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Ich wechselte ins Schlafzimmer. Bezog das Bett neu. Beschloss, dass ich neues Bettzeug brauchte, eines ohne Blumenmuster, das ich von meiner Mutter geerbt hatte. Öffnete meinen Kleiderschrank. Und sank auf den Boden, eine Hand auf meine Brust gepresst, als die Finger einer Panikattacke nach mir griffen.

Ich drückte die Schnellwahltaste an meinem Telefon und betete, dass meine Mutter nicht rangehen würde.

»McKinnon«, zirpte Jilly.

»Jill«, sagte ich. »Ich muss dringend einkaufen gehen.«

Kapitel 3

»Also, wonach suchen wir?«, fragte Jilly. Sie hatte sich bei mir untergehakt, während wir uns durch das Einkaufszentrum schlängelten und immer wieder stehen blieben, um einen Blick auf Schaufensterpuppen mit winzigen Taillen, riesigen Brüsten und milchigen, blinden Augen zu werfen. Sie erinnerten mich an etwas aus Dr. Who, das ich aus meiner Kindheit kannte, und dank dieser Assoziation waren sie mir nicht geheuer.

»Ich brauche neue Bettwäsche«, sagte ich so beiläufig und lässig wie möglich. »Und neue Kleidung.«

»Du triffst dich mit jemandem«, sagte sie und ihre Augen leuchteten auf, als sie mich herumwirbelte. Ich errötete. Sie quietschte auf und tanzte auf der Stelle. »Tatsächlich! Erzähl mir von ihm.«

»Ich erzähle dir gar nichts«, sagte ich. »Wir hatten erst eine Verabredung. Ich werde dir mehr erzählen, wenn es sich weiterentwickelt.«

Sie schmollte, nahm es aber hin. »Klamotten shoppen gehen? Mit dir? Tja, das passiert so selten, dass wir das Beste daraus machen sollten.«

»Ich kaufe gelegentlich neue Kleidung«, protestierte ich getroffen.

»Jep, eine neue Kordjacke, um deine alte Kordjacke zu ersetzen. Du bist ein wandelndes Klischee.«

»Ich brauche Jeans«, sagte ich und ignorierte sie. »Und Hemden. Und vielleicht einen neuen Pullover.«

Als wir uns schließlich zum Mittagessen hinsetzten – zwischen uns waren Burger ausgebreitet, die wie Könige auf ausgewickeltem Wachspapier thronten, und glänzende, goldene Pommes –, hatte ich fast dreihundert Dollar ausgegeben. Für Kleidung. Bis zur Bettwäsche waren wir noch gar nicht gekommen. Die ganze Zeit über zwang ich mich verzweifelt, nicht an das Geld zu denken, damit es keine weitere Panikattacke hervorrief.

»Bitte erzähl mir was über ihn«, bettelte meine Schwester. Ihre Augen waren riesengroß und ihre Unterlippe war in einer Parodie kindischen Flehens vorgeschoben. Was bei mir schon immer gewirkt hatte.

»Er ist nett«, gab ich nach. »Bei ihm fühle ich mich… ich weiß nicht. Jünger. Und gleichzeitig so viel älter als er.«

»Bist du das denn?«

»Was?«

»So viel älter als er.«

Ich seufzte schwer. »Ein wenig.«

»Ohh«, sagte sie grinsend. »Ein jüngerer Mann. Du alter Fuchs, Robert.«

»Er nennt mich Rob«, gab ich zu, während ich eine Pommes durch den blutroten Tomatenketchup zog.

»Und du hast ihm noch nicht die Eier abgeschnitten?«

Ich schnaubte lachend. »Offensichtlich. Allerdings habe ich noch keinen richtigen Blick auf sie geworfen.«

»Noch nicht?«

»Noch nicht. Ich habe schon zu viel gesagt. Erzähl es um Himmels willen nicht Mum.«

»Mach ich nicht.«

Und das würde sie auch nicht. Jilly und ich waren weit davon entfernt, uns nahezustehen, aber wir teilten die Erfahrung, in sehr jungen Jahren von unserem Zuhause entwurzelt und dazu gezwungen worden zu sein, uns in einer neuen, unheimlichen Umgebung anzusiedeln. Sie hatte sich wesentlich besser eingefügt als ich. Jünger zu sein hatte seine Vorteile, ebenso ihr natürliches, extrovertiertes Wesen.

