Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

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IL HYPERION, Alzir-System, 24. Januar 2266, 13:00 Uhr

Jayden erhöhte den Widerstandswert mit seinem mobilen Controller, worauf die Schwerkraft im Bereich des Laufbands auf 1,5 G angehoben wurde. Noch 15 Minuten und er hatte sein heutiges Pensum erfüllt. Dann konnte er der nächsten medizinischen Bewertung durch Doktor Petrova – die in einer Woche anstand – lächelnd entgegenblicken.

Die weitläufige Halle war übersät von Offizieren, die auf Laufbändern unterwegs waren, Elektrosuits zum gezielten Muskelaufbau trugen oder in Zweiergruppen ihre Nahkampftechniken verbesserten.

Jemand direkt neben ihm hustete vernehmlich. »Sir?«

Erst jetzt bemerkte Jayden Sarah McCall, die ein mobiles Pad fest umklammert hielt. »Lieutenant.« Er lächelte ihr zu. »Was gibt es? Sollten Sie nicht auf der Kommandobrücke sein, die Übergabe abschließen und sich ins nächste Shuttle Richtung Pearl setzen?«

Auf den Wangen der Kommunikationsoffizierin bildete sich ein zarter Rotton. »Lieutenant Erin Samura hat kurzfristig für mich übernommen«, sagte sie mit einer Spur schlechten Gewissens, die sich in ihrem Gesicht abzeichnete. »Ich wollte das hier nicht über Funk besprechen. Es geht um eine Angelegenheit, die eine Menge Staub aufwirbeln könnte.«

»Ich höre.« Jayden regelte die Schwerkraft auf Normalniveau herab und stoppte das Band.

Während McCall von dem Sensorecho berichtete, das auf der HYPERION anders als auf NOVA interpretiert worden war, griff Jayden nach einem Handtuch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

»… und bat mich, Sie zu informieren«, schloss McCall.

»Sie wollen mir also sagen, dass Lieutenant Kensington die direkte Order von Commodore Harris ignoriert und obendrein die Sensoraufzeichnung aus einem gesicherten Speicher der Station zu uns überspielt hat?«

»Genau genommen tat sie das mit der Billigung von Commander Buckshaw«, sagte McCall. »Der Transfer ging über seinen Account.«

Nun war Jayden doch mehr als verblüfft. Ausgerechnet der I.O. von NOVA half Tess Kensington? Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit.

»Also schön.« Er schlang sich das Handtuch um den Hals und griff nach dem Pad. »Zeigen Sie her.«

McCall reichte ihm den Bericht und sah ihm schweigend beim Lesen zu.

Sie hatte aus dem Speicher der HYPERION die Sensoraufzeichnung abgerufen, an der Jayden jedoch nichts Auffälliges ausmachen konnte. Es war nur logisch, dass der Algorithmus die Aufnahme als irrelevant eingestuft hatte. Erst als er die Aufzeichnung von NOVA ansah, bemerkte er den Unterschied.

»Duspanit«, sagte er überrascht.

»Exakt, Sir.« Lieutenant McCall nickte eifrig. »Duspanit ist ein Mineral, das nur auf wenigen Welten der Solaren Union zu finden ist – daher sein immens hoher finanzieller Wert. Die Wahrscheinlichkeit, es in einem Meteoriten zu entdecken, liegt fast bei null Prozent.«

»Das ist mir bekannt, Lieutenant. Aber warum wurde das nicht von unserem Algorithmus entdeckt? Und weshalb hat Harris darauf nicht reagiert?«

»Als die Sensoren der HYPERION die Zusammensetzung analysierten, wurde das Ergebnis irgendwie … verfälscht. Während in der ersten Analyse das Duspanit noch zu finden ist, wurde es kurz darauf aus den Sensor-Logs entfernt, und in der Folge hat der Algorithmus das Ergebnis neu bewertet. Ich habe keine Ahnung, wie das geschehen konnte oder warum. Auf der Station hat das System ganz korrekt die Zusammensetzung erfasst und ausgewertet. Daher auch die Information an den Sensoroffizier. Leider hatte Lieutenant Kensington nicht die Zeit, sich die Auswertung genauer anzusehen und wurde direkt von der Kommandobrücke komplimentiert.«

