Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

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NOVA-Station, Alzir-System, 24. Januar 2266, 21:30 Uhr

Er atmete, seine Finger fühlten den harten Boden, sein Körper bestand aus pochendem Schmerz. Alpha 365 war zweifellos noch am Leben. Mit äußerster Kraftanstrengung richtete er sich auf und wuchtete einen Teil der Deckenverkleidung zur Seite, die ihn unter sich begraben hatte.

Wieder auf den Beinen, bewegte er testweise all seine Glieder. Sie gehorchten, wenn auch unter Schmerzen. Er war glimpflich davongekommen.

Als die Attentäterin, die sich nur bewusstlos gestellt hatte, ihn mit verschiedenen Kampftechniken attackierte und obendrein eine Laserklinge zog, hatte es nicht so gut ausgesehen. Nach den ersten Schlägen und Tritten hatte er begriffen, dass ihm die Frau überlegen war.

Doch der Einschlag eines Torpedos hatte alles verändert. Die Raumstation war offensichtlich angegriffen worden. Die Attentäterin lag tot am Boden. Aus ihrer Brust ragte ein gezacktes Schrapnell der Deckenverkleidung.

Jemand stöhnte. Alpha 365 wandte sich um. Lieutenant Walker lag in einer Lache seines eigenen Blutes. Alpha 365 ging zur Konsole und griff nach einem medizinischen Notfallkoffer, der dort angebracht war und das Chaos überstanden hatte. Mit wenigen Schritten war er in der Zelle und beugte sich über den Lieutenant. Ein Blutfaden rann aus dessen Mundwinkel, und augenscheinlich war eine Arterie verletzt.

Mit ein paar gezielten Handgriffen versiegelte Alpha 365 die Wunden und überprüfte die Verletzungen des Lieutenants mit einem Handscanner.

»Sie sind schwer verletzt, ich kann Sie jedoch stabilisieren«, sagte er. »Ich versetze Sie in einen Heilschlaf. Mehr kann ich nicht tun. Wenn die Paramedics rechtzeitig erscheinen, werden Sie überleben. Andernfalls erwachen Sie nicht mehr.«

Walker schnitt eine Grimasse, die ursprünglich wohl ein Grinsen hätte werden sollen. »Ich habe Ihre ehrliche Art schon immer gemocht. Ebenso wie Ihren Intellekt. Es hat mich gewundert, dass Sie es nicht bemerkt haben.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Von allem«, Walkers Lider flatterten. Kurz sah es so aus, als würde er in die Bewusstlosigkeit abdriften, dann fing er sich wieder. »Dem Netz, den Zusammenhängen.«

Es schien, als wollte der Lieutenant ihm endlich die Antworten liefern, auf die Alpha 365 schon so lange wartete. Er musste sich entscheiden, ob er den Offizier in den Heilschlaf versetzte und damit sein Leben rettete oder ihn weitersprechen ließ. Er legte den Kopf schief, überdachte die Situation und sagte: »Ich werde Sie jetzt betäuben.«

Walkers Hände fuhren in die Höhe, ergriffen Alpha 365 an der Uniform und zerrten ihn mit überraschender Kraft zu sich hinunter. Der Alpha ließ es geschehen, während er die Injektion an den Hals des Lieutenants heranführte.

Mit brechender Stimme flüsterte der Lieutenant etwas. Alpha 365 hielt kurz inne, lauschte den Worten und injizierte schließlich das Serum. Der Körper von Walker erschlaffte.

Alpha 365 erhob sich. Über das Gehörte konnte er später nachdenken, jetzt waren andere Dinge wichtiger. Zügig verließ er die Arrestzelle.

*

»Verdammt noch mal, hau endlich ab!«, schrie Zev.

Tess ignorierte ihn. Sie hatte sich noch nie von ihm herumkommandieren lassen, wenn sie alleine waren, warum jetzt damit anfangen?

Sie zog und zerrte an dem verkanteten Metall, das sich jedoch einfach nicht bewegen wollte. Zwischenzeitlich war der gemessene Wert an Gamma-Strahlung zuerst gesunken – irgendjemand hatte wohl ein strahlungsabweisendes Kraftfeld aktiviert –, dann wieder gestiegen. Irgendwo gab es noch ein zweites Leck, durch das die harte Strahlung hereinschwappte.

