzogen. Von dort aus bereitete er Daten für Lieutenant Commander Akoskin auf. Als wäre nichts geschehen, gab er weiter Informationen in seine Konsole ein.

Auf der Kommandobrücke war es unweigerlich still geworden. Lieutenant Kensington hatte die Augen weit aufgerissen, Sarah McCall rutschte tiefer in ihren Konturensessel, Peter Task gab sich völlig unbeeindruckt. Nur Akoskin runzelte wütend die Stirn. Zweifellos stand er kurz davor, Walker ordentlich eine zu verpassen.

»Sie haben Ihre Meinung geäußert, Lieutenant. Ich werde Ihre Bedenken im Logbuch notieren«, sagte Noriko. Sie zwang ihre Stimme zur gleichen Neutralität, wie sie auch Walker an den Tag gelegt hatte. »Ich bin sicher, dass jeder Offizier hinter einer Primärkonsole genug Kompetenz besitzt, keine Raumschiffbezeichnungen zu verwechseln. Und sollten die Rentalianer weitere Schiffe entsenden, die aufgrund der komplexen Namensgebung mit einer identischen Bezeichnung beginnen, werden wir auch dieses Problem zweifellos lösen.«

Über Akoskins Lippen huschte ein Lächeln. Und auch die übrigen Offiziere schmunzelten.

»Da haben Sie zweifellos recht.« Walker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Aber es ist auch nicht die Kompetenz meiner Kameraden, die ich hier anzweifle.«

Du verdammtes Arschloch!

Walker verstand es ausgezeichnet, seine Beleidigungen so zu verstecken, dass sie keine Handhabe gegen ihn besaß. Solange er sie nicht direkt beleidigte, würde jede Aktion gegen ihn als kleinlich gelten, was ihren Stand weiter verschlechterte. Nichtsdestotrotz würde sie eine Lösung für dieses Problem finden müssen, sobald ihr aktueller Auftrag erledigt war.

Bevor Noriko sich eine passende Erwiderung zurechtgelegt hatte, blinkte ein Icon auf Kensingtons Konsole auf.

»Das rentalianische Schiff fährt die Phasentriebwerke hoch«, meldete die Ortungsoffizierin. »Bei gleichbleibender Geschwindigkeit kann der Raumer in etwa acht Stunden in den Phasenraum wechseln.«

Walkers Provokationen waren vergessen.

»Lieutenant Task, bereiten Sie den Interlink-Flug vor. Passen Sie Vektor und Geschwindigkeit so an, dass wir hinter dem Schiff bleiben. Lieutenant McCall, halten Sie eine Phasenfunkverbindung nach Asul aufrecht, solange wir uns noch in Reichweite der Relais-Kette befinden.«

Auf das mehrstimmige »Aye, Ma’am« hin vertiefte Noriko sich in die Anzeige auf ihrer Kommandokonsole. Wohin flogen die Rentalianer mit dem Artefakt und der Bombe?

*

Alorasul (Hauptstadt von Rental IV), Rental-System, 12. Januar 2266, 19:30 Uhr

Sein zweiter Transmitterdurchgang in wenigen Stunden. Jayden blickte beeindruckt auf den Bogen, zwischen dem die Energie waberte. Während es im heimatlichen Sonnensystem Stunden dauerte, mit einem Shuttle zu einer der Raumstationen zu fliegen, dauerte es hier nur einige Sekunden, derartige Entfernungen zurückzulegen.

Lu stand direkt neben ihm, nur wenige Schritte vom Bogen entfernt. Hinter der durchsichtigen Fläche erkannte er mehrere Rentalianer in einem fahl beleuchteten Stollen auf dem Asteroiden.

Lu ging voran. Jayden folgte dichtauf. Ein kurzes Kribbeln überlief seinen Körper, dann stand er in dem unterirdischen Gang. Die Wände bestanden aus porösem weißen Gestein, das von Rissen und Schächten durchzogen wurde. Als er die Hand ausstreckte, um den Stein zu berühren, flammte ein gelblich schimmerndes Prallfeld auf.