»Also gut.« Jayden atmete langsam ein und aus, sein Puls raste noch immer aufgrund der körperlichen Anstrengung. »Übergeben Sie die Daten an Lieutenant Nurakow. Er soll mit den Sensoren der ÜL-Plattformen das gesamte System absuchen! Da wir momentan so unterbesetzt sind, helfen Sie ihm dabei. Finden sie mir diese Signatur. Ich ziehe mich um und komme auf die Kommandobrücke.« Er wandte sich zum Gehen. »Und holen Sie mir Commander Ishida.«

*

Jayden ließ sich in seinen Konturensessel sinken, nippte an seinem ViKo und sagte: »Geben Sie mir einen Bericht, Lieutenant Nurakow.«

»Ich lasse die Signatur von den ÜL-Plattformen suchen, Sir. Bisher ohne Ergebnis.«

Das Schott öffnete sich und seine I.O. trat ein. Mit schwungvollen Schritten kam sie zum Kommandopodest und ließ sich in ihrem Sessel nieder. »Sir, Sie wollten mich sprechen?«

»Bereiten Sie alles für einen Gefechtsalarm vor«, sagte er leise in ihre Richtung. Dabei hielt er ihr das Pad mit der Sensorauswertung entgegen. »Alle Landgänge sind gestrichen. Ich will jedes Crewmitglied zurück an Bord.«

Seine I.O. vertiefte sich in die Anzeige, als Lieutenant Nurakow meldete: »Sir, ich habe etwas.« Sein Gesicht wurde kreidebleich. »Es handelt sich eindeutig um ein Raumschiff.«

»Legen Sie es auf den Tank.«

In einem Wabern manifestierte sich die Aufnahme einer der Außenkameras des Schiffes im Holotank. Lieutenant McCall keuchte erschrocken auf, und sogar Commander Ishida entfuhr ein völlig untypisches: »Scheiße.«

»Mein Gott«, sagte Jayden leise.

Was er sah, hätte wohl niemand auf der Kommandobrücke für möglich gehalten. Nur wenige tausend Kilometer unter der NOVA-Station schwebte ein unbekanntes Raumschiff.

»Das Ding befindet sich innerhalb des Verteidigungsperimeters«, sagte Noriko. »Die können jederzeit die gesamte Station sprengen.«

Jayden nickte fahrig und versuchte seinen erneut rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen. »Lieutenant Nurakow, wie ist das möglich? Und warum bemerkt NOVA den Raumer nicht?«

»Sir, ich verstehe es selbst nicht genau. Das Schiff scheint über ein ausgezeichnetes Stealth-System zur verfügen, wodurch die veralteten Sensoren von NOVA es nicht entdecken konnten. Da die unteren Sektionen aufgrund diverser neuralgischer Systeme speziell ummantelt sind, gibt es dort keinen transparenten Stahl. Es konnte damit auch nicht von einem Beobachter entdeckt werden. Die Aufnahmefelder der Kameras sind gefächert nach außen gerichtet, erwartet man doch von dort den Anflug feindlicher Schiffe. Dadurch befindet sich der Raumer im toten Winkel. Die müssen in Schleichfahrt herangekommen sein – das hat vermutlich Monate gedauert – und haben sich dort unten positioniert. Da sie noch von keinem anderen Schiff entdeckt wurden, können sie vermutlich noch nicht sehr lange dort sein. Wenn wir nicht die neuen Sensoren hätten, könnten wir sie, solange sie im Ruhezustand verbleiben, ebenfalls nicht orten.«

Aber was wollen sie hier, worauf warten sie?, fragte sich Jayden. Und warum hat unser Algorithmus das Ding trotz des Duspanits nicht erkannt? Und warum, zum Teufel, schaut sich niemand auf NOVA … Er verscheuchte die Fragen, jetzt galt es zu handeln.

»Lieutenant McCall«, wandte er sich an seine Kommunikationsoffizierin. »Wenn die innerhalb des Verteidigungsnetzes sind, können die auch den Phasenfunk abhören?«

»Da die Flottenfrequenz permanent wechselt, wäre das unwahrscheinlich, Sir«, sagte sie. »Doch wenn die Unbekannten sich Zugang zum Hauptcomputer von NOVA verschafft haben, können sie eingehende Nachrichten quasi aus dem Phasenfunk-Pool direkt abzapfen. Aber das ist alles Spekulation. Wir wissen nicht, um wen es sich handelt.«

Jayden massierte sich die Schläfen und überdachte sein weiteres Vorgehen. Die Fremden durften auf keinen Fall bemerken, dass sie entdeckt worden waren. Schon die Meldung von Tess Kensington, die die Ortung des Duspanits betraf, konnte als Entdeckung gedeutet werden, wenn Jayden jetzt falsch handelte. Sie durften nicht den Anschein erwecken, als hätten sie das Schiff bemerkt.