Ich bezahlte das Mittagessen und lud sie ein, da sie mir beim Einkaufen geholfen hatte – daran gab es nichts zu leugnen.

Das Einzige, was es noch für mich zu tun gab, war ihn anzurufen, damit sich der ganze Aufwand auch lohnte.

Statt des Telefonanrufs wandte ich meine Aufmerksamkeit jedoch einem Friseursalon zu.

»Kürzen?«, wurde mir angeboten.

Ich zog meine Nase kraus. »Ein wenig kürzer als normal?« Ich formulierte es als Frage, um ihm Gelegenheit zum Spott zu geben, sollte mein Vorschlag unangebracht sein.

»Sicher«, sagte mein Friseur, Alfred. Er war annähernd fünfundsiebzig – mindestens – und weigerte sich, in den Ruhestand zu gehen, solange sein Sohn nicht von seinem Irak-Einsatz zurückgekehrt war. Nur dann, behauptete Alfred, könnte er seinen Laden schließen. Und wer war ich, dass ich seinen Aberglauben herausforderte?

Der seidenweiche Umhang wurde um meinen Hals festgesteckt und als die ersten Haarlocken zu Boden fielen, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche und hätte mich beinahe dazu gebracht, erschrocken aus dem Stuhl zu springen.

»Grundgütiger, Junge, was in aller Welt war das?«

»Nur mein Handy«, sagte ich, lehnte mich wieder zurück und errötete heftig. »Entschuldige, Alfred.«

Ich zog es unter dem riesigen Umhang hervor und öffnete die SMS.

Hey.

Von Chris. Nur ein Wort. Und ein Smiley, bestehend aus einem Semikolon, einem Bindestrich und der schließenden Klammer. Oh. Ein Augenzwinkern.

Hey.

Ich schickte die Nachricht zurück. Wartete.

Was machst du gerade?

Ich lasse mir die Haare schneiden.

Alfred fragte: »Wem schickst du denn wie ein Teenager Nachrichten?«

»Einem Freund«, sagte ich und zog den Kopf ein.

»Oh, komm schon, Junge, ich kenne dich schon zu lange, als dass dir das peinlich sein müsste. Erzähl mir von ihr.«

Ihr. Ihr, ihr, ihr, ihr, ihr. Weiblich. Ähm, nein.

»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte ich aufrichtig. Irgendwie aufrichtig. Es gibt nichts über eine Sie zu erzählen.

»Ich weiß, wann ich nicht nachhaken soll«, sagte er und blieb auf Abstand.

Er hakte tatsächlich nicht nach, das musste man ihm zugute halten, und ich gab ihm ein ordentliches Trinkgeld dafür, dass er seine Nase aus dieser Sache herausgehalten hatte.

Im Auto piepste mein Handy erneut.

Für heute Abend steht alles noch?

Mein Herz sprang in meine Kehle.

Ja, bei mir schon, bei dir?

Ich zögerte. Lange Minuten schwebte mein Daumen über dem Senden-Knopf, während ich die möglichen Auswirkungen meiner Handlungen abwog. Dann schloss ich die Augen und drückte den Knopf.

Ich konnte unmöglich weiterfahren, bevor er sich nicht zurückgemeldet hatte. Der Dunst der Zurückweisung hing schwer im Wagen, wirbelte um den Lufterfrischer herum und beschlug den Rückspiegel. In dem Versuch, mich abzulenken, klappte ich den Sichtschutz herunter und überprüfte in dem kleinen Spiegel meinen Haarschnitt, indem ich meinen Kopf von einer zur anderen Seite drehte, um einen besseren Blick darauf zu erhaschen. Es sah in Ordnung aus. An den Seiten kürzer, wie ich es schon länger nicht mehr getragen hatte, aber oben und am Nacken immer noch länger, sodass es schön aus meiner Stirn fiel und von Gel zurückgehalten wurde, das einen dumpfen Schimmer abgab.