»Wenn du nicht abhaust, werde ich dich degradieren«, drohte Zev.

Tess kicherte. »Mach das. Sobald wir dich hier heraushaben, darfst du mich quer durch die Galaxis versetzen und degradieren – ach halt, du bist ja kein Admiral. Naja, versuchen kannst du es trotzdem.«

»Einer von uns muss überleben«, sagte Zev jetzt mit flehender Stimme. »Wenn wir beide sterben, kann sie niemand rächen. Dann wird der Mörder, der deine und meine Familie ausgelöscht hat, niemals seine gerechte Strafe erhalten. Wir haben es geschworen, also beweg deinen Arsch verdammt noch mal hier raus!«

»Spar dir die Tiraden«, sagte Tess. »Wir rächen sie gemeinsam. Und das ist mein letztes Wort. Ist die K.I. deines Skinsuits noch intakt?«

»Ja, ist sie.«

»Gut, dann solltest du dich jetzt betäuben lassen.«

»Warum?«

»Weil«, Tess zog eine Laserklinge aus dem Reparaturset unter einer Konsole, »ich dir dein rechtes Bein amputieren werde.«

Für einige Augenblicke herrschte Stille, dann sagte Zev: »In Ordnung.« Manchmal machte sein Pragmatismus ihr Angst.

»Sag Bescheid, wenn du bewusstlos bist.«

»Es ist schön, dass du deinen Humor noch nicht verloren hast«, kommentierte er trocken. »Ich fürchte, das Ding ist defekt.«

Tess' Hände waren schweißnass und ihr war übel, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Ich kann dich nicht bewusstlos schlagen, ohne deinen Anzug zu beschädigen.«

»Klar, das hätte dir gefallen.«

Tess richtete sich auf und lief zum Sitz des Kommandanten, in dem der tote Körper von Commodore Harris mehr lag als saß. Mit der Laserklinge öffnete sie das Waffenfach, das dort angebracht war, und zog einen Pulser hervor.

Als sie neben Zev in die Hocke ging, lachte dieser auf.

»Du willst mich bewusstlos schlagen, mein Bein amputieren und schießt mit einem Pulser auf mich. Soll mir das was sagen?«

Tess kicherte nervös. Sie atmete tief ein und aus, dann beugte sie sich ganz nah zu ihm herab. Ihre Helme berührten sich. »Ich liebe dich.«

Bevor Zev etwas erwidern konnte, erhob sie sich in einer fließenden Bewegung, legte an und schoss. Sie warf den Pulser zur Seite und aktivierte die Laserklinge, als eine Stimme ertönte: »Ich hoffe, es gibt einen Grund, weshalb Sie auf den Commander der Station geschossen haben.«

Tess fuhr herum und erblickte Alpha 365, der nur wenige Meter entfernt stand. Unweigerlich fragte sie sich, wie lange der Sicherheitschef der HYPERION dort schon gestanden und was er gehört hatte.

»Nun?« Er deutete auf die Laserklinge.

»Ich muss sein Bein amputieren und ihn hier herausschaffen, sonst überlebt er die Gamma-Strahlung nicht.«

Alpha 365 nickte, trat neben Tess und besah sich die verkantete Konsole, unter der Zev eingeklemmt war. »Versuchen wir es noch einmal gemeinsam.«

Tess' aufwallende Hoffnung wurde zerstört, als es ihnen auch zusammen nicht gelang, das Stück herauszuzerren.

»Ich denke, Ihre Idee ist die einzige Aussicht auf Erfolg«, sagte Alpha 365. Erst jetzt bemerkte Tess, dass er ein medizinisches Set in Händen hielt. »Ich werde Ihnen assistieren.«

Tess aktivierte die Laserklinge.

*

Als sie Zev zehn Minuten später von der Kommandobrücke trugen, waren Tess' Handschuhe blutverschmiert. Sie trug ihn, während Alpha 365 in der einen Hand das medizinische Set hielt und in der anderen Zevs Bein.

Beinahe hätte Tess sich in ihren Anzug übergeben. Sie war keine Medizinerin und ihr war im Verlauf der Amputation auch wieder bewusst geworden, weshalb. Wenn sie zurück auf der HYPERION war, würde sie erstmals freiwillig Doktor Tauser aufsuchen, um diese Bilder loszuwerden.

