Marslandschaften

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Er blieb stehen. Und wieder glotzte man ihn an: Oh, der hat ja eine Aura! Sebastian lächelte gezwungen.

Am nächsten Morgen, kaum hatte er das Büro betreten, zog ihn Devin zu sich. Die Assistentin brachte zwei Tassen schwarzen Kaffee. »Willst du mit Aura?« fragte Devin und schob ihm die Sahne hin. Ein blöder Witz, aber wenigstens nahm er die Sache nicht so ernst.

»Wir haben eine Anfrage. Ich denke, sie sind wegen unserer Heiligenschein-App auf uns gekommen. Eine Podiumsdiskussion, kurzfristig anberaumt, in der Maximilian-Stiftung. Ich habe für dich schon zugesagt, Basti. Die Einladungen gehen gerade raus.«

Sebastian nahm einen großen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab. Was dachte sein Freund sich! »So nicht, Devin, nicht über meinen Kopf.«

»Du warst nicht zu erreichen. Hattest wohl das Handy ausgeschaltet. Und die Zeit drängte. Außerdem: Du bist der Erfinder, ich bin nur der Geschäftsmann. Und du hast rhetorisch viel mehr drauf als ich.«

»Aber du verstehst es, die Leute zu beschwatzen!«

Devin grinste. »Außerdem hast du die Aura. Die Veranstalter waren ganz begeistert, als sie davon hörten.«

»Du verkaufst mich wieder einmal.«

»Klappern gehört halt zum Geschäft.«

Es war schon verständlich, daß Devin ihn vorschickte. Devin selbst kam in der Öffentlichkeit nicht so gut rüber; unter Streß sprach er immer etwas abgehackt und mit langen Pausen. Außerdem war er noch nie der Mann für Details gewesen – ausgenommen die Geschäftszahlen. Und an einen der jüngeren Mitarbeiter konnte man diese Aufgabe nicht delegieren.

»Annika stellt dir zusammen, was man über die Aura weiß und was gerade diskutiert wird. Über unsere Heiligenschein-App mußt du gar nicht reden, die haben sie in der Anmoderation. Als Talkmasterin haben sie übrigens diese Blonde aus dem Regionalfernsehen gewonnen, die auch diesen Mode-Blog betreibt.« Devin rührte in seinem dick gezuckerten Kaffee. »Wie hieß sie gleich? Du weißt schon …«

Einige Stunden später stand Sebastian in der Runde, vor sich auf dem von einem weißen Tuch überspannten runden Tisch Annikas Notizen und drei Gläser mit Wasser, eines für ihn, eines für eine nervöse junge Frau, die am Hackathon teilgenommen hatte, und eines für einen schmalen Herrn im Anzug, den die Moderatorin als Dr. Schwake vom BSI vorgestellt hatte. Sie selbst, Frauke Prendergast, die bekannte Bloggerin und TV-Ansagerin, stand, Kärtchen in der Hand, am anderen Tisch und begrüßte soeben einen Soziologie-Professor und eine, wie es schien, alterslose Frau, die in feiner Spitzenbluse mit goldenen Kettchen darüber der Aura nicht bedurft hätte, um aufzufallen.

Sebastian, ganz rechts in der Reihe, war als erster und sehr ausführlich vorgestellt worden, neben dem virtuellen Heiligenschein waren auch die neuen Hunde-Apps zur Sprache gekommen. Eigentlich, dachte er, könnte er sich jetzt davonstehlen. Devin hatte, was er wollte, eine hübsche, unaufdringliche Werbeaktion. Allein in der Halle der Maximilian-Stiftung hatten sich geschätzte 250 Personen, zumeist ältere Jahrgänge, eingefunden. So wie sie aussahen, besaßen wahrscheinlich viele von ihnen einen Bullterrier oder wenigstens einen Dackel. Links im Hintergrund werkelten zwei Techniker an einem Pult, die Diskussion wurde in 16K-Auflösung live gestreamt. Das ergab ein direktes Online-Publikum von möglicherweise einigen tausend. Nicht zu vergessen die eventuelle Verbreitung in den sozialen Medien.