Das Handy piepste.

Sicher. Wann soll ich vorbeikommen?

Ich nahm mehrere tiefe, reinigende Atemzüge.

Passt dir 19:00 Uhr?

Jep. Ich bring 'nen Film mit.

Nachdem das nun entschieden war, hielt ich auf dem Rückweg zu meinem Apartment beim Supermarkt, um die letzten Einkäufe zu erledigen, die ich noch benötigte. Dann verbrachte ich weitere zwanzig Minuten damit, durch die Gänge zu wandern, während ich zu entscheiden versuchte, was in aller Welt ich kochen sollte. Ich war kein außergewöhnlich schlechter Koch, aber ich war auch kein Gordon Ramsay und das würde ich auch niemals sein. Ich könnte eine Lasagne machen… eine schöne, leckere, harmlose Lasagne. Und dazu Ciabattabrot – kein Knoblauch. Nur für den Fall.

Popcorn, diese seltene Samstagmorgenleckerei aus meiner Kindheit, die es inzwischen in der bequemen, frisch in der Mikrowelle zubereiteten Tütenvariante gab, legte ich ebenfalls in meinen Einkaufswagen. Obwohl ich dem Verlust der süßen Sorte, die wir in Schottland bevorzugten, immer nachtrauern würde, hatte ich mich nichtsdestotrotz an die gebutterte Alternative hier in den Staaten gewöhnt. Sie würde fertig und frisch zubereitet in einer Schüssel zum Verzehr bereitstehen, entweder vor oder nach dem Abendessen.

Die monotone Aufgabe der Essensvorbereitung beruhigte mich irgendwie; sie bildete einen Fokus für meine zerstreuten Nerven, die zusätzlich durch das Lieblingsalbum meiner Lieblingsband, dem Namensvetter meiner Katze, beruhigt wurden. Flea schlängelte sich um meine Beine und bettelte um Aufmerksamkeit, während ich die Sauce kochte. Ich hob ihn hoch und kitzelte ihn unterm Kinn, dann gab ich ihm die Katzenminze, die er von Anfang an hatte haben wollen.

Als es an der Tür klingelte, war ich frisch geduscht, das Essen roch lecker und das neue Hemd, das ich mit Jilly gekauft hatte, sah – das musste ich zugeben – gut aus. Besser. Besser als das letzte Mal, als er mich gesehen hatte.

Mit einem Lächeln öffnete ich die Tür. »Hey.«

»Hey«, sagte er und beugte sich vor, um mir einen schnellen Kuss zu geben. Zu meiner absoluten Empörung flatterte mein Magen bei dieser Geste. So ein verdammtes Mädchen. »Das ist für dich.«

Er hielt mir eine Flasche Wein entgegen, dem Aussehen nach zu urteilen eine gute Flasche. Ein italienischer Merlot, der großartig zu der Lasagne passen würde.

»Perfekt«, sagte ich. »Danke. Komm rein. Fühl dich wie zu Hause.«

»Danke.«

Ich beobachtete ihn – alle Versuche der Heimlichkeit scheiterten kläglich, als er seine lederne Motorradjacke und die Stiefel auszog. Erstere hing er an den Garderobenhaken und Letztere stellte er neben der Tür ab. Wie ordentlich. Ich war verliebt.

 

»Ich habe Lasagne gemacht. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Klingt gut«, sagte er. »Und riecht noch besser.«

In seinen Augen stand ein Funkeln, das ich von dem Abend, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten, wiedererkannte. Etwas Dunkles und Humorvolles, Gefährliches vielleicht, etwas äußerst… Intensives. Wie ein heimlicher Scherz, den er nicht mitteilen wollte.