Hinter dem Kommandobrückenschott warteten bereits zwei Paramedics, die Alpha 365 über seinen Anzugkommunikator herbeigerufen hatte. Wenigstens die interne Kommunikation funktionierte noch.

Die Paramedics nahmen ihr Zev aus den Händen und hievten ihn auf eine Gravtrage. Einer der beiden nahm das Bein entgegen, bevor sie davonhasteten.

»Wie ist der Status?«, wollte Tess von dem Ingenieur wissen, der vor dem Schott auf sie wartete.

»Dort draußen tobt ein Kampf«, erklärte der. »Die Raumstation wurde bisher nur einmal angegriffen, doch es kann jederzeit weitergehen. Wir wissen einfach nichts über die Situation im System.«

»Was ist mit der PI-RA-SO-MA-FE?« Alpha 365 legte den Kopf schief und Tess empfand Hochachtung für den logischen und schnell arbeitenden Verstand des Sicherheitschefs. Sie selbst hatte gar nicht mehr an das Artefakt gedacht.

»Das rentalianische Schiff sollte längst weg sein«, sagte der Techniker. »Vermutlich befinden sie sich längst im Phasenraum.«

»Wir müssen …«

»Da sind Sie ja«, erklang eine Stimme. Lieutenant Fowler, ein Techniker aus dem Maschinenraum, kam um die Ecke gerannt und blieb vor Tess stehen. »Ist die Kommandobrücke wieder zugänglich?«

Sie verneinte. »Warum?«

»Kurz vor dem Angriff deaktivierten sich die Abwehrforts des Systems«, sagte der Lieutenant. »Das Schiff zerstörte die Sektion der Station, in der sich die sicheren Phasenfunk-Emitter zur Steuerung der Forts befanden.«

»Das heißt, die Forts können wieder reaktiviert werden«, warf Alpha 365 ein. »Vorausgesetzt, wir können eine Datenverbindung zu ihnen etablieren.«

»Korrekt«, bestätigte der Techniker. »Und es gibt noch ein zweites System, das darauf ausgelegt ist, derartige Daten mittels gerichtetem Phasenfunk zu übertragen.«

»Das neue Sensorsystem«, fiel Tess ein. »Natürlich! Aufgrund der variierenden Bandbreite konnten wir die Phasenleitung noch nicht fest mit den Sensoren koppeln. Wenn wir sie also an das Defensivsystem anschließen, könnten wir sie für die Übertragung verwenden.«

»Das ist schon geschehen.« Fowler wirkte sichtlich stolz. »Aber die Algorithmen sind dazu ausgelegt, nur spezifische Steuersignale zu senden, dafür aber eine hohe Bandbreite zu empfangen. Wir müssen das umkehren. Um die Forts zu steuern, muss die K.I. riesige Datenmengen übertragen. Wir brauchen eine unidirektionale Verbindung.«

 

»Ich verstehe«, sagte Tess. »Und die einzige Person, die momentan dazu in der Lage ist, das System umzuprogrammieren, bin ich.«

»Und der einzige Zugang, der durch Kommandocodes freigegeben ist, befindet sich auf der Kommandobrücke«, sagte Fowler.

»Ich werde gehen«, entschied Alpha 365. »Mein Körper ist robuster als der Ihre, Lieutenant, und kann der Gammastrahlung länger standhalten. Sie können mich über Funk anweisen.«

Tess schüttelte den Kopf. »Sie wissen so gut wie ich, dass das unter den gegebenen Umständen keine gute Idee ist. Wir müssen schnell handeln. Die interne Kommunikation fällt immer wieder aus. Wenn das während ihrer Umprogrammierung geschieht, kann das unabsehbare Folgen haben.«

»Ihr Körper wird einer weiteren Strahlenbelastung nicht standhalten.«

»Ich weiß.« Sie wandte sich dem Schott zu. »Aber ich habe in meinem Leben mehr als einmal gelernt, dass sich das Schicksal nicht um einzelne Personen schert. Wenn die Verteidigungsforts wieder funktionieren, können wir die Raumer besiegen. Das rettet die Leben der Menschen auf Pearl, der Besatzung der Schiffe dort draußen und von allen hier an Bord von NOVA. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Sie haben recht«, sagte Alpha 365 abrupt. Für einige Sekunden glaubte Tess, so etwas wie eine Emotion auf dem Gesicht des genetisch gezüchteten Menschen zu erkennen. Doch die Regung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Viel Glück.«

»Danke«, sagte Tess.

