Grund und Grenzen eines Marktwirtschaftsstrafrechts

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8. „Harm Principle“ und „Offence Principle“

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„Harm Principle“ sowie „Offence Principle“ entstammen der anglo-amerikanischen Rechtswissenschaft und stellen zur Bestimmung der Strafwürdigkeit auf den Eintritt einer Schädigung bzw. Belästigung ab. So unterstreicht das „Harm Principle“ mit Formulierungen wie „harm to others“[67], dass allein die Schädigung Anderer unter Strafe gestellt werden darf. Ausgeschlossen wird so die Bestrafung bloßer Selbstschädigungen oder reiner Moralwidrigkeiten.[68] Ziel des „Harm Principle“ ist die Bewahrung „wichtige(r) Interessen des Individuums“ vor „Beeinträchtigungen durch andere Personen“, um möglichst optimal die Freiheitssphären aller und damit die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens zu schützen.[69] Abgestellt wird bei der Feststellung eines Schadens auf die Beeinträchtigung eines Interesses, welches wiederum als Ressource definiert wird, verstanden als „ein Mittel oder (…) eine Fähigkeit (…), dem oder der im Normalfall ein gewisser Wert für die menschliche Lebensqualität zukommt“.[70] Schädigendes Verhalten sei daher nur bei einer „Beeinträchtigung einer Ressource, auf deren unbeeinträchtigte Existenz ein anderer Anspruch hat“ gegeben, wobei das Bestehen dieses Anspruchs zunächst anhand einer Primärrechtsordnung wie beispielsweise des Zivilrechts überprüft werden muss.[71]

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Die Ausrichtung des „Harm Principle“ am Schaden im Sinne der Beeinträchtigung eines Interesses bringt jene Nachteile mit sich, die bei der Lehre des Verbrechens als Interessensverletzung bereits angesprochen wurden. Schwierigkeiten bei der Bestimmung eines Interesses ergeben sich insbesondere wenn Belange der Allgemeinheit beurteilt werden sollen. Dabei fällt es nicht nur schwer, die Werthaftigkeit eines Zustands für das menschliche Leben auszumachen oder den Grad einer Beeinträchtigung als strafrechtlich relevant festzustellen, sondern auch beispielsweise den Inhaber des Anspruchs auf eine intakte Wirtschaftsordnung zu benennen. Die Forderung nach der „Beeinträchtigung einer Ressource, auf deren unbeeinträchtigte Existenz ein anderer Anspruch hat“ führt im Wirtschaftsstrafrecht aufgrund der Komplexität der ökonomischen Vorgänge nicht zu tragfähigen Ergebnissen. Wird die Funktionsfähigkeit einer Wirtschaftsordnung als Ressource definiert, fragt sich, ob auch unrentable Unternehmensführung oder verlustreiche Investitionen als Ressourcenbeeinträchtigung zu verstehen sind, weil keine Gewinne erwirtschaftet und so optimale Allokationen verhindert wurden. Da in unwirtschaftlichem Verhalten nicht in jedem Fall auch strafbares Handeln gesehen werden kann, bedarf es eines Maßstabs zur Grenzziehung zwischen kriminellem und bloß unerwünschtem, aber hinzunehmendem Verhalten. Im Rahmen des „Harm Principle“ wird zwar notwendigerweise berücksichtigt, wie wichtig die betroffenen Interessen sind und wie wahrscheinlich der Schadenseintritt bzw. die Schädigung für das Opfer ist, doch fehlt diesen Kriterien jede normative Verankerung, weshalb sie „äußerst wandelbar und populistischen Meinungen unterworfen“ sind.[72]

