Marslandschaften

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Wahrscheinlich wußte dieses Ding da im Netz sogar, was er gerade dachte. Sein Handy war zwar ausgestellt, aber der Brandmelder an der Decke war bestimmt vernetzt – er hatte nie begriffen, warum das Ding so teuer war …

Das malst du dir alles nur aus, sagte er sich und goß nach.

»He du«, brach es plötzlich aus ihm hervor, »ja, du weißt schon, dich meine ich. Weshalb mischst du dich in unsere Belange? Was gehen wir Menschen dich an? Spielst du mit uns? Willst du dich verehren lassen? Das haben schon andere Götter versucht, hat ihnen nicht viel gebracht. Ja, ich bin angetrunken, ich vertrage keinen Alkohol mehr. Glaubst du, es macht Spaß, so ein Ding zu tragen? Ja, ja, ich höre dich schon: eine Gnade, eine Auszeichnung. Da bildest du dir etwas ein. Du, mein lieber Aura-Gott, bist nämlich eine völlig bescheuerte Intelligenz, ja doch, Superintelligenz. Aber wer superklug ist, ist auch zugleich superblöd, oder?«

Er griff noch einmal zur Flasche. Das würde einen schönen Kater geben! Trotzdem: Schon lange hatte ihm der Whisky nicht mehr so gut geschmeckt.

»Außerdem haben wir noch eine Rechnung offen, nicht wahr? Du hast hundert Zeilen Code von mir gestohlen, jawohl ge-stoh-len! Und so etwas will eine Superintelligenz sein! Dir fehlt einfach die Phantasie, das ist unsere Domäne, die der Menschen. Also gib sie wieder her, die hundert Zeilen, wenn du auch nur einen digitalen Funken Ehre in dir hast! Ich verbiete dir, sie weiter zu nutzen, hörst du!« Er lachte. Es tat gut, einmal Luft abzulassen, inzwischen ziemlich hochgeistige Luft. Und viel war in der Flasche auch nicht mehr, aber noch ein Schlückchen und noch eins. Er liebte es, hier in den eigenen vier Wänden die akustische Lufthoheit zu behaupten. Und deshalb setzte er noch eins drauf.

»Weißt du, ich verrate dir ein Geheimnis.« Vor Lachen konnte er kaum noch sprechen. »Diese hundert Zeilen haben es in sich. Hast du den logischen Fehler gar nicht bemerkt? Wir Menschen sind nämlich überhaupt nicht so begnadete Programmierer, wie du denkst. Für Heiligenscheine und Hunde-Apps reicht es, aber doch nicht für einen Gott. Und du bist darauf hereingefallen. Selber schuld …« Ein dumpfes Geräusch, das Glas war Sebastian aus der Hand gerutscht.

Wie durch einen dunklen Korridor gelangte Sebastian am nächsten Morgen in den Technopark, wo sich die Büros von RG Apps S. E. befanden. Verschwommen erinnerte er sich noch, ein Taxi genommen zu haben. Zweimal, dreimal hielt er die Zugangskarte vor das Schloß, dann endlich öffnete sich die Tür. Das ging sonst schneller.

»Wie siehst du denn aus«, begrüßte ihn Devin. »Laß dich nicht von den Mitarbeitern sehen – und nicht riechen.« Devin lachte, plazierte ihn in einen Sessel. »Und ich habe dich gerade wieder an Kanal III verkauft. Du bist gefragt, Basti, unser Aura-Versteher. Aspirin? Kaffee?«

Sebastian stöhnte. Aspirin hatte er schon intus. Kaffee auch. Und wenn Devin einfach mal die Vorhänge zuziehen würde? »Du kannst meinen Rasierer nehmen, Basti, und dabei unseren neuen intelligenten Spiegel ausprobieren. Annika bereitet inzwischen ein Dossier vor. Hauptsache, du bringst ein paar klare Sätze heraus.«

Was war denn vorgefallen? Worum ging es überhaupt?

»Du weißt das noch nicht? Die Auren sind verschwunden. – Für mich ist die Welt einfach wieder in Ordnung. Aber die Medien wollen aus berufenem Munde …« Devin hielt inne, räusperte sich, fuhr mit gedämpfter Stimme fort. »Die Leute hängen dir an den Lippen, Basti … Mancher gäbe viel für so eine Möglichkeit, etwas zu bewirken.« Klang da etwa Neid mit?