Fragend hob ich eine Augenbraue. Er lächelte immer noch, als er erneut einen Schritt auf mich zumachte und seine Handflächen flach über meine Brust strichen, während er sich für einen weiteren, langsameren, süßeren Kuss vorbeugte.

Ich spürte, wie meine Fingerspitzen federleicht durch seine Haare glitten; ihre Weichheit überraschte mich, als ob die hellen Strähnen wegen ihres Mangels an Farbe irgendwie weniger Substanz hätten.

»Wofür war das?«, fragte ich, als wir uns voneinander lösten.

Chris zuckte mit den Schultern. »Weil mir danach war.«

Da gab es nichts zu diskutieren.

Den Esstisch – wenn man ihn so nennen konnte, da nur Platz für zwei war – hatte ich bereits gedeckt und eine Kerze in eine alte Flasche gesteckt und sie tief herunterbrennen lassen. Möglicherweise etwas kitschig, aber schön. Ich führte Chris zu einem Korkenzieher und den Weingläsern, während ich auftischte und eine große Salatschüssel auf dem Tisch zwischen uns stellte.

Das Glück, oder das Schicksal, ließ uns beide zeitgleich hinsetzen.

Er hob sein Glas, das Feixen zurück auf seinem Gesicht, und ließ es gegen meines klirren.

»Auf…« Meine Stimme verlor sich, da ich ihn den Toast zu Ende sprechen lassen wollte.

»Auf unfassbar attraktive Schotten und ihren außergewöhnlichen Männergeschmack?«, schlug er vor.

Ich lachte. »Und auf sehr hübsche, junge Percussionisten, die zu schmeicheln wissen.«

»Darauf trinke ich«, sagte er.

Die ganzen Sorgen, dass der Funke zwischen uns verglühen könnte, hätte ich mir nicht zu machen brauchen. Er war weiterhin bezaubernd, witzig und süß; die Unterhaltung zwischen uns floss dahin wie der Wein aus der Flasche, der das Gespräch auf gute Art und Weise auflockerte. Erst, als die Kerze zu flackern begann, weil sie fast bis zum Ende des Dochtes heruntergebrannt war, bemerkte ich, wie spät es war. Es war schon eine Weile her, dass wir die Teller weggeräumt und uns erneut gesetzt hatten. Mit den Händen umschlossen wir die Weingläser, um die Flüssigkeit auf Körpertemperatur zu erwärmen. Unsere Körper waren über den Tisch gebeugt einander zugewandt; die Kante grub sich in meinen Bauch, aber ich würde mich nicht zurücklehnen. Wenn er sich rührte, spiegelte ich seine Bewegungen. Wenn ich meinen Kopf zur Seite neigte, zog er nach.

»Erzähl mir von Schottland«, sagte er.

Ich lächelte traurig. »Ich bin schon lange nicht mehr da gewesen.«

»Wie kommt's?«

»Der Weg dahin ist ziemlich weit. Inzwischen halte ich zu meiner Familie da drüben nicht mehr wirklich Kontakt, nichts, was über den jährlichen Austausch von Weihnachtskarten hinausgeht jedenfalls.«

»Vermisst du es?«

»Manchmal«, sagte ich und nippte an dem Wein. »Ich vermisse… den strömenden Regen.« Ich lachte. »Du hast noch nie echten Regen gesehen, wenn du noch keinen Hochlandregen gesehen hast. Und das Gefühl der Geschichte. Alles ist so alt.«

»Ich würde gern irgendwann mal dorthin.«

»Das wollen viele Amerikaner«, sagte ich. »Es ist sehr malerisch. Du weißt schon, die ganzen Kopfsteinpflasterstraßen und die mittelalterlichen Kirchen. Jahrhunderte über Jahrhunderte alte Geschichte und Entwicklungen und Veränderungen. Es ist leicht, sich zu verirren. Ich habe mal gehört, dass Edinburgh allen Gesetzen der Geografie und Physik trotzt, weil man immer bergauf geht, wenn man irgendwohin geht. Selbst wenn man denselben Weg zurück nimmt, geht man wieder bergauf. Das ist wahr.«

Chris lächelte und griff nach meiner Hand. Ich ließ sie ihn nehmen. Einen Moment streichelte er mein Handgelenk mit seinem Daumen, dann drehte ich seine Hand um, sodass die helle Totenkopftätowierung sichtbar wurde.