»Sir«, sagte Lieutenant Commander Akoskin, während seine Finger über die Taktikkonsole glitten. »Das unbekannte Raumschiff ähnelt in seiner materiellen Zusammensetzung den Parlidenschiffen, die wir kennen. Allerdings passt weder die Tonnage noch die Form. Außerdem haben die Parliden – und ich hoffe sehr, dass sich der Geheimdienst an dieser Stelle nicht irrt – kein derartiges Tarnsystem.«

»Lieutenant McCall, veranlassen Sie, dass ein Shuttle zur Station übersetzt. Harris muss erfahren, was hier vorgeht. Die Nachricht wird nicht per Phasenfunk übermittelt! Danach setzen sie einen Funkspruch an Lieutenant Kensington ab. Sagen Sie ihr, dass ich die Duspanit-Sache für ein Hirngespinst halte – falls die den Funk abhören sollten, dürfte sie das beruhigen.

Lieutenant Nurakow, Sie scannen weiterhin im Generellen das System. Kein Abweichen von der Norm.«

»Sir, wir sollten uns von der Station lösen. Hier bieten wir ein zu leichtes Ziel und können aus diesem Winkel auch keine Waffen einsetzen«, schlug seine I.O. vor. »Falls die sich entscheiden loszuschlagen, könnten wir mit unseren Torpedos NOVA unterstützen.«

Jayden lachte bitter auf. »Wenn Raketen mit Atomsprengköpfen oder Laserclustern in dieser Nähe detonieren, überlebt auf der Station kein Mensch. Außerdem wissen wir noch nicht einmal, was für Waffen die besitzen. Und wenn sie unsere plötzliche Aktivität bemerken, treten wir möglicherweise den Angriff los.« Er dachte kurz nach. »Melden Sie NOVA, dass wir uns der Heimatflotte für deren Übungsmanöver anschließen. So können wir uns vom Landepod lösen und die HYPERION in eine günstigere Position bringen.«

»Wird erledigt. Was werden wir sonst unternehmen?«

»Wir informieren die Systemflotte über die Angelegenheit, benutzen aber gerichteten und verschlüsselten Phasenfunk. Selbst wenn die Funksprüche der Station abgehört werden, wird das wohl kaum bei jedem Schiff der Fall sein. Jetzt ist es ein Glücksfall, dass die meisten Einheiten gerade an dem Manöver teilnehmen oder patrouillieren. Die sollen sich unauffällig zu kleinen Einheiten zusammenfinden und die Station einkreisen. Gleichzeitig schlage ich Harris vor, NOVA langsam zu evakuieren.« Er wandte sich an Lieutenant McCall. »Wie viele Raumschiffe sind an den Landepods angedockt?«

 

»Aktuell zwei Schwere Kreuzer, ein Leichter Kreuzer und zwei Dreadnoughts«, sagte sie. »In der angeschlossenen Werft befinden sich drei Schiffe in der Reparatur.«

»Sir, das sind Tausende von Menschen.« Seine I.O. schüttelte den Kopf. »Die Fremden werden das auf jeden Fall bemerken. Zudem wird es mit Sicherheit eine Panik geben, wenn dort drüben jemand realisiert, was vor sich geht. Vergessen Sie nicht, da sind auch Zivilisten.«

»Wer von unseren Leuten befindet sich gerade auf der Station?«

Ishida rief die notwendigen Daten ab. »Lieutenant Kensington und Alpha 365. Auf dem Planeten sind Doktor Tauser, Doktor Petrova, zehn Offiziere der Schadenskontrolle, sieben Techniker, fünf Sicherheitskräfte, acht Marines und diverse Wissenschaftler.«

»Verdammt! Na schön, holen Sie unsere Leute zurück. Aber unverfänglich. Erst einmal Kensington und den Alpha, dann nach und nach alle vom Planeten.«

»Sir«, meldete sich Lieutenant McCall zu Wort. »Commodore Harris für Sie von der Station.«

Auf seiner Konsole sah Jayden, dass der Kurier die Nachricht bereits abgeliefert hatte und sich auf dem Rückweg befand.

