Internationale Beziehungen

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Globalgeschichte der internationalen Beziehungen I: Vom Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs



Inhalt





 1.1 Die Welt zwischen 1815 und 1919



 1.2 Die Ordnung des Wiener Kongresses



 1.3 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg



 1.4 Innerstaatlicher und geopolitischer Wandel 1860–1870



 1.5 Der Wettlauf Europas um kolonialen Besitz 1870–1914



 1.6 Deutschland und Japan als aufsteigende Mächte



 1.7 Globaler Wandel und der Weg in den Ersten Weltkrieg



 1.8 Die Welt zwischen 1919 und 1945



 1.9 Die Ordnung der Versailler Verträge (1919)



 1.10 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1919–1939)



 1.11 Globaler Wandel und der Weg in den Zweiten Weltkrieg



  Übungen



  Verwendete Literatur





Überblick



Was wäre, wenn es die Möglichkeit gäbe, eine

Zeitreise in die Vergangenheit

 zu machen und die Welt zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten aus einer Vogelperspektive zu erleben: 1815, 1915 und 2015. Zu allen drei Zeitpunkten würde man sich zweifelsohne an relevanten Punkten der Weltgeschichte befinden: 1815 wäre man Zeuge des Wiener Kongresses, 1915 wäre man mitten in einem Weltkrieg und 2015 würde man sich vielleicht darüber wundern, dass kein Staat mehr unter kolonialer Herrschaft steht und ein Gegensatz zwischen einem relativ friedlichen Europa und einem kriegerischen Nahen und Mittleren Osten herrscht. Zentrale Veränderungen der internationalen Beziehungen in zwei längeren und ereignisreichen Zeitabschnitten darzustellen, die durch die drei Datenpunkte markiert werden, ist das Ziel dieser und der nächsten Einheit.



Das Kapitel vermittelt grundlegendes Wissen zu den empirischen Trends und Entwicklungen der globalen internationalen Beziehungen zwischen 1815 und 1939 mit dem Ziel, einen Überblick über die zentralen Veränderungen in diesem Zeitraum zu geben, die die internationalen Beziehungen beeinflusst haben. Es beschreibt und analysiert die Ursachen von zwei Weltkriegen und befasst sich mit den Inhalten der großen Friedensverträge mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den großen Friedensschlüssen bis nach dem Zweiten Weltkrieg zu erfassen.



Ziel der Einführung in die Geschichte der internationalen Beziehungen ist es, einen Überblick über die Entwicklung internationaler Beziehungen zu geben, der vor allem eines leisten soll: deutlich machen, dass sich die Praxis der internationalen Beziehungen in den letzten beiden Jahrhunderten

beständig

 gewandelt hat und aufzeigen, worin dieser Wandel genau besteht. Nehmen wir die verschiedenen Extreme, die in der Disziplin diskutiert werden: Für die Einen ist internationale Politik eine Wiederholung von großen Kriegen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit einstellen (Morgenthau 1954). Für Andere ist es Fortschritt in Richtung einer Zivilisierung von Politik, durch den die Machtpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die Schaffung internationaler Organisationen und die Zunahme internationaler Verträge gebändigt wird (Zangl/Zürn 2004; Alter 2014). Dieser Überblick liefert – trotz aller Kürze – eine

differenzierte Sichtweise

. Er zeigt aus einem historischen und globalen Blickwinkel, wie sich

zentrale Charakteristika von Staaten

 als bedeutende Akteure des internationalen Systems entwickelt haben, wie sich

Krieg und Frieden

 global verteilen und welche

Systeme der Friedenssicherung

 Staaten und andere Akteure im Lauf der Zeit entwickelt haben, um vor allem eine Wiederholung der großen Kriege der letzten beiden Jahrhunderte zu vermeiden. Die beiden Einheiten sind so konzipiert, dass sie zentrale Muster der internationalen Beziehungen erkennbar machen, die einen Schnellzugriff auch auf aktuelle Herausforderungen der internationalen Politik geben. Dabei geht diese und die folgende Einheit von folgenden Annahmen aus:





Kernannahme 1





Die Beschaffenheit der Einheiten der internationalen Politik macht einen fundamentalen Unterschied für die internationalen Beziehungen. Deshalb lohnt es sich, etwas mehr über die Entwicklung der Staatenlandschaft zu erfahren.