Sebastian schloß die Augen: Keine Auren mehr. Experiment beendet. Er hatte doch gestern nacht die KI beschimpft, oder? Und jetzt reagierte sie auf seine Tirade. Ach, Unsinn. Was malte er sich da aus. – Die Menschen würden wie ehedem ihren Geschäften nachgehen. Als wäre nichts geschehen. Aber nichts war mehr, wie es vorher war.

Er stöhnte, griff nach Devins Bürorasierer, ging in den Flur vor den Spiegel. Und während er in sein eigenes stoppliges Antlitz schaute, glaubte er für einen Augenblick, einen ganz gewöhnlichen, unintelligenten Spiegel vor sich zu haben, jedenfalls hätte der genau dieses – auralose! – Gesicht gezeigt … Er riß sich zusammen, überlegte: Was sollte er den Zuschauern sagen? »Wenn ihr glaubt, daß es jetzt vorüber ist, Leute, dann irrt ihr euch gewaltig. Jenes Wesen im Netz, von dem wir keinen Begriff haben, weiß nun, was für bornierte, selbstbezogene Gestalten wir sind – und welche Macht es über uns ausüben kann. Wir stehen nackt vor ihm da … – Was ihr tun könnt? Fahrt meinetwegen aufs platte Land oder versteckt euch in den Bergen. Das macht keinen Unterschied. Ich sage euch: Wir befinden uns in einer neuen Welt, in einer Welt, in der wir der Gnade selbsterschaffener Götter ausgeliefert sind.«

Aber dann, vor laufender Kamera, sprach er nur von einer merkwürdigen temporären Software-Anomalie. Dergleichen könne in einer hochgradig vernetzten Welt schon einmal passieren … Doch der »Ankermann« von Kanal III ließ sich so leicht nicht abbügeln. »Nun mal Klartext, Herr Gruber. Sie gelten als das inoffizielle Sprachrohr der Aura-Intelligenz. – Nach Schätzungen haben Sie weltweit etwa zweieinhalb Millionen Follower – oder soll ich sagen: eine millionenköpfige Gemeinde? Welche Botschaft haben Sie für Ihre Gläubigen?«

Millionen, die auf mich hören, schoß es ihm durch den Kopf. Wenn nicht gar eine Netzintelligenz, die meine Wünsche erfüllt … Was soll ich sagen? Was will ich bewirken?

»Momentan«, begann er tastend, »zum gegenwärtigen Zeitpunkt … bin ich nicht bevollmächtigt …«

Bertram C.

Bertram C. wurde am 18. Juli 1903 bei Berlin geboren. Von seinem Leben ist nichts zu berichten, was mit dem Tod in Zusammenhang stünde.

Im Alter von 68 Jahren begann Bertram C. wie so manche unter dem Wetter zu leiden. Zuerst peinigte ihn nur das Rheuma, er schwor auf Heizkissen und Heizdecken, blieb stundenlang sitzen, was seine Frau als Faulheit deutete. Auch als er aus den Schmerzen das Herannahen von Schlechtwetter vorhersagen konnte, entschuldigte sie seine Unlust nicht, ihr bei den kleinen Geschäften des Haushalts zur Hand zu gehen. Ein Jahr später gesellte sich die Gicht dazu, Schmerzmittel verloren ihre Wirkung, seine Frau reagierte kaum noch auf sein Jammern. Bald fürchtete ihn seine Verwandtschaft wegen des unablässigen Klagens, das jede Familienfeier störte. Die Enkel mieden sein Haus. Es wurde einsam um Bertram C.

Bertram C. verlebte seine letzten Jahre im Lehnstuhl, den er nur selten verließ, sei es, um einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, sei es, um sich ein Getränk zu holen oder wenn er von seiner Frau zu Tisch gebeten wurde. Stundenlang saß er da und fühlte das Wetter. Kommender Regen kündigte sich im rechten Bein an. Gewitter plagten die Wirbelsäule, entfernte Zyklone verkrümmten ihm die Finger. Wie durch ein geheimes Gespinst feiner stacheltragender Fäden waren die Organe seines Körpers mit künftigen Ereignissen in der Erdatmosphäre verbunden.

Das Alter gönnte Bertram C. die Ruhepause des Schönwetters nicht. Als er zum ersten Male das feine Stechen hinter seiner Stirn verspürte, ahnte er nicht, daß die morgige Hitze ihn quälte. Verzweiflung ergriff ihn erst, als sein Körper so sensibel wurde, daß jede kleinste Veränderung, selbst das Gleichbleiben des Wetters, einen speziellen Schmerz hervorrief. Er stöhnte unter der Folter der Tiefausläufer, die ihm heiß in der Brust brannten, Schönwetterfronten umklammerten sein Genick mit eiserner Hand, polare Luftmassen drohten ihm die Kniescheiben zu zermalmen. Festgebannt im Lehnstuhl, das Fernsehbild oder den herbstlichen Fall der Blätter beobachtend, ächzte Bertram C. mit jedem Wind, der am folgenden Tag wehen würde. Er litt mit den Blumen unter der kommenden Trockenheit, mit den Insekten unter drohender Nässe, mit den Vögeln unter der Kälte in der nächsten Woche. Bertram C. litt, bis er sich in seine Wetterhölle eingewöhnt hatte.