»Wieso meldet er sich über Phasenfunk?«, sagte seine I.O. beunruhigt.

»Stellen Sie durch«, wies Jayden McCall an.

»Was soll denn diese lächerliche Verschwörungstheorie?«, polterte der Commodore los, als sein Konterfei im Holotank erschien. »Zuerst kommt Ihre Miss Kensington damit und jetzt auch Sie, Captain.«

»Sir, hatten Sie Gelegenheit, auf den Kamera-Feed der nächstgelegenen ÜL-Plattformen zuzugreifen?«

Es gab nur eine Plattform, die noch nahe genug an der Station lag, um eine Beobachtung mittels Kamera zu ermöglichen.

»Natürlich! Aber was soll der mir denn sagen?«, fragte der Commodore grimmig, und die Anzeige des Kamera-Feeds erschien neben ihm im Holotank, worauf die NOVA-Station zu sehen war – jedoch ohne den fremden Raumer. »Und dann auch noch dieser idiotische Sensorbericht. Mein I.O. und ich werden ein ernstes Gespräch über die Weitergabe von Stationsinterna führen. Wenn Sie mich einfach kontaktiert hätten, bevor Sie die Hunde scheu machen, hätte ich das aufgeklärt. In diesem System wimmelt es nur so von Duspanit-Asteroiden. Wir empfangen ständig derartige Signaturen. Die ganzen letzten Monate hat es davon nur so gewimmelt.«

Jayden wurde es bei diesen Worten eiskalt, und nahezu jeder auf der Kommandobrücke riss die Augen weit auf. Er wandte sich an McCall. »Lieutenant, wieso sehen wir etwas anderes als der Commodore?« Für einige hoffnungsvolle Augenblicke wünschte er sich, dass es tatsächlich einen Verräter an Bord gab, der sie zum Narren halten wollte und daher das Schiff nachträglich in ihren Kamera-Feed integriert hatte. Er hätte es sogar gerne gesehen, wenn das Ganze sich als irgendeine abstruse Intrige von Admiral Michalew entpuppt hätte.

»Ich weiß es nicht, Sir, aber …«

Sie wurde von Lieutenant Nurakow unterbrochen, der mit überschlagender Stimme rief: »Das Schiff fährt den Antrieb hoch! Ebenso seine Waffensysteme!«

»Lieutenant McCall, kappen Sie die Verbindung zur NOVA-Station!« Das verblüffte Gesicht von Commodore Harris verschwand vom Bildschirm. Seine I.O. handelte blitzschnell und aktivierte den Gefechtsalarm.

»Ich sende eine Warnung an alle Raumschiffe und hänge das Datenpaket mit den Sensorauswertungen und dem Feed an«, sagte McCall, die plötzlich jede Schüchternheit abstreifte. »Die Flotte kann das Schiff dank der hochgefahrenen Systeme ab sofort selbst orten.«

»Taktische Szenarien werden erarbeitet«, warf Akoskin ein.

»Ich bringe die HYPERION in einen ausreichenden Abstand zur Station, damit wir die Schilde aktivieren können«, sagte Lieutenant Task. Erst jetzt realisierte Jayden wieder, dass der Offizier sich auf der Brücke befand.

»Das Schiff aktiviert seine Waffen«, kommentierte Ishida tonlos. »Ich messe starke energetische Strahlung, was auf einen Laser hindeutet.«

»Sir, wir verlieren die Phasenstörer«, sagte Lieutenant Nurakow. Sein braunes Haar hing ihm wirr in die Stirn und einige Schweißtropfen hatten sich gebildet. »Ich lege die Taktik auf den Holotank.«

Jayden fühlte nichts mehr, als er auf der taktischen Anzeige mit ansehen musste, wie die Phasenstörer einer nach dem anderen explodierten. Die kleinen Stationen holten jedes Schiff bereits am Rande des Systems aus dem Phasenraum und verhinderten so einen Einfall fremder Raumer auf diesem Weg.

»Wurden sie abgeschossen?«, fragte Jayden.

»Negativ, Sir«, meldete Nurakow. »Die Stationen haben das Selbstzerstörungssignal von NOVA erhalten; die Raketenforts und Lasercluster deaktivieren sich.«

Der Taktik-Screen verwandelte sich in die reinste Hölle, als allerorts Phasenstörer detonierten und die energetischen Signaturen von Raketenforts und Laserclustern erloschen.

