Das Audit

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„Wir ermitteln noch. Hast du am Dienstagabend auch unterrichtet?“ Die Frage empfand Leni als eine Spur zu direkt, vielleicht eine Retourkutsche auf ihr eigenes Vorpreschen zum Stand der Ermittlungen. Sie war jedoch froh, dass sie mit Ja antworten konnte.

„Und danach?“

„Bin ich nach Hause gegangen. An diesem Abend war ich ungefähr Viertel vor zehn in der Wohnung. Das kann meine Mitbewohnerin Kathrin bestätigen.“

„Kanntest du das Schlachtopfer gut?“

Leni versuchte, nicht zu lachen. „Opfer, nicht Schlachtopfer.“ Die Korrektur musste sein, auch wenn sie die direkte Übersetzung aus dem Niederländischen ziemlich lustig fand. „Nein, ich kannte sie nicht wirklich gut. Beate war meiner Meinung nach fachlich nicht so kompetent, doch die Organisationsarbeiten hat sie einigermaßen hingekriegt.“ Leni machte eine kurze Pause. „Ehrlich gesagt, ich hatte keinen besonders guten Draht zu ihr.“

„Nur du oder noch andere?“

Die Suppe kam. Leni begann, die heiße Flüssigkeit vorsichtig in sich hineinzulöffeln. „Das weiß ich nicht so genau. Zu einigen hatte sie jedenfalls eine sehr gute Beziehung, beispielsweise zum Sprachabteilungsleiter. Der hat sie offensichtlich sehr gemocht. Das habe ich jedenfalls gehört.“

„Was heißt das genau?“

„Na ja, was das eben so heißt.“

„Also, er hatte ein Verhältnis mit ihr“, interpretierte Jan die schwammige Antwort.

„Ich glaube schon.“

„War Beate Neumann verheiratet oder hatte sie eine feste Beziehung?“

„Keine Ahnung. Ich hatte mit ihr privat keinen Kontakt.“

„Und der Abteilungsleiter? Was ist mit dem?“

„Der hat eine Frau. Die habe ich sogar schon zweimal gesehen – auf unserem Sommerfest.“

Ob Jan verheiratet ist? Kaum gedacht, platzte es auch schon aus ihr heraus. „Bist du eigentlich verheiratet?“ Sofort griff sie zum halbleeren Latte Macchiato Glas und hoffte, sie könnte das Gesagte mit kleinen Schlückchen irgendwie wieder in sich verschwinden lassen. Ihr Gesprächspartner hatte die Frage wohl gehört, denn er lächelte zum ersten Mal.

„Ich bin etwas neben der Spur, tut mir leid. Seit heute muss ich die ganze organisatorische Arbeit von Beate machen und zusätzlich ihren Kurs übernehmen. Das ist alles etwas viel für mich.“ Ein Rettungsversuch.

„Ich brauche noch eine Übersicht über alle Kurse und alle Teilnehmer von Beate. Kannst du mir die mailen? An meine Dienstadresse?“

Leni griff in ihre Tasche und schob das A5-Heft über den Tisch, damit Jan seine dienstliche Mailadresse dort hinterlassen konnte.

„Beate hatte nur einen Kurs und den gebe ich heute Abend. Ich kann mir die Teilnehmer mal ansehen, möglicherweise kommt mir eine oder einer verdächtig vor. Als Lehrerin habe ich eine sehr gute Menschenkenntnis, das bringt der Beruf so mit sich.“ Das war ein mutiges Statement für jemanden, der in persönlichen Beziehungen bisher immer danebengegriffen hatte. Aber Leni war von ihrer Fähigkeit, Menschen nach kurzer Zeit gut einschätzen zu können, überzeugt.