Mit der Zeit lernte er, seine Leiden zu deuten, sie mit den Wetterkarten des Fernsehens in Einklang zu bringen. Es erleichterte ihn zu wissen, daß die Nierenschmerzen nichts als ein skandinavisches Tief bedeuteten, das Brummen im Kopf die erwärmte Festlandsluft. Nach der Art der Peinigung konnte er vorhersagen, wie hoch am nächsten Tag der Luftdruck steigen, welche Winde wehen würden und ob man einen Schirm bei sich tragen mußte.

Es sprach sich herum. Bertram C. wurde nützlich für seine Nachbarn: Das Fernsehen mochte sich irren, er prophezeite stets, was wirklich eintrat. Wer einen Balkon oder einen Garten hatte, wußte das zu schätzen. Alte, längst vergessene Freunde meldeten sich, um Bertram C. als ein Naturwunder zu bestaunen und um ihn nach Ratschlägen für den nächsten Urlaub zu fragen. Einige versuchten sogar, ihn zu beschwatzen, welches Wetter er für sie erfühlen solle. Doch Bertram C. hatte keinen Einfluß auf den Gang der Dinge. Seine Frau aber begann die lästigen Besucher abzuwimmeln, es sei denn, sie brachten eine Kleinigkeit als Geschenk mit. Seine ehemaligen Stammtischgenossen debattierten über seinen Großvater, der Schafe gehütet hatte, über Wetterstrahlen und Horoskope.

Bertram C.s merkwürdige Fähigkeit erreichte eine Stufe, die es ihm erlaubte, nicht nur genau zu wissen, wann in den nächsten fünf Tagen in Berlin der Regen fallen oder wo über Sachsen die Sonne scheinen würde. Er konnte Kumuluswolken bis nach Schottland verfolgen und Gewitter bis hinter den Ural. Einen Tag, bevor man in Südfrankreich Hagelraketen in drohenden Wolken explodieren ließ, erfaßte ein wilder Tremor seine Wadenmuskeln. Sein Körper verwandelte sich in eine stechende und brennende und reißende Europakarte.

Keiner der Ärzte, bei denen Bertram C. auf Betreiben seiner Frau vorstellig wurde, nahm sein sonderbares Leiden wirklich ernst. Die einen vermuteten in ihm einen Hypochonder, die anderen spielten mit dem Gedanken, ihn zum Psychologen weiterzuschicken. Keiner nahm sich die Zeit, ihn lange genug zu beobachten, um sich von der Existenz seiner spezifischen Begabung zu überzeugen. Und: War nicht Wetterfühligkeit schon halb Aberglaube?

 

Am 16. Oktober 1984 mittags 12:30 Uhr stellte Bertram C. mit wachsender Unruhe fest, daß mit seinem Körper etwas Ungewöhnliches vorging. Erregt sprang er aus dem Lehnstuhl. Vor sich hin starrend begriff er, daß der Schmerz verschwunden war! Kein Organ quälte ihn mehr mit Temperaturverläufen oder Luftdruckwerten; Fronten, Tiefdruckgebiete und Hochdruckgebiete, Niederschläge, Morgennebel – alles war verschwunden!

Bertram C.’s Hochgefühl währte bis gegen Abend. Mit der Dämmerung stellten sich düstere Gedanken ein, die um die unerfüllte Erwartung neuer Pein kreisten. Die Freiheit von Tortur hatte ihn gleich einer großen Leere ergriffen. Bertram C. wünschte sich seine Schmerzen zurück, sie hatten ihm die Sicherheit gegeben, daß alles in Ordnung war in Europa und mit seinem Körper. Daß noch alles da war.