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Abhilfe schafft jedoch auch nicht das „Offence Principle“, wonach ein Verhalten auch dann bestraft werden kann, wenn es zwar nicht zu einem Schaden im Sinne des „Harm Principle“ führt, aber eine Belästigung verursacht.[73] Eine Belästigung liege in jedem Handeln, das derart öffentlich erfolge, „dass sich der Einzelne (ihm) nicht ohne weiteres entziehen oder (es) nicht wahrnehmen (konnte)“ und das unerwünschte Empfindungen hervorrief, die „hinreichend intensiv“ waren.[74] Indem das „Offence Principle“ allein auf subjektive und damit kaum messbare Empfindungen abstellt, lässt sich gerade die für die Beurteilung der Strafwürdigkeit maßgebliche Beeinträchtigung kaum nachweisen.[75] Als problematisch erweist sich auch, dass das „Offence Principle“ solche Handlungen strafwürdig erscheinen lässt, die gerade unterhalb der vom „Harm Principle“ als Erheblichkeitsschwelle definierten Schadenszufügung liegen.[76]

Für das Wirtschaftsstrafrecht ist das „Offence Principle“ jedoch bereits durch seine Ausrichtung auf subjektive Eindrücke ungeeignet. Insgesamt ermöglicht aber auch die Unterscheidung von bloßen Belästigungen im Sinne des „Offence Principle“ und tatsächlichen Schäden nach dem „Harm Principle“ nur eine reichlich vage Bestimmung der Strafwürdigkeit, weshalb es für den Umgang mit wirtschaftlichem Fehlverhalten nicht geeignet ist.

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › I › 9. Rechtsgutslehre

9. Rechtsgutslehre

a) Begriff des Rechtsguts

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Als Schöpfer des Rechtsgutsbegriffs gilt gemeinhin Johann Michael Franz Birnbaum, der 1834 für das Vorliegen einer Straftat erstmals die Gefährdung oder Verletzung staatlich geschützter materieller Güter forderte.[77] Zwar führte erst knapp 40 Jahre später Karl Binding den Begriff „Rechtsgut“ in die Rechtswissenschaft ein, doch war es Birnbaum, welcher der bis dahin geforderten Verletzung eines „Rechts“ erstmals die eines „materiellen Gutes“ entgegensetzte.[78] Damit bildete er eine klare Gegenposition zum Verständnis P.J.A. von Feuerbachs, der eine Rechtsverletzung als Grund des Verbrechens genügen ließ und daher nur die Verletzung individueller Rechte des Opfers forderte.[79] Die Verfehlung des Straftäters lag danach in der Verletzung der Rechte eines individuellen Opfers, nicht in der eines Straftatbestands oder des Rechts selbst, so dass kein Verbrechen darstellte, was rein pflichtwidrig oder anstößig war.[80] Daher lehnte Feuerbach die Bestrafung reiner Gedanken oder Gesinnungen ebenso ab, wie das strafrechtliche Vorgehen gegen allein unmoralische oder sündhafte Handlungen. Die Schwächung, also der einmalige außereheliche Beischlaf, die Begründung eines Concubinats (heute als eheähnliche Lebensgemeinschaft bezeichnet), der Inzest und Sodomie (mit dem gleichen Geschlecht oder Tieren ausgeübter Geschlechtsverkehr)[81] waren für Feuerbach deshalb ebenso wenig Verbrechen wie Gotteslästerung oder Ketzerei[82].

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Birnbaum hielt dieses Verständnis vom Wesen einer Straftat für zu eng und strebte dessen Ausweitung über Personen und Sachen hinaus an, um auch Straftatbestände erklären zu können, die zwar nicht eine Verletzung individueller Rechte pönalisierten, aber trotzdem kriminelles Verhalten erfassten.[83] Dass seine Lehre von der Verletzung subjektiver Rechte auf der Verletzung der Rechtssphäre eines anderen basierte und dieses Problem nicht klären konnte, erkannte auch Feuerbach, doch suchte er den Ausweg in einer begrifflichen Lösung, indem er derartige Verhaltensweisen als Polizeiübertretungen oder Verbrechen im weiteren Sinne bezeichnete.[84] Birnbaum dagegen genügte eine Beschränkung auf subjektive Rechte, also die Rechte des individuellen Opfers, nicht, weshalb er neben individuellen auch Gemeingüter in seine Betrachtungen einbezog.[85] Da diese (materiellen) Gemeingüter auch die Vorstellungen religiöser oder sittlicher Art (!) umfassten, war fortan auch die Bestrafung rein moralwidriger oder lediglich staatliche Ordnungsvorschriften verletzender Handlungen möglich.[86] Damit zeigt sich Birnbaums Verständnis des Verbrechens im Vergleich zum Ansatz Feuerbachs zwar in positivistischer Hinsicht wesentlich genauer, gleichzeitig aber auch normativ unscharf.[87]