Es macht einen Unterschied, ob die zentralen Akteure des internationalen Systems stabil sind oder nicht, ob es sich um Demokratien oder Autokratien, Wohlfahrtsstaaten oder Entwicklungsländer, liberale oder sozialistische, sunnitische oder schiitische, säkulare oder religiöse Staaten handelt, ob sie in Sicherheitssysteme eingebunden sind oder nicht.

Staatliche Charakteristika

 beeinflussen die internationalen Beziehungen. Diesen Zusammenhang aufzuzeigen ist Ziel der ersten beiden Kapitel. Selbst wenn im Einzelnen keine kausalen Zusammenhänge zwischen bestimmten staatlichen Charakteristika und internationalen Beziehungen hergestellt werden können, kann die Entwicklung der Staatenlandschaft über Zeit und Raum zeigen, warum in manchen Regionen Kriege ausbrechen, in anderen aber nicht, oder warum sich institutionelle Strukturen unterscheiden.





Kernannahme 2





Viele Phänomene erfassen eine große Anzahl von Staaten in relativ kurzer Zeit. Sie verbreiten sich schnell über die Einheiten des internationalen Systems, in der Regel die Staaten. Solche Wellen oder Trends erzeugen eine eigene Dynamik für die internationalen Beziehungen und prägen ihre Strukturen.



Das Phänomen der

Trends

 dürfte nach der Arabellion, bei der innerhalb kürzester Zeit eine Reihe von Staaten von Demokratiebewegungen erfasst wurden, leicht zu begreifen sein. Nur Wenige wissen, dass wir es in der internationalen Politik oft mit einer solchen Häufung von Ereignissen zu tun haben. Die globale Verbreitung von Kolonisation und Dekolonisation sind beispielsweise Massenphänomene, ebenso wie die Ausbreitung von Autoritarismus und Demokratien.



Genau dieses Phänomen macht sich diese Einheit zunutze, um erstens möglichst effizient globale Veränderungen darzustellen. Zweitens wird dadurch aber auch eine

räumliche Dimension der Entwicklung internationaler Beziehungen

 abbildbar. Manche Phänomene betreffen Staatengruppen stärker oder schwächer. Drittens bietet diese Vorgehensweise aber auch einen bequemen Schnellzugriff auf die Entwicklung ganzer Staatengruppen. Wenn man weiß, welche Staatengruppen in welchem Zeitraum von welchen Trends erfasst wurden, kann man Länder schneller einordnen: Von wem es wann kolonialisiert wurde, wann die Dekolonisation stattgefunden hat, ob es sich um eine Demokratie oder Autokratie handelt und in welche Sicherheitsbündnisse es eingebunden war oder ist.



Kernannahme

3



Es gibt eine

wechselseitige Abhängigkeit (

Interdependenz

Interdependenz) von Ereignissen

 über weite Distanzen hinweg. Ereignisse, die in einem Teil der Welt passieren, beeinflussen systematisch, was in anderen Teilen der Welt passiert.



Ein Beispiel ist die Auflösung der SowjetunionAuflösung Sowjetunion. Ihr Zusammenbruch beeinflusste nicht nur Staaten in Osteuropa, sondern auch in Afrika und in Zentralamerika. Auch wenn wir beispielsweise in Europa oftmals denken, dass Ereignisse außerhalb Europas wenig Einfluss auf Ereignisse in Europa haben (und andersherum), zeigt sich, dass sie häufig miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Weitere Beispiele: Die Dekolonisation Lateinamerikas wäre höchstwahrscheinlich sehr viel später passiert, hätte Napoleon 1808 nicht Spanien besetzt. Der Kalte Krieg hätte sich nicht verschärft und Deutschland wäre vermutlich nicht geteilt worden, hätte nicht der Koreakrieg stattgefunden.



Diese Zusammenhänge punktuell aufzuzeigen und ihre Bedeutung für die Entwicklung internationaler Beziehungen aufzuzeigen, ist ein Anliegen der ersten beiden Einheiten.