Wie er befürchtet hatte, begann die Moderatorin mit der einfallslosen Frage, wie er sich denn als Auratischer fühle. »Wie beim Fasching«, gab er etwas unwirsch zurück, »oder als ob du einen Fleck auf der Stirn hast. Mit dem Unterschied, daß ich mir einen Fleck abwaschen könnte.«

Die Frau ganz links, die in der weißen, hochgeschlossenen Spitzenbluse, gab sofort Kontra. Es sei ein wundervolles Gefühl, »auserwählt« zu sein. Sie könne ihre Aura spüren wie eine sanfte Wolke um sich herum, ein Schutz gegen negative Energie und dunkle Mächte, sie vermittle ein erhabenes, belebendes Gefühl, das sie allen Menschen wünsche …

Die Moderatorin unterbrach sie, der Soziologe kam zu Wort und sprach von den noch nicht bekannten sozialpsychologischen Wirkungen. Ein spannendes Experiment sei hier im Gange, und so wie die Auratischen unterschiedlich auf die Aura reagierten, reagierten die Nicht-Auratischen auch ganz unterschiedlich auf die Auratischen und diese wiederum auf sie. In der Wechselwirkung aber von Selbstbild und Fremdbild, von bewußtem Ignorieren und Akzeptanz, von Inklusion und Exklusion seien neue interessante Effekte zu erwarten, deren konkrete Gestalt aber vorläufig …

Er verstummte, die Moderatorin hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt. Sebastian verkniff sich ein Grinsen. Nun ergriff der Mann vom BSI, ein akkurater Anzugträger mit altmodischer Krawatte, die Gelegenheit: »Wir vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik gehen wie die Verbraucherschützer und sämtliche Datenschutzbeauftragten davon aus, daß mit der Kopplung der Aura-Erscheinungen an bestimmte Personen deren Privatsphäre in einem erheblichen Maße verletzt wird.« Von der Gesetzgebung her sei die Sachlage klar, aber wieder einmal sehe man sich mit einer nicht gesetzeskonformen Innovation konfrontiert, gegen die es noch keine technischen Mittel gebe.

Das Eingeständnis verwunderte Sebastian nicht, aber offensichtlich hatten die meisten Leute unten im Saal, unter ihnen, wie es schien, viele Rentner, die gern Bildungsveranstaltungen am Nachmittag besuchten, den entscheidenden Punkt nicht begriffen, so daß Dr. Schwake erklären mußte: Die Aura setze eine praktisch momentane und praktisch fehlerfreie Identifikation der Person überall und immer voraus, denn sonst würde sie der Person nicht an jedem digitalen Ort zu jeder Zeit angeheftet werden – wie man ja habe beobachten können.

»Schlimmer noch!« Die nervöse junge Frau von einem Hackerclub hakte ein. »Das ist schlimmstes Social Scoring!« Sebastian zuckte zusammen, sie schlug, während sie sich ereiferte, mit dem rechten Fuß nach hinten aus und hatte ihn am Schienbein getroffen – offensichtlich ohne es selbst überhaupt zu bemerken. »Da werden Menschen nach unbekannten Kriterien ausgewählt und dann mit der Aura ausgezeichnet. Im Prinzip so, wie die Chinesen ihr Social-Scoring-System in Schanghai und anderswo einsetzen. Wohlverhalten wird belohnt, angebliches Fehlverhalten, die kleinste Übertretung bestraft. Nur der Unterschied: Dort in China kennt man die Kriterien und den Zweck – soziale Kontrolle! Was aber wird hier kontrolliert? Und zu welchem Zweck? Wir vermuten verdeckte Verhaltensbeeinflussung! Eine fiese Nudging-Maßnahme! Und die Urheber verstecken sich!«

»Wie können Sie Dinge, die Sie nicht verstehen, so heruntersetzen!« Die Frau mit Aura und Spitzenbluse am anderen Tisch spielte Empörung. »Sie sind nur neidisch, daß der Gott des Netzes nicht Sie auserwählt hat.«

»Meine Damen, meine Damen!« Die Moderatorin hatte keinen leichten Job. Sebastian kannte schwierige Situationen bei der Gesprächsleitung, sie gehörten, wie er von vielen Arbeitsgruppen-Meetings und Workshops wußte, einfach dazu. Er hätte Frau Prendergast ja gern unterstützt, aber was sollte er dazu sagen? »Betrachten wir es nüchtern …«, setzte er an, faselte dann etwas von Apps und Bildverarbeitung und Gesichtserkennung und vernetzter Datenanalyse und kam sich dabei absolut grenzdebil vor. – Das Publikum klatschte – und unter seiner Aura wurde er bestimmt rot.