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Erst als Karl Binding Ende des 19. Jahrhunderts den Rechtsgutsbegriff wiederentdeckte, erfuhr dieser eine Veränderung. Nach Binding ist das Rechtsgut etwas, das der Gesetzgeber für die Rechtsgemeinschaft wertvoll hält, weil es dieser ein gesundes Leben ermögliche.[88] An der „unveränderte(n) und ungestörte(n) Erhaltung“ habe die Rechtsgemeinschaft daher ein Interesse, weshalb der Gesetzgeber es durch Normen „vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung“ sichern müsse.[89] Seither hat die Diskussion um die Rechtsgutsdefinition keine wesentlich neuen Erkenntnisse gebracht. Vielmehr lässt sich zwischen Feuerbachs subjektiver Rechtsverletzung und der Gefährdung legislativ bestimmter Interessen nach Binding ein breites Spektrum nahezu unzählbarer Ansichten finden. So wird vertreten, das Rechtsgut sei ein als „sozial wertvoll erkannte(s) Lebens(gut)“[90], ein „rechtlich geschützter abstrakter Wert der Sozialordnung“[91], ein „von der Gesamtheit oder der relevanten Mehrheit der staatlichen Gemeinschaft anerkanntes Interesse“[92] bzw. die „reale Beziehung der Person zu konkreten, von der Rechtsgesellschaft anerkannten Werten – ‚soziale Funktionseinheiten‘, in denen sich das Rechtssubjekt mit Billigung durch die Rechtsordnung personal entfaltet“[93]. Ebenso wird es verstanden als die „für unsere verfassungsgemäße Gesellschaft und damit auch für die verfassungsgemäße Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers unverzichtbare und deshalb werthafte Funktionseinheiten“[94], der „von wertvollen Sachverhalten ausgehende Achtungsanspruch, soweit auf dessen unerlaubte Verletzung die staatlichen Organe mit Rechtsfolgen zu reagieren haben“[95], „unmittelbare oder mittelbare Wertverletzung“[96] sowie als „Schutzgegenstand einer Norm“[97]. Aber auch „rechtlich geschützte Werte“[98], „die wichtigsten Bereiche sozialen Zusammenlebens bzw. die sozial wichtigsten Interessen“[99], „Objekte, die dem Menschen seine Selbstverwirklichung ermöglichen“[100], „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen (…), die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind“[101] sowie „strafrechtliche schutzbedürftige menschliche Interessen“[102], die „Voraussetzungen eines freien und friedlichen Zusammenlebens der Menschen im Staatsverband“[103] oder schlicht einen „rechtlich positiv bewerteten Sachverhalt“[104] bezeichnet man als Rechtsgut. Die Zahl der zur Bestimmung des Rechtsguts angebotenen Definitionen ist nahezu unüberschaubar und ebenso mannigfaltig sind ihre Auswirkungen auf die Anerkennung der Güter, Werte, Interessen und Beziehungen als Rechtsgut. Diese Vagheit des Rechtsgutsbegriffs bedingt seine eher geringe Schärfe bei der Klärung von Abgrenzungsfragen, denn die Bewertung eines Zustands als werthaft oder eines Interesses als berechtigt, wird stets von vorgelagerten, internalisierten und im Grunde allgemein geteilten Wertvorstellungen bestimmt.[105] Zugespitzt werden diese Schwierigkeiten, wenn es um die Beurteilung der Berechtigung oder Werthaftigkeit von Institutionen, Funktionsabläufen bzw. ganzer Subsysteme geht, da es dann zu bewerten gilt, wie stark die Gesellschaft diese benötigt.[106]