Kernannahme 4



Für die Verbreitung von empirischen Trends und für Zusammenhänge durch wechselseitige Abhängigkeit von Ereignissen gibt es einige soziale Mechanismen, die unterschiedliche Dynamiken der Entwicklung des internationalen Systems erklären.



Diese

Mechanismen

 erklären sowohl die Verbreitung als auch die Dynamik wichtiger Trends. Die Forschung über die Diffusion von politischen Institutionen und Praktiken liefert hier wichtige Hinweise für Mechanismen, die auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen einwirken. Einer der wichtigsten Mechanismen ist der Einfluss mächtiger Staaten, auch

hegemoniale Koordination

 genannt. Ein weiterer Mechanismus ist der

Wettbewerb unter den Einheiten

, die sich in einer ähnlichen Position innerhalb des internationalen Systems finden und ein dritter Mechanismus sind Prozesse des

Lernens

. Auf die eine oder andere Art und Weise werden uns diese Mechanismen immer wieder begegnen. Sowohl die Existenz von HegemonienHegemonien, wie das Napoleonische Frankreich oder Großbritannien im 20. Jahrhundert, wie auch ihr Zusammenbruch, zum Beispiel im Falle der Sowjetunion, haben über die jeweils mit ihnen verbundenen Staaten systemweite Effekte. Wettbewerb unter ähnlich positionierten Staaten wirkt oft als

Verstärker bestehender Trends

, die sich im internationalen System zeigen. Und Staaten sind in der Lage sowohl voneinander als auch untereinander und aus dramatischen Ereignissen zu lernen. Die verschiedenen Ansätze zur Friedenssicherung sind hier ein gutes Beispiel.



Kernannahme

5



Viele globale Phänomene manifestieren sich

lokal, innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes

.



Viele der Entwicklungen, die für die Disziplin interessant sind, ergeben sich aus politischen Veränderungen, Lokale Manifestation globaler Ereignissedie sich geographisch manifestieren und deren Effekte deshalb ebenfalls oftmals geographisch lokalisierbar sind. Nicht alle Trends erfassen alle Regionen der Welt gleichmäßig. Viele Trends werden regional und lokal gefiltert. Andere Trends haben nicht-intendierte Effekte. Beispiele dafür sind die Französische Revolution, deren Effekte in ganz Europa, aber auch in Lateinamerika bemerkbar waren, aber auch die Konsequenzen der Kolonialisierung Indiens durch die Briten, die die Grundlage für das britische Interesse und eine Einmischung Großbritanniens im Nahen und Mittleren Osten legte.

 





Die Welt zwischen 1815 und 1919



Wie sich die internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert gestalten, erschließt sich einfacher, wenn man zunächst den Blick auf eine Landkarte von Europa wirft. Tafel I und II (S. 418–421) zeigen Europa vor und nach dem Napoleonischen Eroberungsfeldzug. Europa war zu diesem Zeitpunkt durch eine Macht dominiert: Frankreich unter Napoleon Bonaparte. Frankreich dominierteDominanz Frankreichs in den internationalen Beziehungen bereits seit dem 17. Jahrhundert die internationalen Beziehungen, aber die Herrschaft Napoleons stellte einen Höhepunkt französischer Macht in Europa dar. Napoleon hatte sich nach der Französischen Revolution aufgemacht, in einem letzten Krieg aller Kriege ganz Europa zu demokratisieren und von der monarchischen Herrschaft zu befreien. Innerhalb von wenigen Jahren hatte Napoleon die bis dahin geltende Ordnung erschüttert, mit bedeutenden Ausnahmen ganz Europa erobert und in einem Krieg der Demokratie über die Monarchien Europas deren Staatsformen verändert. Nicht mehr die Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Protestantismus beziehungsweise Christentum und Islam wurde bestimmend für die internationalen Beziehungen zumindest in Europa, sondern die Konfliktlinie zwischen Demokratien und Monarchien wurde dominant. Zur Sicherung seiner Herrschaft betrieb Napoleon die Politik der Einsetzung von Verwandten in den eroberten Fürstentümern und schuf dadurch die mit ihm verwandtschaftlich vernetzten

Napoleoniden-Staaten

, vor allem in Italien, Spanien und Westphalen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht dominierte Frankreich mit sehr wenigen Ausnahmen ganz Europa.