Sie wandte sich um und betrat die Kommandobrücke.

*

»Schilde sind bei vier Prozent«, meldete Akoskin.

»Ich rotiere das Schiff«, sagte Lieutenant Task. Seine Finger glitten über die Navigationskonsole, worauf die HYPERION sich langsam drehte.

Eine Minute später wandte der Interlink-Kreuzer den anfliegenden Schiffen die Heck-Sektion entgegen und die rückwärtig ausgerichteten Torpedowerfer begannen zu feuern. Da die Torpedorohre sich nur jeweils um neunzig Grad drehen konnten, war es nicht möglich, alle Rohre auf einen Vektor auszurichten.

»Heckschilde bei fünfundneunzig Prozent«, sagte Lieutenant Commander Akoskin. »Beschuss wird fortgesetzt.«

Mittlerweile hatte die HYPERION schwere Schäden davongetragen. Der Interlink-Antrieb war ausgefallen, sie hatten die Hälfte der Torpedowerfer verloren und insgesamt zwölf Hüllenbrüche in diversen Sektionen. Zudem war der Phasenfunk tot.

Die aktuelle Verlustliste war auf fünfzehn Personen angewachsen. Acht davon gehörten dem Schadenskontrollteam an und hatten sich zum Zeitpunkt neuer Einschläge in bereits beschädigten Bereichen aufgehalten.

»Sir!« Das Gesicht von Lieutenant Nurakow war bleich. »Der zweite Kreuzer …«

»Greift er ebenfalls an?«

»Negativ, Sir.« Sein Ortungsoffizier blickte noch einmal auf seine Konsole, bevor er sich Jayden zuwandte. »Das Schiff hat den Vektor geändert und dringt soeben in die planetare Ionosphäre ein.«

»Diese Dreckskerle wollen den Planeten aus der Atmosphäre beschießen!«, rief Ishida aufgebracht.

»Aber das hätten sie mit kinetischen Geschossen aus dem Orbit leichter haben können.« Jayden überlegte fieberhaft, was sie tun konnten, um den Raumer aufzuhalten. Das Verhalten der Fremden ergab überhaupt keinen Sinn.

»Sir.« Nurakow schüttelte den Kopf. »Die Geschwindigkeit des Raumschiffs ist für einen Atmosphärenflug viel zu hoch.«

»Aber was …?« Jayden überlief es eiskalt, als er begriff. »Die rammen Pearl!«

»Das Schiff emittiert mittlerweile ein Vielfaches der zuvor angemessenen Gammastrahlung«, sagte Nurakow leise.

Obwohl die HYPERION noch immer unter Dauerbeschuss lag, starrte Jayden mit aufgerissenen Augen auf die Taktikanzeige. Irgendjemand schaltete die Aufnahme eines Satelliten zu, worauf jedes Gefühl aus seinen Gliedern wich. Der feindliche Raumer flog in einem so steilen Vektor durch die Atmosphäre, dass es jedes Schiff der Space Navy längst auseinandergerissen hätte. Auf seinem Flug feuerte er mit Laserstrahlen auf die Oberfläche und ließ Torpedos hinabregnen, deren Explosionen bis in den Orbit zu sehen waren. Die Satellitenaufnahmen zeigten tiefe Krater und glutflüssige Lavafontänen, die aus klaffenden Wunden im Boden an die Oberfläche drängten.

Ein Lichtblitz leuchtete auf. Die Taktikanzeige blinkte grellrot, als die Strahlenwerte in die Höhe schnellten. Gleichzeitig stieg ein gewaltiger Wolkenpilz bis hinauf in die Atmosphäre und ein elektromagnetischer Impuls breitete sich aus.

Jayden kam die Meldung seiner I.O. in den Sinn. Dort unten befanden sich Doktor Tauser, Doktor Petrova, zehn Offiziere der Schadenskontrolle, sieben Techniker, fünf Sicherheitskräfte, acht Marines und neun Wissenschaftler. Er hatte keinen Überblick darüber, wer sich wo aufhielt, doch allein der Beschuss und der nachfolgende Absturz des Schiffes mussten Tausende Leben gekostet haben. Die Radioaktivität würde sich nun durch die Atmosphäre ausbreiten; es folgte ein nuklearer Winter, es entstanden Stürme, die den Planeten in eine Todeszone verwandelten. Sie mussten die Überlebenden evakuieren.