»Erzählst du mir davon?«, fragte ich.

»Das ist ein Tag der Toten-Schädel«, sagte er. »Das ist eine katholische Tradition aus Mexiko, um die zu ehren, die von uns gegangen sind. Der hier war für meinen besten Freund; er ist an einer Hirnhautentzündung gestorben, als wir siebzehn waren.«

»Das tut mir leid.«

Er zuckte die Schultern. »Er war derjenige, der mich fürs Musikmachen begeistert hat. Ich wollte das Tattoo auf meiner Hand, damit ich es immer sehen kann, wenn ich spiele.«

»Was ist mit den anderen?«, fragte ich und deutete auf seine nackten Arme. Wieder einmal hatte Chris die Ärmel bis zu seinen Ellenbogen hochgerollt, sodass er die Ansammlung von Tätowierungen präsentierte, die seine Unterarme zierten.

»Oh, sie sehen hübsch aus«, sagte er und grinste erneut. Er erlaubte mir, seinen Arm umzudrehen, damit ich die Sterne, die Rosen auf seinen Ellenbogen, den Schlagring (ausgerechnet!), die Schwalben, ein Schiff und eine erotisch verbogene Meerjungfrau inspizieren konnte.

»Sirene«, korrigierte er mich, als ich nachfragte. »Sie ist keine Meerjungfrau, sie ist eine Sirene. Eine Warnung an die Männer auf See: Kommt nicht zu nah an sie heran.«

»Es gibt viele Arten, diese Aussage zu interpretieren«, sagte ich lachend.

»Und das solltest du auch«, stimmte er zu.

»Hast du noch mehr?«, wollte ich wissen und dachte dabei an die Stellen unter seiner Kleidung.

»Ja.«

»Kann ich sie sehen?«, fragte ich.

»Mit Sicherheit wirst du das«, entgegnete er. Mit einem Augenzwinkern. »Ich schätze, du hast keine?«

»Oh Gott, nein«, sagte ich. »Meine Mum würde mich umbringen.«

Chris lachte; ein offenes, aufrichtiges Lachen, das kleine Fältchen um seine Augen zum Vorschein und seine Brust zum Beben brachte. »Meine ist auch nicht unbedingt begeistert. Allerdings mag sie dieses hier.«

Er zog sein Hemd zur Seite und entblößte ein Herz und ein Spruchband mit dem Wort Mom darauf.

»Sehr traditionell«, sagte ich lächelnd.

Er brummte zustimmend. »Ich mag den alten American-Style. Er ist so fröhlich und lebendig.«

»Genau wie du«, sagte ich, ohne nachzudenken.

Das Grinsen kehrte zurück.

»Da gibt es noch etwas, das du vermutlich wissen wolltest«, sagte ich, nahm seine Hand und fuhr den hellen, farbenfrohen Schädel auf seinem Handrücken mit meiner Fingerspitze nach. Ich gab nicht vor, nachvollziehen zu können, warum er die Tätowierungen haben wollte, aber sie waren zweifellos hübsch.

»Okay. Schieß los.«

»Ich, äh…« Wie sollte ich Chloe erklären? »Ich habe eine Tochter.«

Meine Fingerspitze hielt in ihrem sanften Streicheln inne, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zurückzuziehen, sollte er das wollen. Er wollte nicht.