»Die müssen das schon vor Monaten geplant haben«, sagte Ishida tonlos. »Wer immer die auch sind.«

»Ich orte fünfunddreißig Raumer, die im System materialisiert sind«, meldete Nurakow kopfschüttelnd.

»Vektor?«, fragte Jayden.

»Kein Vektor«, erwiderte der Ortungsoffizier verblüfft. »Sie sind im Stillstand erschienen. Ich kann einen minimalen Phasendurchbruch anmessen, aber die Raumer nehmen erst jetzt Fahrt auf. Das war kein Phasenflug, eher eine Transition. Die Raumschiffe teilen sich auf. Ein Teil nimmt Kurs auf NOVA, ein anderer Teil auf die größte Konzentration der Systemflotte.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ein dritter Pulk fliegt den Planeten an.«

Jayden schloss für einige Sekunden die Augen.

Wie aus weiter Ferne hörte er Commander Ishida sagen: »Der Raumer unter der Station eröffnet das Feuer.«

*

NOVA-Station, Alzir-System, kurz zuvor

Tess massierte sich die Schläfen, während sie ein letztes Mal ihre Eingaben überprüfte. Wenn dieser dämliche Harris sie auf die Kommandobrücke gelassen hätte, wäre alles viel einfacher gewesen.

»Na, kommen Sie weiter?« Commander Jeff Prikster – der L.I. von NOVA-Station – klopfte ihr ermunternd auf die Schulter.

»Nicht wirklich«, gab Tess zu. »Ich verstehe das nicht. Diese beiden Logs passen nicht zusammen.« Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf die Konsole.

»Na, na, na.« Prikster zog den ViKo-Becher weg, den er ihr gerade hingehalten hatte. Ein dichter Vollbart verbarg sein Gesicht, doch um seine Augen bildeten sich Lachfalten. »Vielleicht nehmen Sie sich lieber einige Stunden frei und entspannen. Waren Sie schon auf Pearl?«

»Noch nicht«, sagte Tess müde.

»Na, dann wird es Zeit.« Er lächelte ihr kurz zu und wandte sich ab.

Tess gab es auf. Vielleicht hatte Prikster recht. Ihr Handkommunikator gab ein leises Summen von sich. Wie jeder Offizier trug sie auf ihrem linken Handrücken eine viereckige Display-Folie. In ihr waren hauchdünne Mikro-Schaltkreise integriert – ein persönlicher Hand-Computer.

Sie berührte das Signal-Icon, worauf die Stimme von Commander Ishida erklang. »Lieutenant Kensington, bitte begeben Sie sich auf dem schnellsten Weg zurück zur HYPERION.«

»Natürlich, Ma’am«, erwiderte Tess. »Ich gebe dem L.I. nur noch meinen Bericht zu den neuen Kom …«

»Negativ«, unterbrach die I.O. »Begeben Sie sich direkt zum Shuttle. Alpha 365 wird sich Ihnen anschließen. Sobald Sie beide an Bord sind, fliegen Sie ab. Ishida, Ende.«

Tess wunderte sich über die forsche Art der I.O., was so gar nicht zu ihr passen wollte. Andererseits war es durchaus möglich, dass McCall die Daten mittlerweile weitergeleitet hatte und Cross ihren weiteren Einsatz auf NOVA nur ungern sah.

Sie wandte sich gerade dem L.I. zu, als der Boden unter ihr zu zittern begann. Die Leuchtflächen an der Wand pulsierten blutrot – der Gefechtsalarm war aktiviert worden – und die Hölle brach los. Eine Druckwelle erfasste Tess und schleuderte sie quer durch den Raum. Konsolen explodierten, Schreie erklangen, Warnsirenen heulten. Noch benommen von dem harten Aufprall registrierte sie das Geräusch berstenden Metalls. Die Luft entwich explosionsartig und riss Männer und Frauen mit sich in die Leere des Alls.

*

Alpha 365 schritt gedankenverloren um die Gangbiegung. Die Textnachricht des Sicherheitschefs der Station, der ihn darin in sein Büro bat, hatte ihn aus einem Gespräch mit Lieutenant Bruce Walker gerissen. Das war ärgerlich, hatte er doch zunehmend das Gefühl, dass sich der Offizier ihm öffnete. Irgendetwas Wichtiges wollte Walker ihm mitteilen, das sagten ihm seine Instinkte – und die waren immerhin auf äußerste Perfektion designt worden, speisten sich aus den Wahrnehmungen seines Unterbewusstseins. Doch noch schien den Lieutenant etwas zurückzuhalten.