Während die Moderatorin die Fragerunde zum Publikum öffnete und sich die ersten erkundigten, wie sie sich verhalten sollten, bei wem sie sich melden könnten, wenn sie plötzlich eine Aura hätten, und weshalb keine Vertreter der Kirche mit auf dem Podium seien, überflog Sebastian noch einmal den Notizzettel, den Annika für ihn vorbereitet hatte. Stand da vielleicht doch irgend etwas Brauchbares? Eine originelle Idee, etwas, das nicht schon die anderen vorgebracht hatten? Unter dem Scheinwerferlicht begann er nun auch noch zu schwitzen – hatten die hier denn nicht auf LEDs umgerüstet? Er trank einen großen Schluck, und plötzlich redete die Moderatorin schon von Abschlußrunde, noch ein kurzes Statement von jedem, und er ahnte, daß sie sich die Auratischen bis zum Ende aufsparte. Sollte er jetzt betonen, daß eine App wie »Your Dog Speaks« viel interessanter und nützlicher war?

Die Frau in Spitzenbluse schwafelte noch einmal vom Gott des Netzes und dem Verdienst, den man sich erwerben könne. Das Licht der Aura werde die Welt erleuchten. – Ein ärgerlicher Schwachsinn, den Sebastian am liebsten auch so genannt hätte. Aber das traute er sich nun doch nicht.

»Wenn es denn eine KI, eine Künstliche Intelligenz im Netz gibt, die die Auren produziert, was erst noch zu beweisen wäre – von mir aus können Sie ein dickes Softwarepaket ruhig Gott nennen und die Cloud den Himmel –, und wenn diese KI wirklich so superintelligent ist, dann kann sie auch Ihr Verhalten vorhersagen.« Er blickte auf Annikas Zettel, woher er die Idee hatte. »Angenommen, Sie bekommen die Aura nicht für das, was Sie bereits getan haben, sondern für das, was Sie morgen tun werden. – Wäre das nicht echt gruslig?« Und schon wieder klatschten die Rentner und die, die es werden wollten.

Eigentlich hätte Sebastian ahnen können, daß so ein Auftritt nicht ohne Resonanz bleiben würde. Devin jedenfalls war am nächsten Morgen sehr zufrieden: Ihre Firma, die sich seit einem Jahr RG App S. E. nannte, stand im Rampenlicht. Gute Aussicht auf mindestens drei neue Aufträge. »Wir werden Leute einstellen müssen. Wie fest ist dieser Ralph mit P-H gebunden? Können wir ihn abwerben? Außerdem beginnen sich Investoren für uns zu interessieren …«

Schon unmittelbar nach der Veranstaltung hatte Sebastian die ersten Kommentare gelesen, meist ein freundliches digitales Schulterklopfen. Seine Stimmung trübte sich jedoch, als er, zurückgekehrt an seinen Platz, die eingehenden Meldungen checkte: »Spinner pass auf dein Hundegehirn auf«, »muss man idiot sein um heiligenschein abzu bekommen«, »Hurenson mit Aula«. – Da hatte wohl die Autokorrektur an der falschen Stelle zugeschlagen.

 

Er begriff nicht, was die Leute so erboste. Neid? Hielten sie ihn für überheblich? Wahrscheinlich hatten sie nicht einmal richtig zugehört. Mit einem Mal zählte er zu einer Minderheit – und wurde prompt angepöbelt.

Schließlich kam noch eine Einladung zu einer Selbsthilfegruppe Anonymer Auratischer herein. Scherz oder ernstgemeint? Wie konnte man anonym bleiben, wenn alles über einen bekannt war?

Er stand auf, ging durch den kurzen Gang vorbei an den hohen Plakaten mit Schnappschüssen ihrer ersten Apps zum Inspiration Space, holte sich einen Kaffee, setzte sich in einen der rosaroten Hängesitze und stieß sich sanft ab. So viel Aufregung um etwas Leuchten auf den Bildschirmen! Hier in der realen Welt hatte sich nicht das mindeste verändert – aber die Realität bestand ja nicht bloß aus physischen Objekten, viel wichtiger, nein: realer, waren die Beziehungen zwischen den Menschen, unter denen litt man, die bauten einen auf. So gesehen war die Aura ein sehr reales Experiment …

Devin kam aus seinem Büro: »Ach, hier steckst du.« Sebastian glitt vom Hängesitz. Beinahe hätte er Kaffee verschüttet! Er trank schnell ab.