»Der feindliche Raumer hat uns passiert und fliegt in einer elliptischen Kurve wieder auf uns zu«, sagte Nurakow.

»Ich rotiere das Schiff erneut.« Lieutenant Task handelte, noch während er sprach.

Als Jayden auf das Chronometer blickte, verließ ihn der Mut. Bis zum Eintreffen von Fitzgeralds Entsatz-Flotte verging noch fast eine Stunde. Das konnten sie nicht durchhalten.

»Wir befinden uns in fünfzehn Minuten wieder in Raketenreichweite des Feindes«, sagte Akoskin. Er blickte mit gerunzelter Stirn auf seine Konsole.

Bevor Jayden nachhaken konnte, meldete sich Lieutenant McCall. »Sir, ich orte einen Phasenfunk-Port.«

»Ich bestätige das Auftauchen einer weiteren Signatur«, sagte Nurakow, dessen vollständige Ortung wohl etwas länger gedauert hatte. »Es handelt sich um ein orbitales Verteidigungsfort.« Mit einem Mal klang seine Stimme wieder energiegeladen und euphorisch. »Es hat sich – wie alle anderen auch – durch das Signal des Feindes deaktiviert!«

»Zugriff über den Port wäre theoretisch möglich«, sagte McCall. »Die Fremden haben die Sicherheitssperren aufgehoben, um die Forts zu deaktivieren. Das könnten wir normalerweise ausnutzen.«

Jayden atmete erleichtert auf. »Reaktivieren Sie das Ding und richten Sie es auf den Raumer aus.«

»Das geht nicht, Sir.« Die Kommunikationsoffizierin sackte förmlich über ihrer Konsole zusammen. »Der letzte Torpedo hat unser Phasenfunk-Modul beschädigt, ebenso das Backup-System. Wir können keine Verbindung etablieren.«

Neben ihm schlug Ishida wütend mit den geballten Fäusten auf die Armlehnen ihres Konturensessels. »Was ist mit Unterlichtfunk? Gerichtete Laser?«

»Die stehen uns noch zur Verfügung, das Fort besitzt jedoch keinen Port. Man ging wohl davon aus, dass eine Phasenverbindung ausreichend ist.«

»Das darf doch nicht wahr sein«, fluchte Jayden leise.

Dort, in direkter Reichweite, schwebte die geballte Feuerkraft von sechshundert Torpedos in der Minute; doch sie war unerreichbar.

»Gefechtsdistanz in fünf Minuten erreicht«, meldete Akoskin.

»Ich bin zu alt für diesen Scheiß«, murmelte Jayden.

Auf dem Taktik-Screen näherte sich der Raumer.

*

Captain Ivo Coen musste hilflos mit ansehen, wie seine Schiffe den feindlichen Torpedos zum Opfer fielen. Dieser Kampf war verloren, das hatte selbst der letzte Offizier sicher begriffen. Sie hatten tapfer gekämpft, doch während von den gegnerischen Schiffen noch zwei von der Tonnage eines Dreadnoughts übrig waren, gab es auf seiner Seite nur noch zwei Leichte Kreuzer und die TÈQUÁN als einzigen Dreadnought.

»Sir, die Sensoren melden, dass einer der Raumer, gegen den die HYPERION kämpfte, auf Pearl abgestürzt ist.«

Von einer Sekunde zur anderen begann die Kommandobrücke damit, sich um ihn herumzudrehen. Seine Frau! Seine beiden Kinder! Sie alle lebten auf Pearl. Was waren das für Wahnsinnige, die ein Raumschiff auf einem bevölkerten Planeten explodieren ließen. Warum taten sie so etwas?!

Unter dem Feuer der feindlichen Raumer verging ein weiteres seiner Schiffe.

»Sir, die CHEN-FUNG nimmt Kurs auf einen der Gegner«, sagte sein Taktikoffizier.

Für einige Sekunden fiel es Ivo schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie flogen doch alle auf den Feind zu!