Das Schott zum Sicherheitsbüro öffnete sich.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Alpha Sicherheitschef Paolino.

»Wie bitte?«

»Sie wollten mich sprechen.«

Paolino schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Wie kommen Sie darauf?«

Alpha 365 begriff, und handelte im nahezu gleichen Augenblick mit der typischen Präzision eines genetisch designten Sicherheitschefs. Er warf sich herum und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Im Laufen zog er seinen Pulser, den er dank eines genehmigten Sonderantrags auch als externer Sicherheitsoffizier auf der Station tragen durfte.

Als er den Trakt mit den Arrestzellen erreichte, lag der Lieutenant, der die Monitore im Auge behalten sollte, tot über seiner Konsole. Alpha 365 hastete in den Gang zu Walkers Korridor, und während er rannte, kamen ihm all die versteckten Andeutungen in den Sinn, die dieser gemacht hatte. Er hatte gewusst, dass jemand versuchen würde, ihn umzubringen, da war sich Alpha 365 sicher.

Endlich erreichte er den Vorraum zur Arrestzelle. Die beiden Wachen lagen tot am Boden, das Schott stand offen. Mit einem Sprung hechtete er in den Raum, rollte sich ab und kam auf die Beine. Zwei energetisch geladene Partikelschüsse trafen auf jene Stelle, an der er in den Raum gesprungen war. Alpha 365 erfasste die Situation, noch während er zielte. Walker kniete in seiner Zelle, die Arme erhoben. Vor ihm stand eine hochgewachsene Frau mit schwarzem Haar, die eine Uniform der Space Navy trug. Zielsicher jagte er ihr zwei Betäubungsschüsse in die Brust, worauf sie die Augen verdrehte und zu Boden sank.

»Ich habe Ihre Feinde wohl unterschätzt«, sagte Alpha 365 an Walker gewandt, während er sich aufrichtete und den Pulser wegsteckte.

»Das haben Sie.«

»Dieser Fehler wird sich nicht wiederholen.«

»Wir werden sehen.« Walker starrte auf die Frau. »Ich denke, ich sollte Ihnen etwas sagen.« Er lächelte bitter. »Vermutlich macht es keinen Unterschied mehr.«

Alpha 365 schwieg und wartete.

»Sie müssen wissen, dass ich bei meiner Aussage bleibe: Ich habe den Torpedo nicht manipuliert! Aber darum geht es auch nicht. Dieser Kleinkrieg zwischen Ishida und Michalew …« Erneut schüttelte er den Kopf. »Sie haben einen Denkfehler gemacht, genau wie die I.O.« Walker schwieg und sammelte sich.

Alpha 365 legte seinen Kopf schief. »Sprechen Sie«, forderte er sein Gegenüber auf.

Plötzlich bebte der Boden, das Licht fiel aus und eine Hand schloss sich um seinen Fußknöchel.

*

Endlich sonderten die Bruchstellen ausreichend Siegelschaum ab, der die Risse verschloss. Tess hatte sich an einer der Wissenschaftsstationen festgekrallt, was sie vor einem eisigen Tod im Weltraum gerettet hatte. Anderen war nicht so viel Glück vergönnt gewesen. Commander Prikster schwebte nun irgendwo in der Dunkelheit des Alls, zusammen mit der Mehrheit seiner Techniker. Eine junge Frau mit braunem Haar kauerte wimmernd unter einem umgestürzten Maschinenblock; ein Ingenieur hielt sich die Seite, in der ein gezacktes Schrapnell steckte; ein Antriebstechniker saß am Boden und kicherte.

Während das Lebenserhaltungssystem seine Arbeit fortsetzte und Sauerstoff in den Maschinenraum pumpte, hastete Tess zu einem der Schränke und zog einen Skinsuit hervor, in den sie hastig schlüpfte.

 

Mit einem unnatürlichen Quietschen fuhr das Schott in die Wand und eine Gruppe Paramedics stürmte herein. Sie trugen ebenfalls allesamt Raumanzüge und kümmerten sich um die Verletzten. Erneut kam es zu einem Beben, doch die Stationsstruktur blieb intakt – einstweilen.