Erst der Russlandfeldzug Napoleons setzte der französischen Herrschaft ein Ende. Napoleon wurde in der

Völkerschlacht bei Leipzig

 (1813) auf dem Kontinent vernichtend geschlagen. Nach der Herrschaft der 100 Tage, die Napoleon kurzzeitig wieder an die Macht in Frankreich brachte, wurde er 1815 in der Schlacht bei Waterloo endgültig besiegt.



Tafel III (S. 422–423) zeigt Europa 1815, nach den vertraglichen Regelungen des Wiener KongressWiener Kongresses. Die territoriale Unabhängigkeit Spaniens, der deutschen Territorien ebenso wie der Territorien Italiens ist wieder hergestellt, wenn auch nicht in exakt den gleichen Grenzen wie vor den Napoleonischen Eroberungen. Frankreich befindet sich wieder in seinen Grenzen von 1792. Die meisten Staaten sind relativ große Flächenstaaten. Davon heben sich nur Deutschland und Italien ab, die sich – wie vor den Napoleonischen Kriegen auch – durch viele kleine Territorien auszeichnen. In Deutschland dominiert Preußen, das einige Besonderheiten aufweist: Es ist territorial zerstückelt, in einen Ostteil, der sich bis nach Litauen erstreckt, und in einen Westteil, der das Rheinland umfasst. Das Osmanische Reich endet erst an den Grenzen Österreichs, die südosteuropäischen Staaten sind noch integraler Bestandteil des riesigen osmanischen Herrschaftsgebietes, das auf dem eurasischen Festland bis nach Georgien reicht und auch noch die Gebiete des heutigen Israels, des Libanons und Palästinas umfasst. Die territorialen Veränderungen sind das Werk des Wiener KongressWiener Kongresses, der 1814 etabliert wurde, um mit den Folgen der Napoleonischen Herrschaft in Europa und in der Welt umzugehen.



Die Karten sagen aber noch nichts über die Bedeutung der einzelnen Staaten aus. Deshalb ist es sinnvoll, diese kurz vorzustellen. Aus den Napoleonischen Kriegen ging eine Großmacht hervor, die alle anderen klar dominierte: Großbritannien. Es wird wie kein anderer Staat vor ihm in dem nun folgenden Jahrhundert über ein Weltreich regieren, das weniger auf der direkten Herrschaft auf dem europäischen Festland beruht als vielmehr auf einem weit verstreuten kolonialen Empire mit einem Schwerpunkt in Nordamerika und der Kontrolle über die Weltmeere. Es löst damit Frankreich ab, das das Jahrhundert vor ihm dominiert hatte, und das habsburgische Österreich, das auf dem europäischen Festland nach wie vor eine bedeutende Rolle spielt. Während in Kontinentaleuropa Frankreich, Österreich und Preußen die dominierenden Staaten sind – mit Frankreich und dem habsburgischen Österreich als Antagonisten auf dem Festland – und Portugal und Spanien durch ihren KolonialbesitzKolonialbesitz vor allem in Lateinamerika eine bedeutende Rolle spielen, sind in der Weltpolitik Großbritannien und Russland die prägenden Staaten. Neue Staaten bilden sich einerseits in Nordamerika, andererseits in Lateinamerika, wo sich Staaten von Spanien und Portugal emanzipieren. Russland ist zugleich eine europäische, asiatische und – zu diesem Zeitpunkt auch – amerikanische Macht.