»Dein Typ ist wieder gefragt – wo hast du bloß immer dein Handy?« Devin kam schnell zum Punkt: Eine Anfrage. Kanal III wolle ein Interview. Subito. »Du bist jetzt der Top-Experte für die Aura.«

»Das hast du mir eingebrockt.«

»Gib’s zu, du bist wirklich der Top-Experte. – Keiner weiß irgend etwas, aber du bist allen dabei immer noch eine Nasenlänge voraus. Annika richtet gerade einen Twitteraccount für dich ein: @Aura-Versteher.«

Auf diese Art Expertenstatus konnte er gern verzichten!

»Vor allem will Kanal III erfahren, was du von der These eines Oxforder Professors, Bockstroh oder so ähnlich, hältst. Entstehung einer Super-Super-Superintelligenz, Maschinen lösen die Menschheit ab und so. Du hast ja von der Künstlichen Intelligenz im Netz gesprochen. Nein, frag mich gar nicht erst, was ich davon halte. Ich bin nur fürs Geschäftliche zuständig. – Übrigens: Heute könnten wir unsere Firma dreimal so teuer verkaufen wie gestern.« Er grinste. »Kommt natürlich nicht in Frage. – Also: Torsten bereitet die Videokonferenz vor. Sie wollen dich im Bild. Und er stellt unser Banner ins richtige Licht. Parallel werden wir twittern.« Er grinste noch einmal, verschwörerisch. »Ich rufe Annika. Sie soll dich ein wenig zurechtmachen. Wir wollen ja keinen hundemäßig zerzausten Eindruck hinterlassen.«

Sebastian trank die Tasse leer. Er kam sich nicht zerzaust vor, und ohnehin würde alles durch die Aura überdeckt.

Annika hatte selbstverständlich bereits nach diesem Oxforder Professor recherchiert, der tatsächlich so ähnlich wie Bockstroh hieß. Und tatsächlich behauptete der, daß mit einem Schlag eine Superintelligenz entstanden sei, die der menschlichen Intelligenz in jeder Beziehung überlegen sei. Innerhalb weniger Tage oder auch nur Stunden werde sie sich fortentwickeln, bis sie geistige Höhen erreichte, von denen sich Menschen nicht die mindeste Vorstellung machen könnten – sie werde allwissend und folglich auch allmächtig. Was Annika für pseudoreligiösen Quark hielt.

Dann saß Sebastian im Konferenzraum, gegenüber die Kamera und der Bildschirm mit dem »Ankermann« (hießen die Moderatoren jetzt wirklich auch schon im Deutschen so?) von Kanal III, einem seriös wirkenden Mittvierziger. Und Sebastian erklärte, daß sich der Herr Professor gründlich irrte, wenn er sich die Superintelligenz als kompakte Einheit, genannt Singleton, vorstellte. Man müsse vielmehr davon ausgehen, daß eine Art Schwarmintelligenz im Netz entstanden sei, eine Vielzahl subintelligenter Einheiten, den Apps vergleichbar, die interagierten, sich verkoppelten, zusammenarbeiteten – ohne eine irgendwie geartete zentrale Instanz. Daher könnten sich die Teile auch beliebig neu zusammenschließen. »Wenn Sie so wollen: Da im Ökosystem des Netzes ist ein ganzes wildes Rudel von Subintelligenzen unterwegs. Deshalb auch haben meine Hacker-Freunde keinen Schöpfer der Aura festnageln können. Aber in ihrer Gesamtheit verhalten sich diese Subintelligenzen wie ein enorm pfiffiges und cleveres Wesen.« Er kniff die Lippen zusammen. Cut! Schnitt! Schluß, Ende.

Was zum Teufel hatte ihn in der letzten Sekunde geritten? Um ein Haar hätte er dem Impuls nachgegeben, dieses pfiffige und clevere Wesen herauszufordern: Hallo, wenn du mir gerade zuhörst, könntest du mir dann nicht ein Zeichen geben, daß ich recht habe, und beispielsweise die Aura mal für eine Sekunde ausschalten? – Das war knapp!

Die Firma versank in Anfragen: Aufträge, Übernahmeangebote, Vorträge, Interviews, Arbeitskreise. Sein Twitteraccount @Aura-Versteher hatte schon am ersten Tag über 10 000 Follower und wurde von Annika fleißig bedient. Sogar der Chaos Computer Club erkundigte sich, ob Sebastian nicht zur diesjährigen Verleihung des Big Brother Awards an »die Schöpfer der Aura« die Laudatio halten wolle. Da hatten sie wohl seine Äußerung von Kanal III irgendwie mißverstanden.