Sie ergriff einen vorbeieilenden Paramedic am Arm. »Was ist passiert? Wer hat uns angegriffen?«

»Keine Ahnung.« Mit fliegenden Fingern zog der Schwarzhaarige einen Injektor hervor, dessen Inhalt er dem kichernden Mann am Boden verabreichte, der daraufhin erschlaffte. »Die Kommunikation zur Kommandobrücke ist unterbrochen, wir haben alle Landepods verloren, und das Verteidigungsnetz scheint nicht zu funktionieren.«

Tess hatte genug gehört. Sie ließ die Paramedics ihre Arbeit machen und hastete zur Kommandobrücke. Auf dem Weg begegnete sie geschockten wie verwundeten Offizieren und stieß auf drei Tote, die von umherfliegenden Schrapnells durchsiebt worden waren. An einigen Wänden klebte Siegelschaum.

Am Schott zur Kommandobrücke war bereits ein Techniker am Werk. »Es hat sich verkeilt«, erklärte er auf ihren fragenden Blick. »Ich versuche, es zu öffnen.«

Das ständige Aufleuchten der Wandpanels machte Tess wahnsinnig, während sie auf das geschlossene Schott starrte. Zev war dort drinnen und womöglich schon nicht mehr am Leben.

Ein weiblicher Paramedic kam keuchend angelaufen. »Wie sieht es aus?«

»Wir verschaffen uns gerade Zugang«, sagte Tess leise.

»Die Zweitbrücke gibt es nicht mehr«, bemerkte die Frau mit kreidebleichem Gesicht. »Wir wurden mit Torpedos und Lasern beschossen. Das Ziel waren beide Kommandobrücken, die primären Verteidigungssysteme und die Landepods mit den angedockten Schiffen.

Einer der Laser hat sich wohl zielsicher durch jede Sektion gebrannt und die Zweitbrücke ausradiert. Die wussten ganz genau, was sie taten.«

»Was ist mit der HYPERION?«, fragte Tess.

»Keine Ahnung.« Die Frau schüttelte den Kopf und fuhr sich fahrig durch die blonden Locken. »Ich glaube, niemand überblickt wirklich, was da draußen vor sich geht. Ein Großteil der Sensoren ist Schrott und das Phasenfunk-Modul sowie das Backup-System sind zerstört.«

»Okay, jetzt müsste es gehen«, sagte der Techniker, während er sich das rußverschmierte Gesicht mit seinem Uniformärmel abwischte. »Laut dem Log gab es einen abrupten Druckabfall, der jedoch gestoppt werden konnte.«

Sie hatten längst alle ihre Raumanzüge geschlossen, daher spielte das keine Rolle, doch Tess war für die Information dankbar.

Mit einem Rumpeln öffnete sich das Schott und Tess betrat den Vorhof zur Hölle. Von Commodore Harris war nicht mehr viel übrig. Sein Körper glich einem matschigen Etwas. Tess wandte entsetzt den Blick ab. Unter zwei zerstörten Konsolen drang ein Stöhnen hervor, worauf die Paramedic sich sofort an die Arbeit machte.

Tess hatte nur Augen für Zev, der es geschafft hatte, in einen Skinsuit zu schlüpfen.

Er lag unter einer umgestürzten Konsole, deren Ränder sich in den Boden gebohrt hatten. Er atmete noch und sein Raumanzug war unbeschädigt. Erleichtert beugte sich Tess zu ihm hinab.

»Wir müssen hier raus«, sagte der Techniker gehetzt. »Ein Torpedo mit radioaktivem Sprengkopf muss in direkter Umgebung explodiert sein. Die Strahlung hat ein kritisches Maß überschritten.«

»Ich krieg ihn hier nicht raus.«

Der Techniker wandte sich bereits ab und rannte davon. Tess überprüfte die Sensoren ihres Anzugs, ein eisiger Schreck fuhr ihr in die Eingeweide. Die radioaktiven Strahlenwerte waren so hoch, dass schon wenige Minuten in diesem Raum den Tod bedeuteten.

Die Paramedic trug gerade den einzigen überlebenden Brückenoffizier hinaus. Sie warf Tess einen Injektor mit einem Strahlenschutzmittel zu. »Mehr kann ich nicht für ihn tun.«

»Nein, das können Sie nicht machen! Wir müssen ihm helfen!« Tess injizierte zuerst Zev, dann sich selbst das Medikament.