Erst ein Blick auf seine Konsole zeigte ihm, was Captain Tom Vogel beabsichtigte. Der braunhaarige Mann aus dem deutschen Sektor der Erde, der so oft lachte, dass seine Augen von Falten nur so umzingelt waren, ging auf Kollisionskurs.

Ivo verfolgte auf dem Taktik-Display, wie die Schiffe kollidierten und in einer Explosion vergingen. Damit gab es nur noch einen feindlichen Raumer.

Ivo wusste, dass ihnen ebenfalls nur eine Möglichkeit blieb, wollten sie das Alienschiff mit sich in den Untergang reißen.

»Lieutenant«, wandte er sich an seinen Navigationsoffizier. »Setzen Sie Kurs auf den letzten Feind. Nehmen wir ihn mit.«

Auf den Gesichtern einiger Offiziere sah er Tränen, was er ihnen im Angesicht des Todes nicht verdenken konnte. Er selbst bedauerte nur, dass er niemals erfahren würde, was aus seiner Familie geworden war.

*

»Sir!« Lieutenant McCall setzte sich abrupt in ihrem Konturensessel auf. »Wir haben noch ein Phasenfunk-Modul! Nachdem wir eines unserer Kurierboote im Kartas-System verloren haben und eines im vorherigen Kampf beschädigt wurde, habe ich von NOVA neue Kurierboote angefordert – die gestern eingetroffen sind. Wir können das Signal über das Phasenfunk-Modul der Boote leiten.«

Jayden hieb mit der Faust auf seine Armlehne. »Etablieren Sie eine Verbindung!«

»Ich bin bereits dabei, Sir.«

»Feindlicher Raumer erreicht in drei Minuten Gefechtsdistanz«, meldete Akoskin.

»Lieutenant!«

»Ist erledigt, Sir«, erwiderte McCall angespannt. »Phasenfunkverbindung ist stabil, ich übertrage die feindliche Signatur als Ziel … Signal ist drüben. Ich reaktiviere das Fort.«

Auf seiner Konsole sah Jayden, wie sich der Port wieder schloss, als die Sicherheitsalgorithmen beim Neustart reaktiviert wurden.

»Multiple Raketenstarts geortet«, sagte Akoskin. Als er die schreckgeweiteten Blicke um sich herum bemerkte, fügte er hinzu: »Das Fort hat seine Arbeit aufgenommen und beschießt den Raumer.«

Aufatmend lehnte sich Jayden in seinem Konturensessel zurück. Nur Sekunden später explodierte das feindliche Raumschiff.

*

Du darfst leben, hatte er gesagt. Denn du bist bedeutungslos.

Tess würde jene Worte nie vergessen, die der Unbekannte ihr zugeflüstert hatte, bevor er sie inmitten der Leichen ihrer Eltern zurückließ. Jetzt, so kurz vor ihrem eigenen Ende, tauchten die Erinnerungen tief aus dem Gedächtnis empor. Es gelang ihr nur mit Mühe, die notwendige Konzentration zum Umschreiben der Algorithmen aufzubringen.

Ihre Glieder schmerzten, jeder Atemzug brannte in ihrer Lunge. Diese verdammten Code-Fragmente mussten nur umgeschrieben werden, eine Arbeit, die sie unter normalen Umständen innerhalb weniger Minuten erledigt hätte, doch jetzt verschwamm jede neue Zeile vor ihren Augen. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Hatte sie nicht vorhin noch getönt, dass Zev und sie den Mörder ihrer Familien gemeinsam finden sollten, sich gemeinsam rächen würden?

Das Kühlsystem ihres Anzugs lief auf Hochtouren, doch auf ihrer Stirn hatte sich trotzdem ein dünner Schweißfilm gebildet. Was hatte sie gleich tippen wollen? Ach ja, richtig. Sie machte eine weitere Eingabe, speicherte ab und ließ das System einen automatisierten Check ausführen. Es gab noch einen Fehler – eine Konfiguration, die sie nicht bedacht hatte.

Es sind die kleinen Dinge, die einem zum Verhängnis werden, hatte ihre Mutter immer gesagt.

Tess musste bei dem Gedanken an jene Zeit lachen. Ihre Familie hatte zu den Reichsten der Reichen gehört, war ein Teil der adligen Kreise von Terra gewesen. Sie besaß nur wenig Erinnerung an diese Zeit, war noch zu klein gewesen. Doch dann hatte ein Feind aus dem Dunkeln zugeschlagen und ihnen alles genommen.