Das Jahrhundert geht als

Pax


Britannica

Britannica in die Geschichtsbücher ein. Dieser Ausdruck bezieht sich auf einige wesentliche

Charakteristika der internationalen Ordnung

, die unter Führung Großbritanniens in dieser Zeit entstand: Die Gleichgewichtspolitik in Europa, seine Herrschaft in Übersee, ein britisches Überlegenheitsgefühl und Sendungsbewusstsein, das sich auf

liberale Ideen

 gründet, wie der Idee konstitutioneller Herrschaft (durch Verfassung), der Selbstregierung durch Kooperation für alle zivilisierten Menschen und der Idee der Freiheit der Meere und des Handels. Pax Britannica bezieht sich aber auch auf die

lange Friedensperiode

, die in Europa nach den Napoleonischen Kriegen einsetzte. Der lange Frieden in Europa wurde lediglich unterbrochen durch den

Krim-Krieg (1853–1856)

 und die deutschen und italienischen Einigungskriege, die zum Teil zu internationalen Kriegen wurden. Dieses Jahrhundert verzeichnet sehr viel weniger Kriege als die Epoche davor. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man sich die fundamentalen Veränderungen ansieht, die die internationalen Beziehungen in dieser Zeit prägten.



Pax Britannica



Pax Britannica (Britischer Friede) bezeichnet die britische HegemonieHegemonie zwischen 1815 und 1919. Der Name drückt eine Analogie zu früheren Großreichen aus, wie der Pax Augusta oder der Pax Romana. Er bezieht sich sowohl auf die spezifischen

ideellen Charakteristika

 der britischen HegemonieHegemonie als auch auf die

lange Friedenszeit

, die mit der Dominanz Großbritanniens verbunden ist.





Die Ordnung des Wiener KongressKongresses



Für die europäischen Mächte hatte es sich bereits seit längerem eingebürgert, große Kriege durch bedeutende Verträge zu beenden. Beispiele dafür sind der Westfälische FriedeFriede von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, oder der Frieden von Utrecht 1713, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Diese

großen FriedensverträgeGroße Friedensverträge als Ordnungsinstrumente

 regelten nicht nur den Umgang mit den Kriegsverlierern, sondern wurden auch als Verträge verstanden, in denen die Beziehungen zwischen den Staaten für kommende Generationen geregelt wurden. Die größere Bedeutung lag also darin, dass es um die Aushandlung von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren für eine Friedensordnung und dadurch um Friedenssicherung ging (Murray/Lacey 2009; Ikenberry 2014).



Der Wiener KongressWiener Kongress selbst dauerte fast ein Jahr und an ihm nahm alles Teil, was in Europa Rang und Namen hatte. Die Teilnehmer des Kongresses – die Repräsentanten von rund 200 Staaten in ganz Europa, darunter Außenminister Fürst Metternich für Österreich, der russische Zar Alexander, Preußens Friedrich Wilhelm III. und der britische Gesandte Lord Castlereagh – hatten eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen, die vor allem mit den längerfristigen Effekten der Herrschaft Napoleons zu tun hatte. Dabei ging es hauptsächlich um die Wiederherstellung (Restauration) des Gleichgewichts der europäischen Mächte vor 1792, und damit um eine

Friedenssicherung

. Diese hatte verschiedene Komponenten, die wichtigsten waren die Eindämmung und die Kontrolle Frankreichs, aber es wurden auch wichtige zwischenstaatliche Prinzipien etabliert.



Das Wiener-Kongress-System



… beinhaltet in einem engeren Sinne die Wiener Kongressakte als einen Vertrag zur Eindämmung Frankreichs durch eine

territoriale NeuordnungTerritoriale Neuordnung

 Europas nach den Napoleonischen Kriegen. Damit verbunden waren bedeutende Gebietsverschiebungen und die Schaffung neuer Staaten zum Schutz gegen eine erneute Expansion Frankreichs.



… etabliert ein Kontrollorgan in Form einer Botschafterkonferenz der vier SiegermächteBotschafterkonferenz der vier Siegermächte mit dem Ziel der vorübergehenden

außenpolitischen und militärischen Überwachung FrankreichsAußenpolitische Überwachung Frankreichs

 als ehemaligem Friedensstörer.



… etabliert mit dem Wiener Kongress das erste kollektive Entscheidungsgremium in Europa bzw. eine Institution zur

FriedenssicherungFriedenssicherung

 mit den Zielen der Wahrung des politischen Gleichgewichts unter den Großmächten, unter anderem durch die Festlegung auf Prinzipien der monarchischen Legitimität und Solidarität, womit vor allem die Unterstützung für revolutionäre Ideen und Bewegungen in Mitgliedsstaaten geächtet werden sollte.