»Oh.« Chris wandte sich mir mit einem amüsierten Grinsen zu. »Du hattest Sex mit einer Frau?«

Ich spürte, wie Hitze in meine Wangen stieg. »Ja. Einmal.«

»Ich bin ganz Ohr.«

Seufzend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. »Es waren einmal ein verwirrter junger Mann und ein sehr hübsches Mädchen.«

»Oh, oh«, unterbrach er mich. »Ich glaube, ich weiß, wie's weitergeht.«

Ich lachte, erleichtert über seine bisher lockere Akzeptanz. »Vielleicht. Luisa war auf der Highschool eine sehr gute Freundin von mir. Wir sind ein paar Mal zusammen mit Freunden zu Verabredungen gegangen, aber ich habe mich nicht richtig geoutet, bis ich auf dem College war. Ich wollte sie nicht demütigen.«

»Verständlich«, sagte Chris. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Er machte eine Geste, als würde er seine Lippen mit einem Reißverschluss verschließen.

»Als wir das erste Mal an Weihnachten vom College nach Hause kamen, fragte sie mich, ob ich sicher sei. Männer zu mögen. Ich sagte ja. Also fragte sie, ob ich schon mal mit einem Mädchen geschlafen habe. Und ich sagte nein. Sie sagte, wie ich dann sicher sein könne, wenn ich das nie zuvor ausprobiert hatte? Also taten wir es.«

»Du hast bei ihr einen hochgekriegt?«

»Ja. Ich sage nicht, dass es leicht war, aber ich habe es geschafft.«

»Augen zu und durch«, sagte Chris ernst.

»Genau. Als wir in den Frühlingsferien wieder zu Hause waren, sagte sie mir, dass sie schwanger sei, und ich fragte, ob es von mir sei, woraufhin sie mich schlug. Sie hat mir ein blaues Auge verpasst. Dann oblag mir die demütigende Aufgabe, meinen Eltern zu sagen, dass ich immer noch sicher bin, schwul zu sein, aber dass ich es trotzdem geschafft habe, mit Lu zu schlafen, und dass ich jetzt buchstäblich und metaphorisch am Arsch bin.«

Chris runzelte die Stirn und drehte unsere Hände um, um meine in seine zu nehmen. »Was hast du gemacht?«

»Luisa bekam das Baby im Sommer zwischen dem ersten und zweiten Studienjahr und ging dann direkt wieder in die Vorlesungen. Ein paar Jahre lang wurde Chloe von ihren Großeltern mütterlicherseits aufgezogen, bis wir beide mit unserer Ausbildung fertig waren. Dann versuchten wir, für etwa ein Jahr zu dritt zusammenzuleben, aber das war eine vollkommene und heillose Katastrophe, also nahm ich die Lehrstelle hier an.«

»Wo lebt sie jetzt?«

»Lu oder Chloe?«

»Beide. Ich schätze, dass sie zusammen sind.«

»Oh, ja, natürlich. Lu hat geheiratet, vor ungefähr vier, nein… fünf Jahre sind es inzwischen. Chloe hat eine kleine Schwester und eine weitere Schwester oder ein Bruder ist unterwegs.«

»Und sie hat einen Stiefvater.«

»Das macht mir nicht so viel aus«, murmelte ich. »Ich bin nicht der beste Vater der Welt.«

»Warum nicht?«, wollte Chris wissen und sah zum ersten Mal, seit ich diese Unterhaltung begonnen hatte, aufgebracht aus. »Du hast sie gemacht, da solltest du auch die Verantwortung für sie übernehmen.«

Ich nickte langsam. »Das weiß ich. Aber Chloe ist fast vierzehn, Chris. Im Moment mag sie niemanden besonders gern, am wenigsten eine ständig abwesende Vaterfigur. Mike tut ihr gut, das weiß ich, er ist ein großartiger Vater.«

»Weiß sie, dass du schwul bist?«, fragte er.

»Das weiß ich nicht. Vielleicht. Wahrscheinlich.«

»Na, damit ist ja alles klar«, sagte er sarkastisch.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte ich. »Luisa hat es ihr vielleicht gesagt. Ich habe es bestimmt nicht getan. Sie hat genug Probleme, mit denen sie sich herumschlagen muss, ohne dass die Sexualität ihres abwesenden Vaters mit hineinspielt.«

»Würdest du mich ihr vorstellen?«, fragte er. Ich spürte, dass das eine Art Test war. Wie ernst war es mir mit unserer Beziehung? Ernst genug, um den Freund mit der Tochter zusammenzubringen?

