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Im Bereich der Verträge ließ der Conseil d’État allerdings das Interesse des service public über die Vertragstreue obsiegen: Er räumte der Verwaltung die Befugnis ein, einseitig die Pflichten ihres Vertragspartners zu modifizieren sowie den Vertrag zu kündigen, allerdings unter dem Vorbehalt der Entschädigung des betreffenden Vertragspartners. Die Regeln für den Fall der Verletzung vertraglicher Pflichten wurden entsprechend angepasst. Der Conseil d’État fällte jedoch 1912 auch eine Entscheidung, welche die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit einschränkte: Diese hat nicht über Verträge zu urteilen, die „nach den Regeln und Konditionen“ geschlossen wurden, die „zwischen Privatpersonen zustande kommen“. Auf diese Weise kann ein Vertrag, der im Interesse des service public geschlossen wurde, dem Privatrecht unterliegen und in die Zuständigkeit des Richters der ordentlichen Gerichtsbarkeit fallen. Diese Möglichkeit besteht allerdings nicht, wenn der Vertrag eine Klausel enthält, die das Privatrecht nicht vorsieht; dann bleibt es bei der Zuständigkeit des Conseil d’État.[45] Die einschlägige Entscheidung in der Rechtssache Société des granits porphyroïdes des Vosges, welche die Lieferung von Pflastersteinen an eine Gemeinde zum Gegenstand hatte, wurde paradoxerweise in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen eines commissaire du Gouvernement getroffen, der sozialistischen Ideen verhaftet war, nämlich Léon Blum, der später Präsident des Ministerrates (Conseil des ministres) werden sollte.[46] Sie erwies sich als ein coup d’arrêt für die Fortentwicklung der Effekte, die mit dem Begriff des service public verbunden waren, und dies am Vorabend des tragischen Geschehens, das eine alte Bedeutung des Ausdrucks „service public“ wieder aufleben lassen sollte: jene des Dienstes, den der Bürger für sein Vaterland leistet.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 43 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich › IV. Das Schicksal des Verwaltungsrechts seit dem Ersten Weltkrieg

IV. Das Schicksal des Verwaltungsrechts seit dem Ersten Weltkrieg

1. Die unmittelbaren Folgen des Krieges

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Der Krieg von 1914 bis 1918 führte zu einer außergewöhnlichen Ausweitung der Aktivitäten der Verwaltung, im militärischen und mehr noch im zivilen Bereich. Die Regierungen sahen sich gezwungen, ihre Interventionen zu vervielfachen. Die Wirtschaftsförderung des 19. Jahrhunderts, das „wirtschaftliche und soziale Protektorat“[47], wurde durch einen veritablen Wirtschaftsdirigismus abgelöst. Neue Ministerien wurden geschaffen, etwa für Rüstung und für Nachschub, und das Handelsministerium erhielt Kompetenzen zur Regelung unzähliger wirtschaftlicher Fragen. Der Staat wurde vermittels der Unternehmen, an denen er beteiligt war, zum Transporteur, Versorger und Versicherer. Das Los der unmittelbaren und der mittelbaren Opfer des Krieges war Anlass für die Schaffung von weiteren Ministerien, mannigfaltigen Organisationseinheiten und Diensten.