… etabliert ein Entscheidungsgremium der fünf mächtigsten Staaten, die für andere kollektiv bindende Entscheidungen treffen.



Eindämmung Frankreichs durch territoriale Neuordnung:

 Die Wiener Kongressmächte verfolgten das Ziel der Eindämmung Frankreichs. Daran ist an sich nichts Ungewöhnliches. Aus heutiger Perspektive ist daran nur überraschend, wie Eindämmung funktionierte: Über eine wohl abgewogene territoriale Umorganisation der umliegenden Staaten, die durch Kompensation durch andere Territorien in Europa ausgeglichen wurde und die damit sowohl territoriale als auch politische Konsequenzen hatte (vgl. Tabelle 1.1). Frankreich sollte durch einen Kranz von Staaten um Frankreich herum eingedämmt werden. Diese Staaten wurden durch territoriale Vergrößerung nicht unerheblich aufgewertet. Dazu gehörten das Königreich der Niederlande, Preußen durch den Zugewinn der Rheinlande, die neugeschaffene Schweizer Konföderation als neutrale Staaten und die unabhängigen italienischen Staaten, die aber unter dem Einfluss des habsburgischen Österreich blieben. Darüber hinaus wurde mit der Schaffung des Deutschen Bundes eine Pufferzone zwischen Preußen und Österreich geschaffen.



Die Eindämmung Frankreichs gestaltete sich jedoch insofern als schwierig, als Napoleon über die während seiner Herrschaft durchgeführten Reformen in vielen Staaten einen innerstaatlichen Strukturwandel angestoßen hatte, der schwerlich physisch einzudämmen oder rückgängig zu machen war. Dazu gehörten beispielsweise neue Verfassungen. Außerdem hatte er über die von ihm geschaffenen Napoleoniden-Staaten die Chance, über direkte Verwandtschaftsverhältnisse weiter Einfluss in Europa zu nehmen (Duchhardt 2013: 16–17).



Überwachung Frankreichs als Friedensstörer:

 Darüber hinaus wurde Frankreichs militärische Entwicklung und seine Außenpolitik mehrere Jahre kontrolliert. Die französische Regierung wurde zu Reparationen verpflichtet. Diese Funktion übernahm die im November 1815 gebildete

Quadrupelallianz

 aus Großbritannien, Österreich, Russland und Preußen. Diese Staatengruppe bildete auch zunächst den Kern des europäischen Sicherheitssystems (Erbe 2004: 361–362).



Merke





Eindämmung und Kontrolle von Friedensstörern





Die Wiener Kongressakte ordnete Europa neu mit dem Ziel der Eindämmung Frankreichs als Friedensstörer. Gebietsverschiebungen hatten das Ziel, Staaten mit hinreichender Größe zu schaffen, die als Puffer gegenüber Frankreich dienen konnten. Frankreichs Außenpolitik wurde für einen begrenzten Zeitraum durch die Kriegsgewinner kontrolliert. Mit diesem System der Eindämmung und der Kontrolle war bereits im 19. Jahrhundert ein

Wiener Kongress als ModellModell für den internationalen Umgang mit Friedensstörern

 entwickelt, das später als Vorbild für den Umgang mit anderen Staaten diente.




Staat

territoriale Veränderung

weitere Regelungen/Implikationen

Frankreich

wird auf die Größe von 1792 reduziert, verliert alle danach eroberten Gebiete

Eindämmung durch umliegenden „Kranz mittlerer Staaten“ (Schweden/Norwegen (Personalunion), neues Königreich der Vereinigten Niederlande, das um Savoyen erweiterte Sardinien (jetzt: Königreich beider Sizilien))Vorübergehender Souveränitätsverlust durch Überwachung der Außenpolitik

Großbritannien

in Personalunion mit dem neuen Königreich Hannover; gewinnt Malta, Ceylon (Sri Lanka), Helgoland (das „Gibraltar des Nordens“)

Großbritannien geht als eigentlicher Sieger des Kongresses hervor

Russland

gewinnt „Kongresspolen“ (mit eigener Verfassung)

steigt zur führenden Kontinentalmacht aufwird durch Zugewinn Polens „westlicher“ und ständig präsenter Faktor in Europa