 

b) Kollektive und mediatisierte Zwischenrechtsgüter

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Die Rechtsgutslehre unterscheidet zwischen Individual- und Kollektivrechtsgütern, wobei letztere auch als überindividuelle, soziale oder die Interessen der Allgemeinheit betreffende Rechtsgüter bezeichnet werden und zur Erfassung von Interessen der Allgemeinheit etabliert wurden.[107] Allgemeine Anerkennung finden dabei beispielsweise die staatliche Rechtspflege als Rechtsgut der §§ 153 ff. StGB oder die Funktionsfähigkeit des Verwaltungsapparats bei §§ 331 ff. StGB, kontrovers diskutiert werden dagegen die Kollektivrechtsgüter zum Schutz der Umwelt oder der Wirtschaft. Zweifel an Legitimität oder Notwendigkeit kollektiver Rechtsgüter im Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts wiegen umso schwerer, als gerade der Schutz dieser Kollektivrechtsgüter heute als dogmatische Besonderheit und Charakteristikum des Wirtschaftsstrafrechts betrachtet wird[108]. So ist beispielsweise als Rechtsgut von § 298 StGB der freie Wettbewerb[109] anerkannt, aber auch, dass § 299 StGB dessen lauteren Ablauf[110], § 264 StGB das Institut der Subvention[111] sowie § 264a StGB das Funktionieren des Kapitalmarkts[112] schützt. Gelegentlich ist jedoch umstritten, ob von einer Norm neben einem kollektiven Rechtsgut auch individuelle Interessen geschützt werden.[113] Das Abstellen auf derartige überindividuelle Interessen soll zwar eine „Erfassung der (meisten) Wirtschaftsstraftaten“ ermöglichen[114], doch wird der dogmatischen Konstruktion des kollektiven Rechtsguts auch Kritik entgegen gebracht. Während der gelegentlich bemerkte „geradezu inflationär(e) Erfolg“ bei der Suche neuer kollektiver Rechtsgüter[115] eher eine Frage der angemessenen Begrenzung dieser Rechtsfigur ist, wird in Form grundlegender Zweifel angeführt, dass es sich bei kollektiven Rechtsgütern allenfalls um „wolkig(e)“, „luftig(e)“, „vag(e)“ und frei erfundene Gebilde handele.[116] Diese gelegentlich recht metaphorisch vorgetragenen Einwände mögen in vielen Fällen fehlgehen,[117] doch offenbart das Abstellen auf kollektive Rechtsgüter an anderer Stelle ein für das Wirtschaftsstrafrecht weit erheblicheres Defizit.

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Die Option, auf den Schutz kollektiver Rechtsgüter abstellen zu können, kann dazu verleiten, auch solche Interessen strafrechtlich zu schützen, die „einen eher geringen Bezug zu einem konkreten, geschützten Rechtsgut aufweisen bzw. dieses Defizit über vage, inakzeptable Rechtsgutskonstruktionen (…) zu kaschieren“.[118] Relevanz gewinnt dabei auch der weite Kreis schutzwürdiger kollektiver Interessen, bieten sich doch allein als Rechtsgut der Geldwäsche nach § 261 StGB „mal die Rechtspflege, mal die innere Sicherheit, mal der legale Wirtschafts- und Finanzkreislauf und mal die Rechtsgüter der Vortaten“[119] an. Die Suche nach dem von § 261 StGB geschützten Rechtsgut zeigt deutlich, dass sich über den Bezug auf kollektive Rechtsgüter nahezu unbegrenzt „flächendeckende Tatbestände und strafrechtliche(r) Vorfeldschutz“[120] schaffen lassen. Dies kommt dem Bestreben nach umfassendem strafrechtlichem Schutz zwar entgegen, birgt aber auch die Gefahr der Lähmung sozialer Interaktionen. Hinzu kommen Unsicherheiten, wenn es darum geht, die Beeinträchtigung eines kollektiven Rechtsguts überhaupt festzustellen. Da sich ein Schaden in den meisten Fällen kaum messbar ausmachen lässt, sollen (abstrakte) Gefährdungstatbestände, die „angemessene Reaktionsform“ beim Umgang mit kollektiven Rechtsgütern darstellen[121].