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Um ihren Aufgaben nachzukommen, machte die vollziehende Gewalt beständig von ihrer Verordnungsbefugnis Gebrauch: Gesetzliche Vorschriften wurden durch einfache Dekrete modifiziert, suspendiert oder abrogiert, dies teilweise mit, teilweise aber auch ohne vorherige Ermächtigung des Parlaments. Der Conseil d’État bestätigte die Gültigkeit eines solchen Dekrets, das ohne parlamentarisches Einverständnis erlassen und nicht durch ein späteres Gesetz gebilligt wurde. Er berief sich auf die Verfassung der Dritten Republik, die den Präsidenten der Republik an die Spitze der Verwaltung stellte und ihn damit beauftragte, die Ausführung der Gesetze sicherzustellen, was es einschloss darüber zu wachen, dass die services publics trotz der Schwierigkeiten, die durch den Krieg hervorgerufen wurden, funktionstauglich blieben. Mit der Heyriès-Entscheidung vom 28. Juni 1918 erhielt die Idee höchstrichterlichen Segen, dass außergewöhnliche Umstände es rechtfertigen können, die allgemeinen Regeln in Bezug auf die Zuständigkeit für den Erlass von actes administratifs sowie in Bezug auf deren Form und Inhalt unangewendet zu lassen.[48] Die Praxis der Gesetzesverordnungen (décrets-lois) weitete sich in der Dritten und sogar in der Vierten Republik aus,[49] ungeachtet der Vorschrift des Art. 13 der Verfassung von 1946, wonach allein die Nationalversammlung (Assemblée nationale) das Gesetz verabschiedete und dieses Recht nicht delegieren konnte. Erst die geltende Verfassung der Fünften Republik aus dem Jahre 1958 ermöglicht ausdrücklich diese Praxis. Deren Art. 38 erlaubt der Regierung, sich dazu ermächtigen zu lassen, durch Verordnung Maßnahmen im Bereich des Gesetzes vorzunehmen. Der Conseil d’État prüft die Gültigkeit dieser Verordnungen anlässlich eines recours pour excès de pouvoir, solange sie nicht vom Gesetzgeber bestätigt worden sind. Die Rechtsprechung zu den sog. „außergewöhnlichen Umständen (circonstances exceptionelles)“ wurde durch den Conseil d’État fortentwickelt und präzisiert. Sie existiert neben den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben, welche die Behörden in die Lage versetzen sollen, Krisensituationen zu bewältigen.

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Der Erste Weltkrieg bescherte zahlreiche weitere, für die Fortentwicklung des Verwaltungsrechts bedeutende Gerichtsentscheidungen. Das Urteil vom 30. März 1916, bekannt geworden unter dem Namen Du gaz de Bordeaux, ließ zu, dass sich der Lizenznehmer eines service public auf den Eintritt unvorhersehbarer Ereignisse berufen kann: Wenn Ereignisse, die für die Vertragsparteien unvorhersehbar und von ihnen nicht beeinflussbar waren, eine Umgestaltung der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen im Rahmen des Vertrages zur Folge haben, ist der Lizenznehmer zwar gehalten, weiterhin seinen Verpflichtungen nachzukommen, er besitzt jedoch einen Anspruch auf Entschädigung gegenüber dem Staat. Diese Rechtsprechung, die den Parteien sogar die Kündigung des Vertrages gestattet, wenn sich die Umgestaltung als endgültig herausstellt, wurde auf die Gesamtheit der Verwaltungsverträge ausgeweitet.[50]

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Im Bereich der Haftung zeigte der Conseil d’État „eine allergrößte Gewissenhaftigkeit in Bezug auf die Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber dem Bürger, den die Maßnahme der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt hat“[51]. Er nahm an, dass bereits ein einziger Fehler, der von der Verwaltung begangen wird, zugleich die persönliche Haftung des Handelnden und der zuständigen öffentlichen Körperschaft auslösen kann (Epoux Lemonnier-Urteil vom 26. Juli 1918), wodurch er dem System der Haftungskumulation, das nach wie vor grundlegend ist, endgültig zum Durchbruch verhalf.[52] Die Haftung für rechtmäßiges Verhalten (responsabilité sans faute) der öffentlichen Körperschaften wurde vom Conseil d’État erstmals im Anschluss an die Explosion eines Munitionsdepots bejaht (Regnault-Desroziers-Urteil vom 28. März 1919). Sie wurde seitdem erheblich ausgebaut: Die Haftung ist möglich im Falle eines besonderen Risikos, das durch eine gefährliche Situation, beispielsweise durch eine gefährliche Sache oder Aktivität, hervorgerufen wird.[53]

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Auf derselben Linie liegt es, dass der Conseil d’État die Haftung der Verwaltung wegen eines Gleichheitsverstoßes im Hinblick auf die Verteilung öffentlicher Lasten zugelassen hat (Couitéas-Urteil vom 30. November 1923). Dies betrifft den Fall, dass die Verwaltung nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sie normalerweise hätte treffen müssen, oder dass sie zwar rechtmäßige Maßnahmen durchgeführt hat, diese aber bestimmte Personen in besonderer und außergewöhnlicher Weise belasten. Auf dieser Rechtsprechung basiert die Annahme einer Verantwortlichkeit des Staates für rechtsetzendes Handeln.[54]