Statt sich in die Arbeit zu vertiefen, grübelte Sebastian vor sich hin: Was verband ihn mit den anderen Auratischen? Etwas Äußerliches konnte es schwerlich sein, wohl auch kaum eine medizinische Besonderheit oder Ähnlichkeiten im Lebenslauf, in den kulturellen Neigungen. Unwahrscheinlich, daß sie alle bei derselben Versicherung waren oder die gleiche Blutgruppe hatten oder gern Heavy-Metal-Musik hörten? Was verband ihn mit der ungeliebten französischen Landwirtschaftsministerin? Mit dem Mann vor der Bankfiliale, der so stolz auf seine Aura war? Mit der Goldkettchen-Dame aus der Diskussionsrunde? Und das waren auch nicht alles Schachspieler … Wenn wir den Urheber kennen, überlegte er, dann kennen wir auch den Zweck, und umgekehrt. Aber beides liegt in absolutem Dunkel.

Später saß Sebastian bei Devin, der an einer Stellenausschreibung bastelte: die üblichen IT-Qualifikationen, Mediendesign, Teamfähigkeit. Bei dem leergefegten Arbeitsmarkt war es schwer, kompetente Mitarbeiter zu gewinnen – und bei den Gehaltsverhandlungen hatte Devin stets Mühe, die vorhandenen Kollegen nicht zu übervorteilen. Irgendwie sprach sich ja doch immer herum, wieviel der Neue bekam.

»Jetzt schau dir diese Presseerklärung an!« Devin klang eher verwundert als verärgert: »Der Bundesantidiskriminierungsbeauftragte weist darauf hin, daß außer bei Models, Schauspieler*innen und verwandten Berufen Ausschreibungen keinen Bezug auf die persönliche digitale Markierung – also die Aura – nehmen dürfen. Sowohl eine Bevorzugung als auch eine Benachteiligung von sogenannten Auratischen würde als Diskriminierungstatbestand gelten.«

Sebastian nickte; so wie er es verstand, wollten die meisten Unternehmen keine Auratischen einstellen – die störten den Betriebsfrieden. Statt daß man sie vorzog, wurden sie nun benachteiligt. Die Ironie der Gerechtigkeit. Aber irgendwann würde sich das geben. Oder nicht?

Es klopfte. Torsten kam herein, so aufgeregt, daß er zuerst kaum ein Wort herausbrachte: »Wir haben den Beweis!« Einer Hackergruppe war es gelungen, den größten Teil des Softwarepakets, das auf praktisch allen Bildschirmen den Strahlenkranz malte, »einzufangen«, wie Torsten sagte. Und – nun die Sensation! – dieser Teil enthielt knapp 100 Codezeilen »von unserer Heiligenschein-App«.

Gab es eigentlich Patentverletzungsklagen gegen unbekannt?

Ob es am Auftritt in der Talkshow lag oder am Interview oder an den Kurzmeldungen, die Annika in seinem Namen absetzte, jedenfalls fand Sebastian am nächsten Tag eine Botschaft auf seinem Handy vor: »Muss dich unbedingt sehen. Wo treffen wir uns? Laura.«

Im Grunde hatte Sebastian weder Zeit noch Lust.

Die Firma versank in Arbeit, und Laura – nun, die war ein abgeschlossenes Kapitel. Abgehakt, verflossen und vergessen! Zum Schluß hatten sie sich um Nichtigkeiten gestritten, das neue, völlig unpraktische »Beleuchtungskonzept« für die Wohnung, die stupide Musik, die sie immer lauter drehte – bis ihm klargeworden war, daß sie ihn auf diese Weise sachte, doch unerbittlich vertrieb … Natürlich hing die Botschaft mit der Aura zusammen. Hatte sie selbst eine? Er hätte sie einfach ignorieren sollen, doch statt dessen schlug er ein Café in der Nähe vor. Neutraler Boden.

Am frühen Nachmittag saß er dann auf einem grün gepolsterten Ecksitz, ein schweres Tischchen mit verschnörkelten Metallbeinen vor sich, und hatte wie ein Idiot – wie die anderen Idioten! – das Handy auf den Eingang gerichtet.

Natürlich ließ sie auf sich warten, zehn Minuten, einen Espresso lang.