 

Sie schloss die Augen.

Ihre Erinnerungen schweiften ab zu jenem Tag vor 22 Jahren, als ein Unbekannter ihr ihre Eltern entrissen hatte. In einer regnerischen Nacht hatten sie zugeschlagen – die Killer.

Als Tess, die vom Donnergrollen geweckt worden war, in den Salon kam, lagen die leblosen Körper ihrer Eltern bereits am Boden. Ihr Vater hatte noch den Pulser in der Hand, mit dem er angeblich seine Frau und dann sich selbst erschossen haben sollte.

Der Unbekannte, dessen Anzug mit den Schatten verschmolz, dessen Gesicht hinter einer Maske aus hauchdünnem Grafit verborgen war, blickte ihr lange in die Augen. Ein so reines Blau hatte Tess noch nie gesehen. Die Stimme, von einem Vocoder verzerrt, sagte: Du darfst leben, denn du bist bedeutungslos.

Am darauffolgenden Morgen hatte eines der Dienstmädchen sie gefunden. Tess erinnerte sich kaum noch an die Ordnungskräfte, die Befragungen durch den Psychologen oder die Hilfsangebote von Bekannten.

Sie wusste, dass der Aufsichtsrat der Firma ihres Vaters sehr schnell reagiert und eine Frau zur Vorsitzenden gemacht hatte, die ihr Vater lange protegiert hatte. Plötzlich wurden Vorwürfe gegen ihre Eltern laut, das Finanzministerium sprach von Steuerhinterziehung. Innerhalb weniger Monate schwand das Vermögen der Familie dahin, ebenso die zahlreichen Hilfsangebote. Tess landete im Waisenhaus, wo Zevs Vater sie schließlich fand. Er holte sie dort raus, verfrachtete sie nach Tikara II und übergab sie an Zieheltern, bei denen sie aufwuchs. Nie zuvor in ihrem Leben hatte jemand Tess derartig viel Liebe und Wärme spüren lassen – nicht einmal ihre wahren Eltern. Doch das Leben in der Kolonie war hart.

Diese Welt, die von allen nur als Absteige der Gesellschaft angesehen wurde, war für Tess zwar dank ihrer Zieheltern zur Heimat geworden, doch sie verlangte ihr alles ab. Sie lernte sich durchzuschlagen, in einem von Banden dominierten Ghetto zu überleben, sich hochzuarbeiten.

Schließlich war er gekommen: Zev Buckshaw. Tess hatte sich längst angewöhnt, den echten Namen von ihm und seiner Familie nicht einmal zu denken.

Zev war der einzige Überlebende seiner Familie, der das Gleiche widerfahren war wie ihrer eigenen. Sein Vater, der Tess Jahre zuvor aus dem Waisenhaus geholt hatte, war gestorben und posthum als Terrorist gebrandmarkt worden.

Gemeinsam hatten sie damit begonnen, die Puzzleteile zusammenzusetzen und einen Zipfel des Geheimnisses freigelegt, das ihren beiden Eltern das Leben gekostet hatte. Seit jenem Tag suchten sie nach den Drahtziehern und waren ihnen mittlerweile ganz nah. Die Spur hatte sie beide in die Space Navy geführt, und Tess wusste: Eines Tages würde sie der Person gegenüberstehen, die ihre Eltern getötet hatte.

Tess war sich bis heute nicht sicher, ob der Drahtzieher der ganzen Aktion sie nicht noch immer beobachtete, immerhin war sie eine Zeugin. Daher spielten sie und Zev in der Öffentlichkeit verhasste Feinde. So wurde, falls man auf einen von ihnen aufmerksam wurde, der andere nicht ebenfalls enttarnt.

Ein blinkendes Icon zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Wie in Trance hatte sie den Code geändert und der Check war positiv verlaufen. Sie aktivierte den Übertragungsvorgang, worauf die Statussymbole wechselten. Auf den wenigen Monitoren, die den Angriff überlebt hatten, erwachten Warnsymbole zum Leben. Feindliche Signaturen leuchteten auf und die Abwehrforts richteten sich neu aus.

Sie hatte es geschafft.