2. Die industriellen und kommerziellen services publics

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Die Aktivitäten, die nunmehr der Staat und andere öffentliche Entitäten als Unternehmer in Bereichen entfalteten, die traditionell dem privatwirtschaftlichen Handeln zugerechnet werden, führten zu dem Begriff der „services publics industriels et commerciaux“. Wegweisend war das Urteil des Tribunal des conflits in der Rechtssache Société commerciale de l’Ouest africain vom 22. Januar 1921. Die Kolonie der Elfenbeinküste hatte für die Querung einer Lagune einen kostenpflichtigen Fährbetrieb eingerichtet. Nachdem sich ein Unfall ereignet hatte, kam die Frage auf, wer zur Entscheidung über den Rechtsstreit zuständig sei. Das Tribunal des conflits erklärte die ordentliche Gerichtsbarkeit für zuständig, weil die Kolonie „ein Transportgeschäft unter den gleichen Konditionen wie ein gewöhnlicher Unternehmer betreibt“.[55] Der Conseil d’État schlussfolgerte daraus, dass eine neue Kategorie der services publics im organisatorischen Sinne existiert, die keinen administrativen, sondern einen gewerblichen oder kommerziellen Charakter aufweist. Diese services publics unterfallen grundsätzlich dem Privatrecht, jedoch genießt ihr leitendes und finanziell verantwortliches Personal einen öffentlich-rechtlichen Status; auch können Verwaltungsverträge abgeschlossen werden, was zur Folge hat, dass das Verwaltungsrecht Anwendung findet.[56]

 

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Die Kategorie der services publics industriels et commerciaux hat zahlreiche praktische Schwierigkeiten aufgeworfen und scharfsinnige theoretische Debatten hervorgerufen. Sie versetzte der Schule des service public von Duguit und denjenigen, die im Begriff des service public das Fundament des gesamten Verwaltungsrechts erblickten, wie Gaston Jèze, Roger Bonnard oder Louis Rolland, einen Schlag. Nunmehr unterfielen services, die zu den Verwaltungen gehören, wegen der Natur ihrer Tätigkeit dem Privatrecht. Und diese services sollten infolge von Verstaatlichungsmaßnahmen seitens der Front Populaire im Jahre 1936, im Zuge der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgten Libération und während des Beginns der Präsidentschaft von François Mitterrand in den Jahren 1981 bis 1982 immer zahlreicher werden. Hinzu kommt, dass der Conseil d’État im Jahre 1938 entschied, dass eine private Organisation, im vorliegenden Fall eine Sozialversicherungskasse, mit der Ausführung eines service public beauftragt werden kann; der Ausdruck „service public“ wurde dabei im materiellen Sinne eines Handelns im Allgemeininteresse verwendet. Derartige Organisationen, deren Zahl einerseits durch die Gesetzgebung und andererseits durch eine subtile Rechtsprechung vermehrt werden sollte, wurden einem Rechtsregime unterstellt, das teilweise die Anwendung des Verwaltungsrechts und die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit sich brachte.[57] Diese beiden großen Entwicklungen in der Jurisprudenz bedeuteten das Ende für die berühmte Definition von Jèze, wonach das Verwaltungsrecht „die Gesamtheit der Rechtssätze [ist], die sich auf die services publics beziehen“.[58] „Die Krise des Begriffs des service public“, die sich auch auf andere Begriffe auswirkte, wie diejenigen der öffentlichen Anstalt (établissement public) oder des öffentlichen Beamten (fonctionnaire public), rief reichlich Literatur und lebhafte Kontroversen hervor, auch wenn Urteile, die der Conseil d’État in den Jahren 1954 bis 1956 fällte, „diesen Begriff sanierten, wie man ein historisches Stadtviertel restauriert“[59].