„Nur die Liste, bitte. Und fang nicht an, selbst Detektiv zu spielen. Das ist unsere Aufgabe. Aber vielleicht kannst du mir auch gleich noch …“ Jan machte eine Pause und sah kurz auf sein Handy. „Nein, hat sich erledigt, die Liste der Mitarbeiter habe ich gerade von der Verwaltung bekommen. … Ah, hier steht auch die Telefonnummer des Bruders von Frau Neumann. Mit dem muss ich jetzt als erstes Kontakt aufnehmen.“ Ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, verließ der Hoofdinspecteur das Café.

Seine Gesprächspartnerin blieb noch eine Weile sitzen. Das Unbehagen wegen ihrer törichten Frage wollte sich nicht so schnell in Luft auflösen.

In der Bibliothek suchte Leni einen geeigneten Artikel für ihren Unterricht und entschied sich für einen Bericht über Umweltprobleme in Großstädten. Schönes Thema für eine Diskussion, anspruchsvoller Wortschatz. Jetzt freute sie sich sogar auf den Abend. Da die Bibliothek leer und der Tisch der Bibliothekarin verwaist war, klemmte sich Leni die Zeitung unter den Arm, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Beim Verlassen der Räumlichkeiten wäre sie beinahe in den Sprachabteilungsleiter gerannt, der seinen Kopf durch die Bibliothekstür steckte und scheinbar nach jemandem Ausschau hielt.

„Gut, dass ich dich sehe, Klaus Dieter. Kann ich dich schnell noch was fragen?“ Leni ergriff die Gelegenheit, ihre am Vormittag nicht gestellten Fragen loszuwerden.

„Gibt’s Probleme?“

„Nein, nein. Mich würde nur noch interessieren, ob ich für die zusätzlichen Aufgaben, die ich übernommen habe, einen Vertrag bekomme. Ich habe ja im Moment nur einen Honorarvertrag und werde stundenweise bezahlt.“

„Ja, so ist das und daran ändert sich jetzt auch nichts. Du schreibst alle Stunden, die du arbeitest, auf deine Stundenabrechnung und reichst die in der Verwaltung ein. Einen Vertrag gibt es erst, wenn die Stelle offiziell besetzt wird, aber davor muss sie erst einmal ausgeschrieben werden.“ Das war eine klare Ansage, nach der Klaus Dieter wieder verschwand. So war das eben, da konnte man nicht viel machen.

„Wann bringst du die Zeitung zurück?“, Isabell Wittig, die Leiterin der Bibliothek, hatte ihr Reich betreten.

„Sofort, ich mache nur eine Kopie.“

„Gut, aber nicht vergessen.“ Leni sah sich um, sie war die einzige Besucherin im Raum. „Vielleicht kommt ja gleich jemand, der genau diese Zeitung dringend braucht. Du darfst ausnahmsweise unseren Kopierer benutzen.“ Isabell zeigte auf einen kleinen Kopierer, der etwas versteckt hinter einem Lesetisch stand. Leni nahm das Angebot dankend an, Isabell folgte ihr zum Kopierer. Ganz hinten in der Ecke, kaum sichtbar, entdeckte sie hinter einem Stapel von Büchern die obere Kopfhälfte der Praktikantin. „Hallo Gudrun! Ich habe dich vorhin gar nicht gesehen“, rief sie winkend in die dunkle Ecke. „Hallo!“, schallte es von dort zurück.

„Bitte stör die Gudrun jetzt nicht. Sie muss bis morgen alle neuen Bücher in unser Bestandsprogramm einarbeiten.“

„Das ist aber eine anspruchsvolle Arbeit.“ Leni meinte das nicht als versteckte Kritik, sondern als Lob für die fleißige Hilfskraft.

„Wenn sie etwas lernen will, darf sie nicht nur Kaffee kochen“, konterte die Bibliotheksleiterin, deren Personalausstattung lediglich aus einer festen Mitarbeiterin, nämlich ihr selbst, und wechselnden Praktikantinnen bestand. Das Argument mit dem Lernen war jedenfalls nicht so einfach zu entkräften.