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Wie die meisten Probleme im Rahmen der kollektiven Rechtsgüter bietet auch der Themenkreis der (abstrakten) Gefährdungsdelikte genug diskussionswürdige Fragestellungen, um jeweils einzeln Gegenstand einer monografischen Darstellung zu werden[122]. Für die vorliegende Untersuchung genügt es festzustellen, dass auch die Konstruktion des Gefährdungsdelikts bei der Beurteilung wirtschaftlichen Fehlverhaltens nur begrenzt von Nutzen ist. Gefährdungsdelikte sind in ihrer Dogmatik an die Lehre vom Rechtsgut und seiner Verletzung angebunden, wobei das zu betrachtende Stadium eines Angriffs nach vorn verlagert ist. So, wie klar fassbare Rechtsgutsverletzungen nicht bei jedem wirtschaftlichen Fehlverhalten stets auffindbar sind, verhilft auch das Abstellen auf die Verursachung einer Gefahr nicht zu einem generell angemessenen Umgang mit wirtschaftlichem Fehlverhalten. Wird beispielsweise das objektiv beste Produkt in einem (sehr kleinen) Warensegment durch die Zahlung entschleierter Schmiergelder in seinem Absatz gefördert oder eine berechtigt erlangte marktbeherrschende Stellung (in einem hochspezialisierten und nur von wenigen Unternehmen erschlossenen Marktbereich) nun mit missbräuchlichen Mitteln verteidigt, dürfte es schwer fallen, eine abstrakte oder gar konkrete Gefahr für den funktionierenden marktwirtschaftlichen Wettbewerb insgesamt auszumachen. Die trotzdem vorliegende Störung ökonomischer Interaktion und Koordination kann mit dem Instrument des Rechtsguts nicht in ihrem Unrechtsgehalt erfasst werden. Es muss jedoch Anspruch des Wirtschaftsstrafrechts sein, auch eine Strafwürdigkeitsbeurteilung derartig grenzwertiger Fälle durchführen zu können, ohne letztlich auf die Kumulation von Handlungserfolgen zurückgreifen zu müssen.[123]

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Von einem Teil der Lehre wurde deshalb, ausgehend von der Betrachtung kollektiver Rechtsgüter, die Rechtsfigur der mediatisierten bzw. vergeistigten Zwischenrechtsgüter entwickelt. Ausgehend von einer steigenden Anzahl von „Normen, welche abstrahierte Rechtsgüter einschieben, die mit steigender Sozialdichte der Rechts- und Wirtschaftsordnung immer schwieriger greifbar werden“[124], brachte vor allem Tiedemann die Diskussion besonders im Wirtschaftsstrafrecht voran. Mediatisierte Zwischenrechtsgüter stünden eigenständig zwischen den Interessen des Einzelnen und den Interessen des Staats,[125] und bereits ihre Verletzung würde strafwürdiges Unrecht darstellen[126]. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Interessen des Einzelnen „rechtlich (…) nur mittelbar ‚hinter‘ und ‚über‘ den Interessen der Allgemeinheit an einem geordneten Wirtschaftsablauf“ ständen sowie die „geschützten Wirtschaftsgüter und Interessen der Gesellschaft (…) relativ impermeabel“ seien.[127] Im Rahmen der komplexen wirtschaftlichen Prozesse wären als mediatisierte Zwischenrechtsgüter zwischen den staatlichen Interessen und denen des einzelnen Teilnehmers am Wirtschaftsleben beispielsweise das Funktionieren des Kreditverkehrs oder des Kapitalmarkts anzusehen.[128]