3. Die Statuten des öffentlichen Dienstes

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Mit Blick auf den öffentlichen Dienst nahm der Conseil d’État zunächst an, die Beamten seien durch einen „öffentlich-rechtlichen Vertrag“ an die Verwaltung gebunden. Zwischen den beiden Kriegen gab er dann diese Vorstellung zugunsten der statutarischen Konzeption auf, die im Schrifttum bereits vor 1914 formuliert worden war.[60] Das Parlament verabschiedete allerdings lediglich einige partielle Beamtenstatute, die auf die kommunalen Bediensteten Anwendung fanden. Das erste Statut für den öffentlichen Dienst des Staates wurde am 14. September 1941 unter dem Vichy-Regime erlassen (statut général des fonctionnaires civils de l’Etat et des établissements publics de l’Etat). Dieses Statut, inspiriert von autoritärem Gedankengut, griff zu Lasten der Beamten den strengsten, früher vertretenen Aspekt der Rechtsprechung des Conseil d’État wieder auf: den Verlust aller Rechte im Streikfall. Es schränkte darüber hinaus die Vereinigungsfreiheit ein und sah eine strenge Verpflichtung zur Mäßigung und Zurückhaltung vor. In anderen Punkten wurde die aktuelle Rechtsprechung des Conseil d’État kodifiziert.[61]

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Nach Kriegsende wurde es durch das Beamtenstatut (statut général des fonctionnaires) ersetzt, das Teil des Gesetzes vom 19. Oktober 1946 und weitgehend das Werk des damaligen Ministers für den öffentlichen Dienst (ministre de la Fonction publique), des Kommunistenführers Maurice Thorez, war. Dieses Statut erkannte den Bediensteten des Staates das Recht zu, Gewerkschaften zu gründen, die sich sogar an der Personalverwaltung, der Organisation und den Arbeitsabläufen der Verwaltung beteiligen sollten. Das Statut traf jedoch keine Aussage in Bezug auf das Streikrecht, obgleich die Präambel der Verfassung von 1946 als Grundsatz formuliert hatte, dass dieses „im Rahmen der Gesetze, die es reglementieren“, ausgeübt werde. Es scheint, als ob Thorez davon ausgegangen ist, dass dieses Recht aus dem gewerkschaftlichen Recht folgt. Der Conseil d’État sah sich deshalb zu der Äußerung veranlasst: Während der Zeit des Wartens auf die Gesetze, welche die Ausübung des Streikrechts regeln, kann die Regierung, die für das „gute Funktionieren der services publics verantwortlich ist“, selbst die Grenzen dieser Ausübung festlegen (Dehaene-Urteil vom 7. Juli 1950).[62] Diese Entscheidung, deren Reichweite auf das Personal der kommunalen Gebietskörperschaften und der services publics industriels et commerciaux erstreckt wurde, bildete die Grundlage einer sehr nuancierten Rechtsprechung.[63]

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Das Inkrafttreten der Verfassung der Fünften Republik von 1958 führte dazu, dass durch Verordnung vom 4. Februar 1959 ein neues Statut für den öffentlichen Dienst des Staates erlassen wurde. Der Wahl Mitterrands zum Präsidenten der Republik im Jahre 1981 folgte die Ausarbeitung eines vorteilhafteren und komplexeren Generalstatuts, verabschiedet mit Gesetz vom 13. Juli 1983 (loi portant droits et obligations des fonctionnaires). Die nachfolgenden Gesetze formulierten die Rechte und Pflichten sämtlicher Beamten und bauten die Regeln aus, die zunächst für die Bediensteten des Staates und der kommunalen Gebietskörperschaften, deren Bedeutung und Anzahl seit 1982 aufgrund der Dezentralisierungsgesetze zugenommen haben, und später auch für die Beschäftigten der Krankenhäuser Geltung erlangten.[64]

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V. Fazit: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Fundament des Verwaltungsrechts

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Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es zu einer erheblichen Zunahme der verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten gekommen. Dies hat zwei wesentliche Reformen ausgelöst, durch welche die Verwaltungsgerichtsbarkeit umgebildet wurde, die sich aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage sah, die Verfahren zu bewältigen (zu Beginn des Jahres 1953 war der Rückstand bei den Rechtssachen vor dem Conseil d’État beträchtlich, weil die geringe Anzahl an Mitgliedern, die mit streitigen Verfahren betraut waren, kaum mehr als 4 000 Streitfälle im Jahr entscheiden konnte; ein Vierteljahrhundert später war die Anzahl der Rechtssachen, die in einem einzigen Jahr vor die Verwaltungsgerichtsbarkeit gebracht wurden, bereits auf mehr als 71 000 gestiegen). Die erste Reform führte zur Schaffung der Verwaltungsgerichte (Tribunaux administratifs), denen im Gegensatz zu den Conseils de préfecture die Rolle von Richtern für Verwaltungsstreitigkeiten (juges de droit commun du contentieux administratif) zugewiesen wurde (Verordnungen vom 30. Juli und 28. November 1953). Mit der zweiten Reform wurden die Appellationsverwaltungsgerichtshöfe (Cours administratives d’appel) eingerichtet, wobei dem Conseil d’État im Hinblick auf deren Entscheidungen die Funktion eines Kassationsgerichts zukommt (Gesetz vom 31. Dezember 1987). Diese Reorganisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit hatte positive Auswirkungen auf die Behandlung der Verwaltungsstreitigkeiten: Allein im Jahre 2008 hat der Conseil d’État etwa 12 000 Rechtssachen entschieden; bei den Cours administratives d’appel waren es 27 500 und bei den Tribunaux administratifs 192 000.