„Apropos Tätigkeit. Hast du jetzt die Stelle von Beate bekommen?“

„Nein, ich helfe nur bei der Vorbereitung auf das Audit.“ Damit sollte sie tatsächlich mal beginnen, mahnte sich Leni selbst beim Kopieren. Sie gab die Zeitung zurück und vernahm beim Gehen noch Isabells Hinweis „Alles andere wäre auch nicht korrekt. Die Stelle muss nämlich offiziell ausgeschrieben werden.“

Zunächst sendete Leni die Teilnehmerliste für den C2-Kurs an Jan. Und weil sie gerade beim Suchen war, begab sie sich ins Intranet und entdeckte jede Menge Dokumente mit viel Text zum Thema Audit: Anweisungen für den Ablaufplan, Anweisungen für das Verfassen des Auditberichts und Beurteilungskriterien für eigentlich alles, selbst die Toiletten. Auch die Aufstellung der notwendigen Unterlagen für die Dokumentenmappe, die sämtliche Werbemaßnahmen, Protokolle von Lehrersitzungen, Gebäudedokumente sowie Übersichten zu Personal, Kursen, Online-Klassenbüchern, Prüfungen, Fortbildungsveranstaltungen und Planungszielen umfasste, entging ihr nicht. Den Hinweis, dass genau diese Dokumentation in zweifacher Ausführung, geordnet nach Themen, in einer Mappe circa sechs Wochen vor Audit-Beginn beiden Auditierenden zuzusenden sei, konnte man ebenso wenig übersehen. Etwas ungläubig schaute Leni noch einmal auf den von Beate erstellten Ablaufplan. Da stand es schwarz auf weiß: Das Audit sollte nächste Woche Donnerstag beginnen.

Kurz vor fünf stattete Leni Hugo noch einmal einen Besuch in seinem Büro ab. „Sag mal, Hugo, habe ich das vorhin richtig verstanden, dass die Unterlagen an die Auditoren noch nicht verschickt wurden?“

„Ja, das hast du völlig richtig verstanden. Das müsste demnächst mal gemacht werden.“

„Die Informationsmappen hätten schon seit fünf Wochen bei den Auditoren liegen sollen. Das habe ich gerade gelesen.“

„Das ist korrekt. Aber ich glaube, das sind ungefähre Zeitangaben. Ich würde das nicht so eng sehen.“

„Egal, ob ungefähr oder genau, die Deadline ist nun wirklich lange vorbei. Ich gehe heute noch zur Ausstellungseröffnung und dann gebe ich Beates Kurs. Morgen Vormittag müssen wir das alles fertig machen.“

„Du gehst zur Ausstellungseröffnung? Na dann, viel Spaß!“ Hugo drehte sich um und schaltete alle Geräte aus.

Lenis anfängliche Euphorie wich langsam dem Gefühl, mit der Übernahme von Beates Tätigkeit eventuell ein Eigentor geschossen zu haben.

Im Ausstellungsraum hinter der Cafeteria im Erdgeschoss hatten inzwischen neun Leute, verteilt auf sechs Stuhlreihen, Platz genommen. Leni gesellte sich zu Susanne, der Verwaltungsleiterin, in Reihe vier. Vor ihr saßen zwei Mitarbeiterinnen aus der Kulturabteilung, eine davon war Marga Engels, und Isabell aus der Bibliothek. In Reihe eins zog Birgit Kaminski in einer selbstgehäkelten bunten Jacke die Blicke des Künstlers auf sich, der ihr gegenüber auf einer kleinen Bühne neben dem Rednerpult auf einem Stuhl hockte und sich dort offensichtlich nicht ganz wohl fühlte, denn er zappelte unruhig hin und her. Ebenfalls vorn, in den Reihen eins und zwei, hatten es sich drei Kunstinteressierte gemütlich gemacht, von denen einer seine Beine fast bis zur Bühne ausstreckte. Ganz hinten, in Reihe sechs, tippte Michael Bär, der Mann von Frau Müller-Bär, etwas in sein Handy. An der rechten Seite des Raums stand ein langer schmaler Tisch mit Getränken wie Wasser, Orangensaft und Wein sowie einigen Knabbereien und kleinen Tellern mit belegten Weißbrotscheiben. Dieser wurde von den Gästen immer wieder verstohlen begutachtet, auch von Leni. Plötzlich wurde es dunkel und auf einer aufgespannten Leinwand hinter dem Rednerpult startete ein Film, bei dem von einem Strand aus das Meer gefilmt worden war. Man sah nur den Strand, auf dem etwas Plastikmüll lag, und das Meer. Nach vielen überlangen Minuten schwenkte die Kamera langsam nach rechts, wieder nur Strand, Plastikmüll und Meer. Jetzt konnte man ein paar Möwen sehen und hören.