Schlagartig wich jede Kraft aus ihrem Körper und sie sackte zusammen. Das rot pulsierende Warn-Icon auf der Innenseite ihres Helmdisplays, das seit einigen Minuten auf lebensgefährliche Strahlenverhältnisse hindeutete, nahm sie längst nicht mehr wahr.

*

»Sir!« Lieutenant McCalls Stimme überschlug sich fast. »Die Abwehrforts von NOVA-Station erwachen zum Leben. Sie beschießen die Angreifer.«

»Mister Akoskin?« Jayden beobachtete noch immer die Trümmerstücke, die durchs All davontrieben.

»Ich kann das bestätigen, Sir. Lieutenant McCall hat über das Phasenfunkmodul des Abwehrforts Kontakt zu Captain Fitzgeralds Sensornetz hergestellt. Gute Arbeit, Lieutenant! Wir müssen nicht länger blind auf Informationen warten.«

Jayden schenkte seiner Kommunikationsoffizierin ein anerkennendes Nicken.

»Zusammenfassend kann man sagen, dass die feindlichen Raumer gerade mit Torpedos eingedeckt werden. Von Captain Coens Flotte hat nur die TÈQUÁN überlebt. Fitzgeralds Einheiten erreichen uns in wenigen Minuten.«

Er schwieg für einige Sekunden. »Und die PI-RA-SO-MA-FE konnte in den Phasenraum entkommen. Die verfolgenden Schiffe drosseln ihre Geschwindigkeit; die Vermutung, dass sie ihre Transition nur im Quasi-Stillstand ausführen können, scheint sich zu bewahrheiten, denn ihr Vektor deutet noch immer systemauswärts.«

»Was ist mit NOVA?«

»Ein Funkkontakt ist nicht möglich«, sagte Akoskin. »Die Station ist zu schwer beschädigt. Die Reststrahlung der detonierten Raketen macht eine exakte Sensorerfassung fast unmöglich.«

Jayden versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie viele Menschenleben die zurückliegende Schlacht gekostet hatte. Und wofür? Sie wussten nicht einmal, wer der neue Feind war.

»Sir, wir müssen umgehend mit der Evakuierung von Pearl beginnen«, zog ihn seine I.O. aus dem aufkommenden Gefühlstief.

Er nickte. »Lieutenant McCall, deaktivieren Sie die Annäherungszünder der Raketen und holen Sie unsere Shuttles zurück. Ich will ein Team aus Marines und Paramedics im Hangar haben. Wir werden so viele Personen wie möglich von der Oberfläche retten. Senden Sie außerdem einen Statusbericht an die Flotte von Captain Fitzgerald – wir benötigen jedes Schiff.«

Die HYPERION selbst glich mehr einem Trümmerhaufen als einem funktionstüchtigen Raumschiff, doch sie war besser davongekommen als die meisten anderen Schiffe. Und solange die Lebenserhaltungssysteme noch funktionierten, war jeder, der von der Oberfläche geholt werden konnte, sicher aufgehoben.

»Commander«, wandte er sich an Ishida, »arbeiten Sie einen Plan aus, der uns die Unterbringung einer maximalen Anzahl an Personen ermöglicht. Ich will jeden verfügbaren Platz! Und setzen Sie sich mit Devgan in Verbindung. Ich will wissen, welche Schäden aus Bordmitteln reparabel sind.«

Ishida bestätigte den Befehl und begann damit, entsprechende Daten in ihre Konsole einzugeben. »Lieutenant McCall, können wir die subkutanen Sender unserer Offiziere auf Pearl orten?«

Die Ortungsoffizierin verneinte. »Der elektromagnetische Strahlenschauer verhindert das, Sir.«

Jayden lehnte sich zurück und besah sich die eingehenden Nachrichten. Der Kampf war furchtbar gewesen, doch erst jetzt wurde ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst: in den Trümmern beschädigter Schiffe eingeklemmte Offiziere; Rettungskapseln, die im All umhertrieben; in den Bunkern von Pearl ausharrende Überlebende, die sie keinesfalls alle retten konnten.

Der Gefechtsalarm wurde deaktiviert, worauf sich die Gurte in das Schulterpolster der Konturensessel zurückzogen und die Prallfelder deaktivierten.

»Dann wollen wir mal«, sagte Ishida mit unbewegter Miene.

Jayden schwieg.

*