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Der Rechtsfigur der mediatisierten Zwischenrechtsgüter wird hinsichtlich ihres rechtsdogmatischen Potentials kritisch begegnet. Kritisiert wird zuweilen, dass der Begriff des mediatisierten Zwischenrechtsguts selbst wenig klar sei[129] und es sich bei dieser Figur eher um ein „Indiz für eine unzutreffende Rechtsgutsbestimmung als für ein legitimes Zwischenrechtsgut“[130] handele. Mediatisierte Zwischenrechtsgüter beträfen nicht das Rechtsgut selbst, sondern seien vielmehr lediglich eine „Beschreibung des Handlungsobjekts im Hinblick auf ein Rechtsgut“[131]. Im Wirtschaftsstrafrecht greife die Rechtsfigur ohnehin sowohl zu kurz, weil nicht klar sei, welche Leistung das Wirtschaftsstrafrecht für die „Freiheiten des einzelnen“ leiste, als auch zu weit, da sie nicht begründen könne, warum die Funktionsbedingungen des Wirtschaftslebens strafrechtlichen Schutz erhalten sollten.[132] Während mediatisierte Zwischenrechtsgüter bei der Erfassung kollektiver Rechtsgüter mittels (abstrakter) Gefährdungsdelikte sinnvolle Hilfestellung geben können, sind sie bei der darüber hinausgehenden Bestimmung des materiellen Verbrechensbegriffs daher nur „wenig klärend“[133].

c) Personale Rechtsgutslehre

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Die personale Rechtsgutslehre sieht die Aufgabe des Strafrechts in der Sicherung personaler Entfaltungsvoraussetzungen, weshalb nur „eine verletzbare, reale Gegebenheit (…), die sich in der historischen Situation als personale Entfaltungsvoraussetzung und -bedingung darstellt“[134], Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes sein könne. Bestreben der personalen Rechtsgutslehre ist die Abbildung des in der grundgesetzlichen Wertordnung vorgegebenen „Verhältnis(ses) von Person und Gesellschaft“ im Bereich des Strafrechts, weshalb Individualrechtsgüter den Kern der Betrachtungen ausmachen.[135] Überindividuelle Güter finden insofern Beachtung, als die reale Interaktion „zwischen einer Vielzahl von Individuen“ zur Herausbildung „neue(r) Elemente ihres Daseins“ führe.[136] Voraussetzung für den Schutz überindividueller Güter sei jedoch, dass sie „sich von personalen Interessen ableiten lassen, also zur Sicherung der Entfaltungsbedingungen der Person notwendig sind“.[137] Die Berücksichtigung überindividueller Güter führe jedoch „zum Schutz ‚mediatisierter Zwischenrechtsgüter‘“, welche „von der Sicherung unmittelbarer personaler Entfaltungsvoraussetzungen abgeschichtet“ seien und statt einer Verletzung nur die Gefährdung von Entfaltungsvoraussetzungen pönalisierten.[138] Diese Einbeziehung der Gefährdung von Entfaltungsmöglichkeiten begründet jedoch stets die Gefahr einer fortlaufenden Erweiterung der erfassten überindividuellen Güter, weil mit der gesellschaftlichen Entwicklung stets neue Entfaltungsvoraussetzungen geschaffen werden.[139] In einer derartigen Einbeziehung liegt stets „die Gefahr eines entmaterialisierten und damit für die Überprüfung des Normenbestandes folgenlosen Rechtsgutsbegriffs“.[140] Daneben wirkt auch das Kriterium der Ableitbarkeit überindividueller Güter aus personalen Interessen problematisch. Weil die personale Rechtsgutslehre allein die Wichtigkeit der Pönalisierungsgründe als Prüfstein anführt, um bei steigender Zahl der zur Ableitung notwendigen Denkschritte, Abgrenzungen von strafwürdigem und hinzunehmendem Verhalten zu ermöglichen, bietet sie gerade im Bereich überindividueller Güter allenfalls eine vage „Handlungsanleitung“.[141] Überindividuelle Güter, die nur „über Zwischenschritte auf den Schutz des Einzelnen“ bezogen werden können, müssten deshalb genau auf das tatsächliche Vorliegen personaler Entfaltungsvoraussetzungen überprüft werden.[142] Sei ein solcher Rückbezug nicht festzustellen, sollen die entsprechenden Normen aus dem Strafgesetz entfernt und beispielsweise ins Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrecht ausgelagert werden, wo sie ein sog. Interventionsrecht bilden würden.[143] Zurück bliebe dann nur noch ein durch seine direkten personalen Bezüge charakterisiertes Kernstrafrecht.[144]