»Sie kennen das Protokoll, Lieutenant«, sagte die Paramedic, was sie sichtlich Überwindung kostete. »Wir befinden uns in einer Schlacht. Ich muss mich um jene kümmern, die noch eine Chance haben, denen ich helfen kann.«

Damit wandte sie sich ab und ging.

Zitternd strich Tess über Zevs Brust.

»Geh«, sagte er leise.

»Niemals«, erwiderte sie. »Ich halte mich an den Schwur. Gemeinsam bis zum Ende. Aber dieses Ende ist noch lange nicht gekommen.«

»Einer von uns muss überleben, sonst war alles sinnlos!«, sagte Zev.

»Hören Sie auf, derartige Reden zu schwingen, Commander! Wir sind noch nicht tot!«

Wütend zerrte sie an der Konsole, während die Anzeige der Strahlenwerte kontinuierlich stieg.

*

»Wie ist der Status der Station?«, fragte das Abbild Captain Ivo Coens, Kommandant des Dreadnoughts TÈQUÁN, aus dem Holotank. Der schwarzhaarige Lockenkopf aus dem israelischen Sektor der Erde war mit seinen neunundvierzig Jahren der Leiter des ersten Kampfverbands vom Alzir-System.

»Der erste Raumer hat das Feuer auf die neuralgischen Bereiche von NOVA eröffnet«, sagte Jayden. »Nach der Zerstörung des Maschinenraums, der beiden Kommandobrücken und der Landepods hat er aus dem Stand eine Transition ausgeführt.«

»Sein Ziel war also nicht die vollständige Vernichtung der Station?«

»Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das unwahrscheinlich. Vermutlich wollen die Angreifer NOVA in Besitz nehmen.«

»Was wir auf keinen Fall zulassen können, Captain.« Coen überprüfte einige Daten auf seiner Konsole. »Es ist höchst bedauerlich, dass wir beim Eintreffen des Feindes aufgesplittet waren, um Systemmanöver durchzuführen. Ich fürchte, wir haben uns zu sehr auf die Raketenforts verlassen.

Captain Fengs Verband ist den feindlichen Schiffen, die Kurs auf NOVA halten, am nächsten. Er wird sie bereits vorher erreichen und hoffentlich aufhalten können. Sein Verband ist den Feinden an Tonnage 2:1 überlegen. Leider können wir bisher noch zu wenig über deren Waffen sagen, um daraus eine gewisse Sicherheit abzuleiten. Ich selbst kümmere mich um die Schiffe, die direkten Kurs auf meinen Verband gesetzt haben. Da wir den größten Verband im System darstellen, haben die uns wohl als Hauptziel ausgemacht. Das Tonnage-Verhältnis liegt in unserem Fall relativ gleich.

Leider wird Captain Fitzgerald nicht rechtzeitig eintreffen, um Pearl zu verteidigen. Er und seine drei Begleitschiffe waren unterwegs, um die ÜL-Plattformen zu warten. Glücklicherweise halten nur fünf feindliche Raumer auf den Planeten zu. Da es aber keine Abwehrforts mehr gibt, sind die Bewohner auf Ihren Schutz angewiesen, Captain. Verteidigen Sie die Kolonie, so gut Sie können. Halten Sie die Raumer auf, bis Fitzgerald eintrifft.«

»Das werden wir, Captain. Weiß die Admiralität Bescheid?«

Coen verneinte. »Die Phasenfunk-Relaiskette wurde unterbrochen. Vermutlich haben die Feinde eine der Relais-Stationen vernichtet. Wir sind auf uns gestellt.«

»Ich verstehe.«

»Viel Glück, Captain.«

»Ihnen auch«, sagte Jayden.

Die Verbindung wurde unterbrochen, die Taktikanzeige erschien wieder im Holotank.

»Sir, laut Anzeige befinden sich fünf Raumschiffe auf dem Weg in Richtung Pearl«, sagte Ishida leise. »Wir haben nicht den Hauch einer Chance, sie aufzuhalten.«

»Ich weiß.« Jayden fuhr sich über den kribbelnden rechten Handrücken. Die Brandnarben, die er sich bei der Schlacht von Tikara II zugezogen hatte, waren noch immer nicht verheilt. Er hatte es versäumt, Doktor Petrova diesbezüglich anzusprechen – hatte einfach nicht mehr daran gedacht. »Aber wir werden unser Bestes geben. Lieutenant Task, bringen Sie uns zwischen die Angreifer und Pearl.«