»Wir haben die Schächte damit versiegelt und mit Atmosphären-Patronen für atembare Luft gesorgt«, sagte Lu. »So müssen wir nicht immer in Weltraumanzüge steigen, um den Raum aufzusuchen.«

Skeptisch ließ Jayden das Prallfeld erneut aufflammen. Obwohl auch in der Solaren Union immer mehr auf Kraftfelder und energetische Schutzmechanismen zurückgegriffen wurde, stand er dem Einsatz dieser Technik mit gemischten Gefühlen gegenüber. Ein Ausfall der Energie führte unweigerlich zu einem schmerzhaften Tod oder – wie auf dem Mars geschehen – einem unkalkulierbaren Risiko.

Lu ging tiefer in den Stollen und Jayden folgte ihm. Nach wenigen Metern erreichten sie eine kleine Kaverne, in der vier Rentalianer aufgeregt die Wand beäugten, mit Scannern darüberfuhren und hektisch miteinander tuschelten.

Jayden beobachtete sie nur kurz, dann wurde seine Aufmerksamkeit von der Wand in Anspruch genommen. Genauer: von den Zeichnungen und Symbolen, die in den Stein eingraviert worden waren.

»Wir konnten die Schrift bisher nicht entziffern.« Lu trat näher heran. Einen Schritt vor der Wand blieb er stehen. »Unsere Wissenschaftler arbeiten daran, die Übersetzungsdatei zu vervollständigen. Das ist jedoch nicht so leicht. Es scheint, als ob jedes der Symbole für ein komplettes Wort steht, nicht für einen Buchstaben. Das macht es deutlich schwerer.«

»Es ist eine Warnung«, flüsterte Jayden.

Die Rentalianer um ihn herum verstummten. Mit vor Verblüffung wackelnden Ohren blickten sie ihn an.

Jayden begriff selbst nicht, was gerade geschah. Die Worte an der Wand waberten, zerflossen und setzten sich in leicht verständlichem Solar wieder zusammen. Was geschah hier? Ihm wurde schwindelig und heiß. Das Atmen fiel ihm merkwürdig schwer. So ähnlich hatte er sich nach dem Erwachen auf dem Mars gefühlt.

»Sie können die Schrift lesen?« Lu war einen Schritt von ihm zurückgewichen. »Wie ist das möglich, Cross? Was steht dort?«

Jayden hatte so eine Ahnung, warum er die Symbole plötzlich entziffern konnte, doch das war jetzt bedeutungslos. Er streckte seine Arme aus und berührte ein von Strahlen umgebenes Halbrund. Der Stollen wurde in gleißendes Licht getaucht. Inmitten des Raumes erschienen schwebende Punkte, leuchtende Sonnensphären und Asteroiden. Er hatte eine Holosphäre aktiviert.

 

Die Rentalianer jaulten überrascht auf. Jayden war nicht minder verblüfft. Was immer hier vor sich ging: Er konnte nicht sagen, was er eigentlich tat. Er deutete auf einen spezifischen Stern, worauf ein Planetensystem herangezoomt wurde. In Jayden flammte das brennende Verlangen auf, den Stern aufzusuchen. Was war nur los mit ihm? Er wollte dorthin, wollte mit einem Schiff in dieses System fliegen, wollte den Stern … zerstören.

Krampfhaft schüttelte er den Kopf, schloss die Augen und taumelte zurück in den Gang. Er musste weg, dieser Suggestion entkommen.

Erst als die Kaverne hinter ihm lag, öffnete er die Augen. So schnell er konnte, rannte er zum Transmitterbogen, der noch immer in Betrieb war. Er hielt erst inne, als er wieder auf Asul stand.

»Was ist mit Ihnen?!« Lus aufgeregte Stimme holte ihn zurück in die Realität. Der Rentalianer trat gerade durch den Transmitterbogen. »Soll ich einen Heiler herbeiholen?«

Jayden riss sich zusammen. »Danke, aber nicht nötig. Es geht schon wieder.« Er richtete sich wieder auf. »Ich weiß, wohin Ihr Schiff fliegt.«

Lu legte den Kopf schief und die Ohren an. Sein Fell stellte sich auf.

»Kommen Sie, ich berichte Ihnen auf dem Weg. Wir müssen zum Großen Rudelführer. Und ich brauche sofort eine Phasenfunkverbindung in die Solare Union. Es gilt, schnell zu handeln.«

*