Österreich

verzichtet auf die habsburgischen Niederlande („Spanische Niederlande“) und Vorderösterreich zugunsten von Galizien (heutiger Westteil der Ukraine), Oberitalien und Dalmatien (heutiges Kroatien)

erhält politischen Primat über Italienwächst als Vielvölkerstaat aus dem Deutschen Bund herausbeansprucht Führung im Deutschen Bund

Preußen

erhält einen Teil Sachsens, wird mit Rheinprovinz und Westfalen entschädigt

wird wirtschaftlich und konfessionell gespaltenübernimmt Überwachung Frankreichs am Rheinwächst in den Deutschen Bund hinein (vgl. Tafel I und III)

Schweiz

entsteht als eigenständiger Staat

wird neutral



Territoriale Neuregelung Europas nach der Wiener Kongressakte (1815)

 



Die Funktion des Wiener Kongresses ging aber weit über die Eindämmung hinaus.



Der Wiener Kongress als erstes kollektives Entscheidungsgremium Europas



In Europa wurde mit dem Wiener KongressWiener Kongress 1815 das erste Mal eine Institution in Form eines zwischenstaatlichen Entscheidungsgremiums geschaffen, das gemeinsame Entscheidungen im Bereich der Sicherheit traf. Die fünf mächtigsten Staaten Europas (Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland, ab 1818 Frankreich) trafen für andere Staaten des Systems kollektiv verbindliche Entscheidungen (Watson 1992: 238–250). „Die Großmächte definierten sich jetzt nicht nur als Teile eines Ganzen, sondern zusammen als das Ganze selbst. Sie sprachen sich die Ordnungsfunktion für den ganzen Kontinent zu.“ (Erbe 2004: 153) Zwischen 1815 und 1910 traf sich das europäische Mächtekonzert mehr als 30 Mal, um gesamteuropäische Belange zu regeln. Es befasste sich vor allem mit Territorialfragen, die dann zur Entscheidung kamen, sobald sie das stabilitätserhaltende Gleichgewicht in Europa gefährdeten.



Von seiner institutionellen Ausgestaltung her nahm der Wiener KongressWiener Kongress den späteren Völkerbund und die Vereinten Nationen vorweg: Der Kongress privilegierte die fünf mächtigsten Staaten des Systems (Pentarchie), sie stellten die Weltregierung. Allerdings repräsentierten sie zu diesem Zeitpunkt auch drei Viertel der Weltbevölkerung und mehr als drei Viertel der militärischen Macht (Watson 1992: 242).



Ein wichtiges Prinzip des Wiener KongressWiener Kongresses war die Verpflichtung auf anti-revolutionäre Normen als

Standards für zwischenstaatliches Verhalten

. Dies kam in den Prinzipien der dynastischen Legitimität und Solidarität zum Ausdruck. Notfalls durch militärische Interventionen verhindert werden sollten liberale Umsturzversuche in den Mitgliedsstaaten des Wiener Kongresses, die auf die Abschaffung der Monarchie als Regierungsform gerichtet waren. Wesentliche Triebkräfte dieser Ausrichtung waren die monarchischen Mitglieder Russland unter Zar Alexander I. und Österreich unter seinem Außenminister Fürst Metternich. Diese Norm war nicht unumstritten: Frankreich und Großbritannien waren ihre Gegner. Frankreich unterstützte ab Mitte des 19. Jahrhunderts unter Napoleon Bonaparte III. die italienischen und osteuropäischen Einigungsbestrebungen ideologisch und aus einem Interesse an der Einhegung Österreichs heraus. England sah in den innerstaatlichen Interventionen einen Verrat an den eigentlichen Zielen der heiligen Allianz, nämlich für Stabilität in Europa zu sorgen.



Verhaltensstandards



Daneben etablierte der Kongress wichtige Verhaltensstandards: Alle Beteiligten waren grundsätzlich gleichberechtigtGleichberechtigung der Mitglieder und es wurde ein möglichst fairer Ausgleich zwischen allen angestrebt, um einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten (Erbe 2004: 355). Unter ihnen sollte ein gewisses Maß an Solidarität herrschen im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung für die Aufrechterhaltung von „Ruhe und Sic