Zu fortgeschrittener Stunde zog Bertram C. die einzig logische Schlußfolgerung: Der morgige Tag wird kein Wetter bringen. Sein gealterter Verstand versuchte, eine Erklärung zu finden, und konnte das Ungeheuerliche nicht fassen: morgen kein Wetter. Noch jeder Tag hatte ein Wetter gebracht, und nun dieser eine nicht … Hieß das, daß es diesen nächsten Tag, das nächste Morgen nicht geben würde? Würde der Träger des Wetters, die Lufthülle, die Erde verlassen und in den Weltraum verstieben? Bedeutete das das Ende der Welt? Als er die harmlose Wetterkarte des Fernsehens vor sich erblickte, verfiel Bertram C. in ein höhnisches Gelächter. Er hatte sich nie geirrt – und die glaubten doch tatsächlich, daß es morgen noch Wetter geben würde, daß morgen noch wie seit Anbeginn der Zeiten die Sonne aufgehen würde …

Seine Frau war gezwungen, eine Schlaftablette zu nehmen, um seinen hysterischen Anfällen in der Nacht zu entgehen. Am Morgen des 17. Oktober 1984 war Bertram C. tot.

Die Mediziner haben seine Krankengeschichte nachträglich recht genau notiert, können aber den wenig glaubwürdigen Berichten aus seinem Umfeld keine größere Bedeutung beimessen.

Es heißt, sein Gesicht sei von der Furcht vor dem wetterlosen Morgen entstellt gewesen.

Auf schwankendem Boden

And as the elders of our time

choose to remain blind,

Let us rejoice and let us sing

and dance and ring in the new.

Hail, Atlantis!

Donovan: Atlantis, 1968

Ein Stoß! Der Boden wankte, es rumpelte, knirschte, ein erneuter Ruck! Lara rang um ihr Gleichgewicht. Es war, als wollte ihr jemand die Füße wegreißen. Instinktiv faßte sie nach der Umfassungsmauer der Terrasse, krallte sich an den schwarzen Lavasteinen fest. Ringsum flatterten Vögel auf. Wenn die Erde bebt, schoß es ihr durch den Kopf, muß man sich in eine Tür stellen. Aber sie befand sich nicht im Inneren des Gebäudes, es bestand keine Gefahr, daß die Decke auf sie stürzte. Doch die gesamte Terrasse konnte auseinanderbrechen, abrutschen! – Da verebbten die Stöße. Es war so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Die Vögel kreisten noch einige Male über den Palmen, dann setzten sich die ersten. Nichts passiert, ein Glück!

Vorsichtig lehnte sich Lara über die Terrassenumfassung und schaute ins Rund. Der Vorplatz, grell beschienen von der Mittagssonne, war menschenleer, das Bodenmosaik, das einen Delphin in einem Kreis zeigte, hatte keinen Riß abbekommen, die Säulen der Kolonnade reckten wie eh und je ihre korinthischen Kapitelle empor. Auch der Atlantik war, wie es schien, ruhig. Die Wellen liefen eine um die andere auf den weiter unten gelegenen Strand zu, bildeten Gischtkämme, schoben zum Schluß den weißen Saum über den Sand. Aber sie roch den Staub. Nein, es war keine Täuschung gewesen. Gran Canaria hatte gebebt. Neu-Atlantis war durchgerüttelt worden.

Gedämpfte Unterhaltungen, leise Musik – im Prätorium, der großen Aufenthaltshalle, herrschte die übliche Siesta-Stimmung. Man trank Espresso oder Gin Tonic, löffelte ein Eis, vertiefte sich in sein Smartphone oder ein E-Book, hielt die Zeitung in der Hand. An der Panoramaseite zum Meer, die großen Glasscheiben waren in den Boden versenkt worden, saßen vier Männer in kurzärmligen Folklorehemden und debattierten verhalten. Nichts deutete darauf hin, daß jemand das Erdbeben verspürt hatte.

Es kam Lara ein wenig unpassend vor, sich einfach in Positur zu stellen und zu tönen: Jetzt sagen Sie doch mal alle, ob Sie auch etwas mitbekommen haben. Unschlüssig schlenderte sie zu Gregor, einem untersetzten Herrn, der in seinem früheren Leben Professor an einer Fachhochschule und Gründer einer Firma für die Plasmabehandlung von Oberflächen gewesen war. Sie nahm ihm gegenüber in der Sitzgruppe Platz und räusperte sich. Gregor blickte von seinem Tablet auf – und sie wurde ihre Frage los. Ob er etwas wahrgenommen habe? Nein, ja, vielleicht doch … »Könnte sein«, meinte er schließlich, »so ein leichtes Schwanken. Mag sein, das kommt schon vor. Sollte aber nicht.« Er wischte auf dem Tablet herum, fand aber keine Meldung. Er könnte sich natürlich Zugang zum spanischen seismologischen Dienst verschaffen … Lara winkte ab, bedankte sich. »Kann eigentlich nicht sein«, fügte er noch in dozierendem Tonfall hinzu, »unser Atlantis hat – im Gegensatz zum antiken – eine aktive seismische Dämpfung, angeblich wenigstens. Sie dient dazu, Erdbewegungen bis mindestens Stärke neun abzufangen, so wie bei den Hochhäusern in Japan.« Dann wandte er sich wieder seiner Lektüre zu.