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Zugleich stärkte der Conseil constitutionnel die Position der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Unter Fortentwicklung seiner Rechtsprechung identifizierte er grundlegende Prinzipien, die durch die Gesetze der Republik anerkannt werden (principes fondamentaux reconnus par les lois de la République). Er ließ sich insofern von der Rechtsprechung des Conseil d’État inspirieren, der vor allem seit 1945 auf allgemeine Rechtsgrundsätze rekurrierte, die jeder acte administratif wahren muss.[65] Der Conseil constitutionnel stellte in seiner Entscheidung vom 23. Januar 1987 „in Übereinstimmung mit der französischen Konzeption der Gewaltenteilung“ ein principe fondamental reconnu par les lois de la République auf, wonach die Verwaltungsgerichtsbarkeit die mit Verfassungsrang ausgestattete Kompetenz besitzt, Verwaltungsentscheidungen, die in Ausübung der Kompetenzen (prérogatives) der öffentlichen Gewalt getroffen wurden, aufzuheben oder abzuändern.[66] Diese Entscheidung spiegelt die in diesem Beitrag aufgezeigte Entwicklungslinie wider. Seit vielen Jahrhunderten gibt es in Frankreich Rechtsprechungsinstanzen, die zur Entscheidung von Verwaltungsstreitigkeiten berufen sind, genauso wie ein Recht existiert, das sich von demjenigen unterscheidet, das auf die Beziehungen zwischen Privatpersonen Anwendung findet, und das seit dem Ersten Kaiserreich als „administrativ“ bezeichnet wird.

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Die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Verwaltungsrecht zeigten sich viele Jahre hindurch wenig empfänglich für ausländische Einflüsse, auch wenn die Kenntnis über ausländische Verwaltungsinstitutionen im 19. Jahrhundert besser war, als gemeinhin vermutet.[67] Die französischen Verwaltungsrechtler vertraten aber die Auffassung, dass vor allem das französische System dem Ausland als Modell dienen solle. In der Tat hatte es eine beachtliche Ausstrahlung auf die Verwaltungsrechtsordnungen anderer Staaten.[68] Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges scheint die Entwicklung der französischen Verwaltungsrechtsordnung allerdings in Richtung einer Öffnung zu weisen. Der Wunsch nach Reformen trägt dazu bei, nach Vorbildern in den Ländern zu suchen, die mit denselben Veränderungen und Problemen konfrontiert sind wie Frankreich. Der Conseil d’État schenkt dem ausländischen Recht nicht nur in seinen öffentlichen Berichten, sondern auch im Rahmen seiner Entscheidungen zu Verwaltungsrechtsstreitigkeiten immer mehr Bedeutung. Auch die commissaires du Gouvernement greifen in ihren Schriftsätzen an den Conseil d’État zur Untermauerung ihrer Schlussfolgerungen zunehmend auf die Rechtsvergleichung zurück.[69] Die Rolle, die der Conseil d’État für die Ausarbeitung und Anwendung des Rechts spielt, ist nach wie vor sehr bedeutsam, ungeachtet gewaltiger Normmassen aus nationalen Gesetzen und Verordnungen, aus Akten der Europäischen Union und aus völkerrechtlichen Quellen. Die Verfassungsrevision vom 23. Juli 2008 hat ihn sogar in die Lage versetzt, in einem gewissen Umfang eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auszuüben, die neben diejenige der Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Abkommen getreten ist, die er bereits zuvor ausübte.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 43 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich › Bibliographie