»Ja«, sagte ich. »Wenn du das möchtest, werde ich das natürlich machen.«

Er nickte. »Okay.«

Ich entschuldigte mich, um auf die Toilette zu gehen, und überließ es ihm, sich den Rest des Apartments anzuschauen. Als ich zurückkam, musterte er gerade das Gemälde einer Kirche in der Nähe von dort, wo ich aufgewachsen war.

»Ist das Edinburgh?«, fragte er. Ich nickte, trat an ihn heran und legte meine Arme von hinten um ihn.

»Von meinem alten Zimmer aus habe ich immer diese Kirche sehen können. Ich liebte die Gargoyles. Sie waren über das ganze Gebäude verteilt und knurrten und brüllten einen an.«

»Schreibst du?«, fragte er und drehte sich in meinen Armen um. Ich schüttelte den Kopf. »Solltest du aber«, meinte er. »Du hast so eine Art, mit Worten umzugehen.«

»Ich habe viele wissenschaftliche Veröffentlichungen geschrieben«, sagte ich und korrigierte damit meine vorherige Aussage.

»Das zählt nicht.«

»Ich habe lange an einem Buch gearbeitet«, gab ich zu. Rückwärts ging ich zum Sofa hinüber, beließ meine Arme jedoch um ihn, sodass ich ihn mit mir nahm. »Ich schreibe immer noch daran.«

»Wovon handelt es?«, fragte er und stieß die Luft aus, als wir uns in die Kissen fallen ließen.

»Kipling«, gestand ich. »Es ist keine Biographie oder eine kritische Analyse seiner Werke, aber es beinhaltet Elemente von beidem.«

»Vielleicht kann ich es irgendwann lesen«, sagte er leise.

»Vielleicht. Nächste Woche halte ich eine Vorlesung über Skandierung und Metrik«, sagte ich. »Das ist dem, was du tust, sehr ähnlich: Rhythmus und Takte und Fluss und Tempo.«

»In der Lyrik?«, fragte er.

»Ja«, begeisterte ich mich. »Kipling war ein Meister. Er hat so viele Takte in eine Zeile gepackt. Es ist ein wenig wie…« Ich suchte nach dem richtigen musikalischen Vergleich, den ich Jahre zuvor oft verwendet hatte, in dem Versuch, ein anderes Level zu finden, auf dem ich mich mit meinen Studenten verbinden konnte. »… ein Viervierteltakt. Es gibt doch vier Takte in einer Einheit, richtig?«

 

»Richtig«, stimmte er zu.

»Aber die Melodie über der Vierviertel-Basslinie kann sehr viel mehr Takte haben.«

»Eigentlich ist das sogar ziemlich normal«, sagte Chris. »Es ist die Fähigkeit eines Percussionisten, in der Lage zu sein, verschiedene Rhythmen mit je einer Hand und einem Fuß gleichzeitig zu spielen.«

»Genau«, sagte ich. »Also, du hast bestimmt schon mal den Satz Denn das Weibchen jeder Gattung ist letaler als der Mann gehört.«

»Ja …«

»Obwohl diese Zeile« – ich zählte es an meinen Fingern ab – »fünfzehn Silben hat, hat sie metrisch gesehen vier Takte. Vier Takte auf der Basslinie.«

Er dachte darüber nach und ich ließ ihn in seiner eigenen Geschwindigkeit darauf kommen. »Ich glaube, ich verstehe.«

Ich klopfte es ihm vor, indem ich die Zeile wiederholte, bis er die Betonungen auf den Takten hörte.

»Jede Sprache hat natürliche Muster. Und in der Lyrik gibt es Hunderte. Aber Kipling hat gewusst, wie er die Metrik manipulieren und wie er so viele unbetonte Takte wie möglich in einen Viervierteltakt reinpressen konnte.«

»Klingt kompliziert«, sagte er.