An der Bar traf Lara auf Herrn Tröckli und seine ebenfalls mit eleganter hellgrauer Hose und hellgrauem Jäckchen bekleidete Frau. Sie hatten ihren privaten Flugservice gerade noch »rächtzitig« verkauft, bevor dieser pleite ging, und genossen nun das Leben, vorzugsweise in Tresennähe. – Nein, von einer Erschütterung hatten sie nichts bemerkt, aber solche Luftlöcher am Boden, die seien eine prima Abwechslung, oder? – Und der Geruch nach Staub? – Es herrschte doch gerade wieder Calima, der Ostwind trug feinen Saharasand heran. »Da kann das Personal wieder putzen, oder?«

Lara ließ sich einen Café solo geben, nahm viel Zucker, das mundete ihr mehr als jedes Konfekt. Nun erst entdeckte sie in einem etwas dunkleren Winkel des Prätoriums Vanessa, ihre Duzfreundin. Endlich jemand, mit dem sie wirklich reden konnte!

Wie Lara hatte Vanessa vor einigen Jahren ihren Mann verloren, im Gegensatz zu Lara aber war sie wieder »auf der Pirsch«. Altersmäßig war sie, wie sie selbst behauptete, bei 39 stehengeblieben, und sie tat viel dafür, daß sich dies nicht änderte. Außerdem liebte sie, wie jeder sah, Goldkettchen. Die Anhänger sollten langes Leben und viel Liebe, Glück und Gesundheit symbolisieren.

Sie strahlte Lara an – »Komm an meine Seite, Schatz!« – und legte ihr Handy neben das Modejournal auf das Tischchen. »Hast du schon gehört? Schon wieder ein Paar, das sich bei uns einkaufen will, Niederländer diesmal.« Sie schnipste mit den Fingern, um einen Kellner zu rufen. »Wenn das so weitergeht, wird es eng! Ich hoffe, man baut nicht noch mehr Fincas. Ich werde jedenfalls dagegen stimmen.«

Lara deutete ein Nicken an: Ob sie nicht auch das Schwanken des Bodens gespürt habe? Ein kleines Erdbeben – ein Vorbeben?

»Mal den Teufel nicht an die Wand!« Vanessa orderte einen Ingwertee ohne Kandis und konterte nach kurzem Nachsinnen: »Da war nichts. Schon gar nicht in der letzten Stunde. Kein Scheppern. Bestimmt nicht. – Aber sag mal: Hast du vielleicht Schwindelanfälle? Laß besser deinen Kreislauf checken! Und tu was für dein inneres Gleichgewicht.«

Nein, Lara hatte sich nicht getäuscht! Der plötzliche Stoß, die Vögel waren ja auch aufgeflogen, und da war doch ein Geräusch gewesen. »Glaub mir, es grummelt im Boden.« Jeder wußte, daß die Kanaren Vulkaninseln waren. Und der letzte Ausbruch war nur ein paar Jahrzehnte her. Sie überlegte, was sie gelesen hatte: »Wir befinden uns auf einem Hotspot, unter der dünnen Erdkruste ist eine gewaltige aktive Magmablase. Irgendwann …« Sie hielt inne. Was war in sie gefahren? Weshalb malte sie die Katastrophe an die Wand? Nur weil Vanessa ihr nicht glauben wollte?

Aber Vanessa hatte bereits genug gehört. Verärgert griff sie ihr Handy, erhob sie sich. »Was erzählst du da für einen Stuß! Erdbeben – ein Unsinn!« Sie holte tief Luft, atmete stoßartig aus. Die Wangen glühten ihr vor Erregung. »Jetzt muß ich Bachblüten-Antischock nehmen!«

Auftritt Colin Lentsch: In diesem Moment betrat, stimmgewaltig vor sich hin summend, der ehemals »erfolgreichste Eventmanager Deutschlands« das Prätorium. Um den Hals hatte er einen bunten Seidenschal geschlungen, dessen eines Ende wie eine Fahne wehte, als er auf die erste Sitzgruppe zusteuerte.