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Sind Beeinträchtigungen von personalen Entfaltungsvoraussetzungen gegeben, bietet die personale Rechtsgutslehre eindeutige Antworten bei der Beurteilung der Strafwürdigkeit, in allen anderen – und das sind die meisten – Fällen taugt sie dagegen allenfalls als Argumentationsmuster,[145] ohne jedoch eine deutliche Grenzziehung vorzugeben. Insbesondere die Einbeziehung der überindividuellen Güter setzt die Konturen der Argumentation vollends einem Auflösungsprozess aus. Auch die Schaffung eines Interventionsrechts kann wenig überzeugen. Dieses Vorgehen entspricht zwar der inneren Logik der personalen Rechtsgutslehre, weil sie sonst den Schutz überindividueller Güter nur mit den genannten Schwierigkeiten verwirklichen kann, doch wird so die wesentliche Bedeutung gesellschaftlicher Prozesse und Institutionen für die Entfaltung des Individuums vernachlässigt. Der Umstand, ein Phänomen mit den eigenen Strukturen nicht überzeugend erfassen zu können, führt zu einer Lösung, die angesichts der auf Interaktion zwischen Individuen angelegten Lebensweise nicht zeitgemäß erscheint. Dem Individuum kommt zwar noch immer elementare Bedeutung zu, doch ist der Schutz seiner Interaktionsmöglichkeiten im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung ebenso wesentlich geworden[146]. Der immensen Bedeutung überindividueller Güter wie eines funktionierenden Wirtschaftslebens wird ein bloßes Interventionsrecht nicht gerecht. Vielmehr bedürfen auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten aufgrund ihres Einflusses auf die gesellschaftliche Identität in letzter Reihe auch des strafrechtlichen Schutzes. Da die personale Rechtsgutslehre zur Verhinderung einer übermäßigen Strafrechtserweiterung auch eine zukünftige Pönalisierung wirtschaftlichen Fehlverhaltens ablehnt und damit einen der bedeutendsten gesellschaftlichen Bereiche ohne strafrechtlichen Schutz lässt, kann ihr im Weiteren nicht gefolgt werden. Die Verhinderung übertriebenen strafrechtlichen Eingreifens ist ein legitimes Ziel strafrechtswissenschaftlicher Überlegungen, doch kann dieses Anliegen nicht in der Flucht in das entgegengesetzte Extrem liegen. Für die Beurteilung der Strafwürdigkeit wirtschaftlichen Fehlverhaltens bietet die personale Rechtsgutslehre keine Anhaltspunkte, weshalb sie für die weitere Untersuchung unberücksichtigt bleiben kann. Denn statt das Strafrecht vollkommen aus seiner Verantwortung für einen Teil des gesellschaftlichen Lebens zu entbinden, muss vielmehr nach einer Möglichkeit für einen angemessenen Umgang mit der entsprechenden Regelungsmaterie gesucht werden.