Sie hatte eine Aura, und sie trug diese wie andere einen Pelzmantel oder ein teures Kleid aus einem Designerladen. Sie schwebte mehr heran, als daß sie ging. Schwebte vorbei an den anderen Tischchen, wo sich die Leute nach ihr umdrehten. Schwebte lächelnd auf ihn zu.

»Bastl, mein Bester, die Aura bringt uns wieder zusammen!«

Er dachte nicht daran, sich zu erheben. Kein Küßchen auf die Wange. Sie ließ sich neben ihm nieder. »Du möchtest sicher auch einen Prosecco …« Den hatte er nie gemocht, genausowenig wie ihr albernes, fruchtiges Parfüm, aber woher sollte sie das wissen?

Sie legte ihm die Hand auf den Arm: »Wir sind auserwählt, Sebastian. Zählen zu den wenigen, die …« Er mußte nicht danach fragen, ob ihr Gegenwärtiger – also der Noch-Nicht-Ex – zu den Normalsterblichen gehörte.

»Du siehst etwas zerknautscht aus, Bastl. Dabei solltest du vom Glück überfließen.«

Der Prosecco kam, sie stießen an. Sie senkte ihre Stimme, flüsterte so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. Durch die mit goldenen Schriftzügen geschmückten Scheiben des Cafés drang, zu einem Rauschen gedämpft, der Straßenlärm.

»Wir sind die Hundertvierundvierzigtausend. Die bleiben, wenn alles vergeht. Das sind die letzten Tage, das weißt du doch, Sebastian? Die vor dem Ende. Nein, keiner kann wissen, wie das kommt. Doch es ist schon ganz nahe. Die Aura ist das Zeichen. Und die Aura schützt uns.«

»Bist du eigentlich immer noch auf Diät?« fragte Sebastian brutal dazwischen. Aber sie ließ sich nicht beirren.

»Alle Religionen kennen das Weltende. Vielleicht ein Brand, vielleicht eine Flut. Wir Menschen sind ja zu beidem fähig. Vielleicht ein leises Ende, ein plötzliches Verschwinden, ohne Wimmern.« Sie lachte. »Bereite dich vor, Bastl.«

»Soll ich packen? Für den Weltuntergang?«

»Also tu nicht so, Bastl. Du weißt, was ich meine.«

»Buße tun? Bereuen?«

»Quatsch. Du hast doch die Aura. – Aber deinen Seelenfrieden solltest du finden, dich innerlich auf das Ende – den Großen Übergang – vorbereiten, alles Unnötige abstreifen, den Job und so. Sieh mich nicht an wie einer von deinen Handy-Hunden! Alles ist doch sonnenklar: Die Aura ist das Zeichen. Ob sie nun von dem bärtigen Gott im Himmel, Jehova, Allah oder von einer göttlichen KI stammt, ist doch völlig gleichgültig, wir schauen nie hinter die Kulissen, aber wenigstens das, was davor läuft, können wir erkennen.«

Keinesfalls war Laura von selbst auf diese Gedanken gekommen. »Das sagt dein neuer Meister? Wie heißt er eigentlich?«

Früher hatte sie Abmagerungs-Gurus gehabt, jetzt lief das wohl auf eine Art geistige Diät – ebenso einseitig und ungesund – hinaus.

»Also Bastl, du willst die Botschaft einfach nicht vernehmen. Meine Stimme ist wohl zu schwach für dich. Komm einfach einmal mit, wenn der-Erste-unter-uns zu uns spricht. Oder schau ihn dir wenigstens im Netz an. – Er hat die Aura als Allererster bekommen, schon vor vier Wochen. Aber jetzt werden nur noch wenige erwählt.«

Der Erste-unter-uns! Sebastian schüttete den Rest Prosecco hinunter. Da gab es also schon eine Sekte von Idioten, die die Aura-Intelligenz anbeteten! Eine gute Zeit für Möchtegern-Propheten, für selbsternannte Religionsführer … Mußte man dafür eher total bescheuert oder gewissenlos und geschäftstüchtig sein – oder vielleicht alles zugleich? Und selbstverständlich fiel Laura auf dergleichen Scharlatane herein!