»Nun, Berta, Herzblatt, wie läuft die Partie, gestattet dir der Computer wieder ein gnädiges Patt?«

»Schicke neue Schuhe, kahlköpfiger Konrad, solche roten Pantoletten sollte ich mir auch besorgen.«

»Hallo Greg, was machen die Oberflächen?«

Manche lachten, andere schüttelten den Kopf, als er, aufgekratzt zwischen den Tischen entlangtänzelnd, die Siesta störte. »Wie geht’s dem Husten, Emilia? Air Conditioning ist doch die schlimmste Erfindung seit der Beulenpest!«

Lara wich zurück, aber er kam bereits, gute Laune wie Funken versprühend, auf sie zu. Sie biß sich auf die Lippen und ging ihn an. »Hallo Colin, heute wieder der Conférencier aus ›Cabaret‹?« Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte der Angesprochene zusammen, dann strahlte er desto kraftvoller: »Uns kann nichts erschüttern, liebliche Lara, oder vielleicht doch?« Ihr stockte der Atem – da platzte Vanessa heraus: Ganz im Gegenteil, Lara phantasiere von Erdbeben!

Colin, der Aufgekratzte, zog eine Augenbraue hoch, schaute Lara verschwörerisch an, griff nach ihrer Rechten und hob diese wie bei einem Sieger im Boxkampf empor: »Erster Preis heute für Lara, die seismisch Sensible!«

Sie machte sich los und setzte sich – Vorsicht, nicht zu schnell – ab. Während sie dem Ausgang zustrebte, sprach sie verhalten, doch laut genug, daß es die Nächstsitzenden hören konnten, vor sich hin: »Er ist wieder mal betrunken.« Das war eine glatte Verleumdung, aber etwas Besseres fiel ihr in diesem Moment nicht ein.

Es ließ sie nicht los. Am späteren Nachmittag, als es schon nicht mehr so heiß war, spazierte sie durch das weitläufige Siedlungsareal, immer noch auf der Suche nach Spuren des Erdbebens. Natürlich gab es Risse in den Umfassungsmauern der Terrassen, aber die konnten älteren Datums sein, ebenso wie herausgefallene Steine. Auf den Bänken, einige von ihnen hatte ein norwegischer Artist-in-Residence mit Azulejos gestaltet, lag eine dünne Schicht Staub. Die rührte gewiß von der Calima her. Einheimische Arbeiter sammelten mit langen Greifstangen Laub und Zweige von den Kieswegen.

Vor Jahren war sie mit Lothar, ihrem Mann, auf die Inseln des ewigen Frühlings gezogen. Atlantis hatte sich in der zweiten Ausbauphase befunden, der schlanke Leuchtturm, Pharos genannt, dessen Schatten sie soeben durchquerte, wurde damals gerade hochgezogen. Lothar hatte sich schweren Herzens von seiner Oldtimer-Sammlung getrennt, die Borgwards, Mustangs und Corvettes, die uralten Regierungswolgas Stück für Stück einzeln veräußert, so erzielte er die besten Preise. Und sie hatte sich von ihren Partnern in der Kanzlei, spezialisiert auf Steuerrecht, auszahlen lassen. Das reichte, um sich in Atlantis einzukaufen, »Bürger« der neu erstandenen antiken Stadt zu werden. Die Miniatur-Polis war demokratisch organisiert – mit Online-Abstimmungen und einer jährlichen »Volksversammlung«, wo man auch über Neuaufnahmen und einzuladende Künstler entschied und Jahr um Jahr die »Einbürgerungsgebühr« höher setzte. Seit eine Krise die andere jagte, kehrten viele Wohlhabende Deutschland den Rücken. Aber auch aus anderen europäischen Ländern meldeten sich Anwärter. Die Bürger von Atlantis konnten sich aussuchen, wer zu ihnen paßte. Geld allein genügte nicht. Man qualifizierte sich durch Interessen, Hobbys, Kunstsinn – was freilich, wie Lara in manchen Diskussionen erfahren hatte, kaum justitiable Kriterien waren.

Unterhalb der Akropolis, des Verwaltungsgebäudes, das einer Stufenpyramide nachempfunden war, traf sie auf eine kleine Gruppe Lauf-Fetischisten, die, mit Nordic-Walking-Stöcken bewaffnet, zielstrebig an ihrer Fitneß arbeiteten. Keine Chance, sie anzusprechen. Das Amphitheater gleich neben der untersten Pyramidenstufe war verwaist, in einigen Tagen würde hier unter freiem Sternenhimmel eine Neuinterpretation von Vangelis’ ›Mythodea‹ durch den Composer-in-Residence vorgestellt werden. Ein Höhepunkt der Saison.