»Ist es auch«, stimmte ich zu. »Aber da treffen unsere Welten aufeinander. Ich habe Stunden damit zugebracht, über die Lyrik zu grübeln, betonte und unbetonte Takte zu finden, den Rhythmus herauszuarbeiten und wie all das die Dinge verändert, wie es sich auf die Musik des Gedichts auswirkt.«

»Und das beinhaltet deine Vorlesung.«

»Zum Teil«, sagte ich lächelnd. »Du solltest vorbeikommen.«

Er hob eine Augenbraue. »Ernsthaft?«

»Ja«, sagte ich in dem Versuch, ungezwungen zu klingen. »Ich würde gerne deine Meinung hören. Nach dem Seminar ist schließlich vor dem Seminar.«

»Ich bin nie auf dem College gewesen, Rob«, sagte er. »Ich bezweifle, dass ich irgendwas Interessantes zu sagen hätte.«

»Deshalb interessiert mich deine Meinung«, widersprach ich. »Weil du keinen akademischen Blickwinkel hast, sondern einen musikalischen. Du wirst vollkommen andere Dinge sagen als die, die meine Studenten sonst so zu hören bekommen.«

Er beugte sich vor und küsste mich auf die Nase. »Ich denke darüber nach.«

Ich strahlte ihn an.

»Aber falls ich zu deiner Vorlesung komme…«

»Ja?«, ermutigte ich ihn.

»Ich bin für einen Auftritt bei einer örtlichen Theatergesellschaft gebucht. Sie führen Aida auf. Würdest du gern hingehen?«

»Ja«, sagte ich. »Sehr gerne.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand; während wir die Zeit damit verbracht hatten, zu reden und zu essen und dann noch mehr miteinander zu reden, war es auf Mitternacht zugegangen. Es war ein Alles-oder-Nichts-Moment – ich könnte ihn bitten zu bleiben oder wir könnten den Abend hier beenden.

Trotz meiner Hormone (diese lange vergessenen Freunde), die mich anbrüllten, ihn zum Bleiben zu bitten, hatte ich ein paar alte, romantische Vorstellungen davon, diesen Mann zu umwerben. Ich wollte mich mit ihm verabreden, die Dinge richtig angehen. Es wäre zu einfach gewesen, den Funken zwischen uns auszunutzen und danach zu handeln. Zu einfach, ein Feuer zu entfachen, das viel zu schnell ausgehen konnte.

Ich drehte mich um und fand Chris' Lippen. Langsam küsste ich ihn und ließ den Funken zwischen uns glühen, bis wir beide nach mehr verlangten. Mit einem Lachen löste er sich, vergrub dann das Gesicht an meinem Hals und küsste dort die empfindliche und so sensible Haut.

Dann stand er auf, verstand vielleicht, was ich dachte. Dass die Erwartungshaltung, die wir aufbauten, köstlich war und dass sie ausgekostet werden sollte. Ich erhob mich ebenfalls und küsste ihn erneut, ehe ich ihm still zurück zur Eingangstür folgte.

»Die Vorlesung ist Mittwochnachmittag«, sagte ich. »Wenn du kommen willst, lass es mich wissen, dann erkläre ich dir den Weg.«

»Ich weiß nicht genau, wie mein Terminplan aussieht, aber ich halt dich auf dem Laufenden«, versprach er.

Ich seufzte schwer und es juckte in meinen Fingern, ihn erneut zu berühren, als er sich seine Ledersachen wieder überzog. Chris küsste mich noch einmal, bevor er ging. Die groben Motorradhandschuhe lagen ungeschickt an meinem Gesicht.

»Nacht«, murmelte er.

»Gute Nacht«, echote ich.

Nachdem ich die Tür hinter ihm abgeschlossen hatte, schloss ich für eine Sekunde die Augen und erlaubte mir, mich in dem erregenden Gefühl dessen zu sonnen, was auch immer das hier war. Dann durchquerte ich das Apartment zum Fenster, um ihn dabei zu beobachten, wie er ein Bein über sein Motorrad schwang und die Straße hinunterbrauste.