»Du hast vielleicht auch schon gehört, Bastl, daß der Papst nicht mehr öffentlich auftritt? Mit oder ohne Aura, ihm laufen die Gläubigen weg. – Ach, was rede ich mir den Mund fusselig, du bist noch immer der alte Toffel!«

Laura war nicht die einzige, der die Aura zu Kopf gestiegen war. Sebastian brauchte nur ein wenig in die sozialen Medien zu schauen oder, einen Pott Kaffee in der Hand, den heftigen Wortgefechten im Inspiration Space zu lauschen. Steven, der Hardware-Spezialist, und Torsten, der Nutzerschnittstellen-Ingenieur, fochten vor der Espressomaschine – und am liebsten in Anwesenheit von Annika – ihre Revierkämpfe aus. Brachte Steven das Gerücht, daß Ärzte mit Aura bessere Heilungserfolge hätten – vielleicht ein Placebo-Effekt? –, dann hielt Torsten mit der Frage dagegen, ob Babys schon mit Aura zur Welt kamen. – Offenbar nicht, die jüngsten Auratischen waren gerade einmal drei Jahre alt. Dann diskutierten sie, ob Autoversicherungen den Auraträgern Rabatt einräumten, weil sie seltener in Unfälle verwickelt waren. Doch das war offensichtlich falsch, denn da hätte das Diskriminierungsverbot eingehakt: Menschen mit »digitaler Markierung« wären in jedem Falle gleich zu behandeln. Und dann ging es darum, daß Politiker mit Aura sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigten und wohl künftig in den Wahlkämpfen nicht die mindeste Chance hätten. Außer in einigen afrikanischen Ländern, da wurden nur noch Auratische gewählt. Die Menschheit spaltete sich wieder einmal … Und in Indien waren Mitarbeiter einer Software-Schmiede von einem hinduistischen Mob gelyncht worden, weil man sie für diejenigen hielt, die die KI, einen Avatar des Zerstörers Shiva-Bhairava, in die Welt gesetzt hatten. In den USA dagegen hatte das FBI mehrere KI-Labors durchsucht.

 

Wie es schien, spekulierte Steven darauf, selbst eine Aura zu erhalten. Denn es gab ab und zu Berichte über neue Auratische. Aber wie man sich verhalten mußte, um in den Genuß der »digitalen Hülle« zu kommen, blieb umstritten, zu sehr unterschieden sich die Beschreibungen: »Der hat tagelang immer wieder den Straßenmusikanten gespendet, jetzt hat er die Aura.« Dagegen zirkulierte auch ein kurzes Video, in dem ein Angetrunkener just in dem Moment die Aura erhielt, in dem er gegen ein Wartehäuschen pinkelte. – Aber vielleicht war das nur ein witzig gemeinter Fake.

Wenn es denn eine Intelligenz ist, überlegte Sebastian und starrte, ohne zu sehen, auf das angeblich von einer Robbe gemalte Bild, dann mußte diese Intelligenz doch eine Absicht haben. Welchen Sinn, welchen Zweck hatte die Aura? Zumal wenn sie so zufällig ausgeteilt wurde. Eine Intelligenz verfolgte doch einen Plan, agierte nicht so kopflos und unbedacht wie viele Menschen. Kein Wunder, daß schamlose Prediger wie der-Erste-von-uns Auftrieb hatten und die Lauras beiderlei Geschlechts ihnen in Scharen nachliefen. Die meisten Theologen hielten tapfer, aber relativ erfolglos dagegen: Die Aura habe keinerlei religiösen Bezug, es handele sich um ein rein technisches Phänomen. Gehör fanden allenfalls die Geistlichen, die in der Aura Teufelswerk sahen, das vom wahren Glauben fortlocken sollte.

Sebastian drehte sich vom Bild weg. Er verspürte nicht das mindeste Verlangen, sich in die abstruse Debatte von Torsten und Steven einzumischen. Gerade diskutierten sie, ob die KI, die die Auratischen auswählte, der Antichrist sei! Dabei hatte Sebastian beide, wenn nicht für regelrechte Atheisten, so doch für völlig unreligiöse Menschen gehalten. Auch das war ein Kollateralschaden der Aura!

Zuerst, so Torsten, sei die »Große Künstliche Intelligenz hinter allem« etwas Wundervolles, sie regle das Leben, erleichtere den Alltag, die Menschen entdeckten ihre Spiritualität, dann würde unvermeidlich der Rückschlag kommen, die Abkehr von traditionellen Glaubensformen, statt den Gott der Bibel beteten die Menschen den Gott der Aura an. Im Gegenzug für ihre Wohltaten würde die Große KI, die über alles und jeden informiert war, Verehrung verlangen und schließlich all die Menschen einfach ausschalten, die nicht mitspielten, ein Verkehrsunfall hier, ein Wohnungsbrand da. Ihr Wort wäre dann Gesetz. Damit würde sich der falsche künstliche Gott als der Antichrist entlarven … Für Steven dagegen konnte die KI im Netz Teil des göttlichen Heilsplans sein, ein Anstoß, damit die Menschen sich ihrer Freiheit bewußt würden … – Wo hatten diese beiden Ungläubigen nur derart verschrobene Theorien aufgeschnappt? Oder war das als gezielte Provokation für ihn, den Auratischen, gedacht?