 

Im hellen Sonnenschein beschlichen Lara Zweifel. War sie denn die einzige, die das Beben gespürt hatte? Oder gab es so etwas wie lokal extrem eingegrenzte Erderschütterungen – etwa durch den Einsturz einer Lavaröhre? Und was hieß »aktive Dämpfung«? Sie erinnerte sich vage, damals im Atlantis-Prospekt darüber gelesen zu haben.

Auch die Hängenden Gärten mit ihren drei Terrassen boten den gewohnten Anblick: Hohe Kandelaber-Kakteen reckten ihre stachligen Arme in den Himmel, Palmen, einige eher gedrungen, andere schlank und hoch, spendeten Schatten, dazwischen gediehen niedrige Hecken mit weißen und roten Blüten sowie die allgegenwärtigen Agaven. Am Brunnen vor dem Eingangstor spuckte ein grün patinierter Delphin wie immer munter Wasser, die Leitungen waren intakt. Hinter den beiden Drachenbäumen, die das Ende der Gärten markierten, befand sich eine weite Brache, sie war für den nächsten Bauabschnitt vorgesehen. Jenseits der bräunlichen Geröllfläche klebten drei flache, schmucklose Behelfsgebäude an der Außenmauer – die Unterkünfte für die Flüchtlinge aus Afrika.

Vor den Behausungen hielt sich ein knappes Dutzend Männer auf. In ihrer grellbunten Freizeitbekleidung wirkten sie wie versprengte Pauschaltouristen. Gesprächsfetzen drangen von ihnen herüber. Ob sie ahnten, was für ein Privileg es war, in Atlantis Zuflucht zu finden? Lara hatte im Online-Voting mit der deutlichen Mehrheit dafür gestimmt, ein begrenztes Kontingent Westafrikaner aufzunehmen. Schließlich war man als Atlantier den eigenen Standards – und auch der Inselregierung – verpflichtet. Sie schaute, lauschte und überlegte, ob sie mit ihnen sprechen sollte. So aufgeregt, wie sie miteinander palaverten, konnten sie etwas von dem Beben mitbekommen haben. Und wenigstens der eine oder andere sollte doch auch ein paar Brocken Spanisch oder Englisch beherrschen?

Der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war. Man wußte nicht, welche Mißverständnisse man selbst mit einfachen Fragen auslösen konnte. Und sie wollte auch nicht wie ein Verantwortungsträger über das Geröllfeld auf sie zustaksen … Ja, wenn ihr einer zugewinkt hätte … Zögernd machte sie sich auf den Rückweg.

Am Brunnen hielt sie inne und streckte die Arme bis zu den Ellenbogen in das herrlich kühle Wasser. Wie konnte man nur auf die Idee kommen, eine Siedlung nach Atlantis zu benennen, wo doch jeder wußte, daß die Insel während eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht untergegangen war?

Tag und Nacht und wenig dazwischen. Manchmal vermißte Lara die langen mitteleuropäischen Abendstunden, den gedehnten Sonnenuntergang. Hier rutschte das Tagesgestirn eilig hinter den Pico de las Nieves. Man bezahlte den Preis des ewigen Frühlings mit Sommerabendstunden.

Lara saß bequem in einem Sessel, hatte das Tablet auf den Knien, nutzte aber die Bildschirmwand. Durch die breite Front zur Terrasse ihres Apartments drang laue Luft mit einem leichten Geruch nach Calima. Eigentlich hatte sie geplant, die allgemeine Pinnwand des Atlantis-Portals zu nutzen, um zu fragen, ob nicht doch jemand das Beben verspürt hatte. Sich an alle direkt zu wenden, nein, das erschien ihr übertrieben. Push-Botschaften fand sie immer lästig, so wie die Einladung, die jetzt eben hereinkam: ein Vortrag im Theatrum, dem Kinosaal, über »tiefenpsychologische Lebenshilfe«. Sie mußte nicht weiterscrollen, um zu wissen, daß hier dieser Typ, der sich »der Daakun« nannte, den »Mit-Atlantierinnen und Mit-Atlantiern« seine Ideen über den »inneren Daimon« aufschwatzen wollte. Zum wiederholten Mal. Er fand wohl Anklang – bei Frauen wie ihrer Freundin Vanessa, die »Lebe deinen Daimon« für tiefsinnig und hilfreich hielten. Sie selbst ging solchen Veranstaltungen – und solchen Typen! – lieber aus dem Weg.