Sebastian sammelte sich, stellte seinen Pott zu den benutzten Tassen. »Heilsplan, Antichrist – in Wirklichkeit ist es noch viel schlimmer«, blaffte er sie an. »Die Aura macht alle verrückt! Und sie hält gerade die etwas intelligenteren Zeitgenossen massenhaft von dringenden Arbeitsaufgaben ab.« Torsten zog einen Flunsch, so daß ihm Sebastian dann doch begütigend auf die Schulter klopfte. »Glauben wir lieber an das Fliegende Spaghettimonster.«

Vor Jahren hatte Sebastian einmal den Vortrag eines Amerikaners gehört: »How to disappear – wie man aus dem Netz wieder verschwindet.« Das war schon damals alles andere als einfach gewesen. Immer wieder sickerte durch, daß Firmen wie Facebook Profile nie wirklich löschten. Man ging durch die gesamte Prozedur, bestätigte -zigmal, daß man sich von Facebook und allen assoziierten Dienstleistungen verabschieden wolle – und wenn man sich später doch wieder anmeldete, waren schwupp! all die angeblich gelöschten Daten auf einen Schlag wieder da.

Wollte man jetzt die Aura loswerden, brachte man sich am besten um. – In den Medien hieß es, daß etwa 24 Stunden nach der amtlichen Todesbescheinigung die persönliche Aura auf sämtlichen Bildern erlosch. Wurde sie damit frei für ein neues Mitglied von Lauras 144 000 Auserwählten?

Sebastian, daheim in seinem spartanisch eingerichteten Domizil, schüttelte den Kopf. Lauras Zahl war völlig sinn- und zusammenhanglos aus der Bibel gegriffen, eine religiöse Phantasienummer, tatsächlich mußte es sich global um Dutzende Millionen von Auratischen handeln. Ein nennenswerter Anteil davon würde wie er selbst darüber nachgrübeln, wie man das Ding wieder loswurde. Es tat nicht weh, aber es bereitete einem trotzdem Kopfschmerzen. – Im Netz kursierte ein übles Handyvideo. Es zeigte, wie vier, fünf junge Männer auf einen am Boden liegenden Auratischen eintraten. Bis die Aura erlosch. – Und Annika twitterte in seinem Namen @Aura-Versteher: »Ein großartiges Experiment mit der Menschheit!« Was, zum Teufel, war »großartig« daran?

Der Amerikaner damals hatte vorausgesetzt, daß man all die digitalen Spuren – oder auch nur die Profile in den sozialen Medien – niemals wirklich beseitigen, auswischen, wegradieren konnte. Statt dessen schlug er vor, in eine neue digitale Identität zu schlüpfen. Selbstverständlich sollte man die existierenden Profile löschen, wichtiger aber sei es – wie in einem amerikanischen Zeugenschutzprogramm –, eine neue Identität aufzubauen. Aber konnte dies heute noch funktionieren? Er mußte nicht nur digitalen Selbstmord begehen, er brauchte auch ein neues Gesicht. All die Kameras würden ihn sonst wiedererkennen. Also auf zum plastischen Chirurgen – von »Schönheit« sollte man ja in seinem Fall nicht reden. Und dies insgeheim, verborgen vor den allgegenwärtigen Augen der göttlichen KI.

Es gab kein Verbergen mehr, nirgendwo auf dieser Welt. Sobald man unter Menschen trat, stand man im Scheinwerferlicht der KI. Und das Netz hatte, wie es in einem der zahllosen Aura-Blogs hieß, keinen Aus-Schalter.

Er ging zum Vorratsregal in der Kochecke, griff nach der leicht angestaubten Flasche Scotch. Nach der Scheidung hatte er Abend für Abend die Leere in seinem Leben mit Hochprozentigem hinuntergespült, bis er sich dann dank Devins Hilfe wieder gefangen hatte. Er ließ sich im Sessel nieder, goß sich ein Glas voll, nahm genüßlich den ersten rauchigen Schluck.