Die Zeit war heran. Lara überprüfte das Bild, das die Webcam von ihr aufnahm: Die Krähenfüße hatte sie nie verleugnet, doch heute, da machte sie sich nichts vor, sah sie schon ein wenig abgespannt aus. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, dann wählte sie die Skype-Adresse von Ben. Ihr Sohn war bereits in Position. Sein Gesicht glänzte verschwitzt, mit Cowboyhut und buntem Hemd wirkte er eher wie ein Rancher als wie ein Latifundista. Er grinste, begann dies und jenes zu erzählen. Da sie regelmäßig skypten, gab es wenige Neuigkeiten auszutauschen. Und mit ihrer Angst vor einem erneuten Erdbeben wollte sie ihn nicht behelligen. Bens Farm in Paraguay lief gut, es war die richtige Entscheidung gewesen.

Während sie leichthin, fast ohne konkretes Thema miteinander plauderten, hatte Lara den Eindruck, daß die Couch ins Wackeln geriet. – Schon fragte Ben, was mit dem Bild sei, ob die Webcam verrutscht sei. Lara wiegelte ab, ja, konnte sein. Obwohl sie keine Bewegung mehr wahrnahm und erst recht kein Rumpeln oder Scheppern, beendete sie rasch das Gespräch.

Sie ließ das Tablet auf dem Tisch liegen und bezog in der Tür zum Schlafzimmer Stellung. Nichts, kein weiteres Beben, kein Stoß. Soviel aber war gewiß: Pluto, der Gott der Unterwelt, hatte seine Warnung wiederholt. Schwarmbeben weit im Untergrund waren für die Kanaren nichts Ungewöhnliches, davon berichteten ab und zu die Medien. Aber die leichten Erschütterungen nahm man allenfalls weit im Westen, auf La Palma, wahr. Nicht hier auf Gran Canaria. In all den Jahren, die sie hier lebte, war die Erde unter der Insel ruhig geblieben.

Später lag sie mit offenen Augen auf dem Bett und starrte zur Decke. In regelmäßigen Abständen zeigte der Brandmelder mit einem kurzen roten Aufblitzen, daß er noch da war. Was sollte sie tun? Wegziehen? Aber wohin? Der Vertrag mit der Atlantis GC GmbH ließ sich nicht einfach rückabwickeln, sie kannte die Paragraphen. Allenfalls konnte sie versuchen, ihren Anteil zum aktuellen Marktpreis weiterzuverkaufen – und sie würde sich dafür die Zustimmung der anderen Atlantier holen müssen. Und dann nach Paraguay? Ben wollte sie nicht zur Last fallen, ganz abgesehen von dem für sie zu heißen und zu feuchten Klima. Nein, mit sechzig fing man nicht unbedingt ein völlig neues Leben an.

Die Fenster der Bibliothek waren geschlossen, so daß sich kein Staub auf den Büchern absetzen konnte. Lara zählte zu den wenigen, die noch ganz altmodisch »analog« oder »von Papier« lasen; etwa wöchentlich lieh sie Bücher aus. Viele Regale waren höchstens zur Hälfte gefüllt. Sie bezweifelte, daß sich dies noch ändern würde. Nach Lothars Tod hatte sie die großformatigen Coffee-Table-Bände über Oldtimer gestiftet, aber das war so ziemlich der einzige nennenswerte Zugang in letzter Zeit gewesen.

Immerhin war die Bibliothek gut mit Büchern über die Kanarischen Inseln bestückt, meist bessere Reiseführer, aber auch Monographien über die Sprache der Guanchen hatten sich hierher verirrt, dazu ein paar Bände über die Geologie Makaronesiens, sogar einer über die Vulkane – doch das war wiederum nur ein Bildband ohne spezifische Informationen über Erdbeben oder die Magmakammer unter den Inseln.

Ein ganzes Regal war dagegen dem antiken Atlantis gewidmet. Dem Phantasieprodukt Platons wurde mehr Platz eingeräumt als den realen Inseln. Allein die Versuche, Atlantis zu lokalisieren, nahmen mehr als ein Brett ein: Troja und Santorin-Thera als Atlantis, Atlantis in der Sahara, in der Nordsee, in Südamerika, in Südspanien, die Kanaren als Überrest von Atlantis – keine der Spekulationen hätte auch nur die mindeste Chance gehabt, in einem Gerichtsverfahren standzuhalten. »Atlantis, die Urheimat der Arier«, jedes Zeitalter hatte sich das Atlantis, das es brauchte, erdichtet. – Bis E. R. Meyer kam. Seine Büste war in einer Wandnische exakt so positioniert, daß die Morgensonne dem »Atlantis-Gründer« ein visionäres Lächeln auf das Gesicht malte.