 

Martina Müller-Bär trat an das Rednerpult und begann mit ihrer Rede, die sie Wort für Wort abzulesen versuchte, was in der Dunkelheit nicht einfach war.

„Die neueste Arbeit des Videokünstlers Urs Friedheim …“, sie korrigierte sich, „Urs Friedhelm mit dem Titel Meer – Möwe – Mensch – Müll illustriert tiefgreifend und bewegend das Verhältnis zwischen der Natur und dem infernalen und zerstörerischen Treiben der Menschen. Die bildnerisch ausdrucksvollen Schleifen um das Thema verknüpfen in einer spielerischen Reaktion …“, sie musste sich wieder korrigieren, „Reflexion den Aspekt der menschengemachten Umweltzerstörung mit dem Kampf der Tiere und der Natur ums Überleben. Die Kritik an der sich nur am Konsum orientierenden Gesellschaft verfehlt mit einer klaren Bildsprache ihre Wirkung nicht und zieht den Betrachter sofort in ihren Bann …“

Dieser beschriebene Effekt trat scheinbar nicht bei allen ein, denn der freischaffende Historiker Michael Bär tippte noch immer auf seinem Smartphone herum und auch Leni war nicht ganz bei der Sache. Sie dachte vielmehr darüber nach, wie lange der offizielle Teil dauern und ob sie vor Unterrichtsbeginn um 18:30 Uhr noch an das Buffet kommen würde. Da summte ihr auf lautlos gestelltes Handy. Das Geräusch war immerhin noch so laut, dass sich die dritte Reihe geschlossen umdrehte. Mit ihrer Tasche und dem summenden Telefon hastete sie aus dem Raum. Als sie die grüne Taste gedrückt und das Handy am Ohr hatte, war der Anrufer weg.

Anstatt eine weitere Störung der Ansprache zu Meer – Möwe – Mensch – Müll zu verursachen, entschied sich Leni, in ihren Klassenraum zu gehen. Nach einer Weile tauchten zwei Teilnehmerinnen auf. Verwundert schaute Leni noch einmal auf die Kursliste, auf der vierzehn Namen aufgeführt waren. Um nicht später alles wiederholen zu müssen, stellte sie zunächst einige Fragen zur Person. Eine Teilnehmerin hieß Frauke, war Rentnerin und interessierte sich für Literatur. Die andere, Marijke, hatte vor, ab September an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Kunstpädagogik zu studieren und brauchte für die Studienzulassung das Große Deutsche Sprachdiplom. Schließlich erschienen weitere drei Teilnehmer, die sich ebenfalls kurz vorstellten. Michiel war als Anwalt tätig und vertrat ab und zu deutschsprachige Mandanten. Leni schätze ihn auf Anfang 40, er hatte eine rundliche Figur und eine etwas zu große Nase. Der zweite, Jos, arbeitete für die Stadt Rotterdam im Bereich Städteplanung. Nummer drei hieß Nout, war bei einer Bank beschäftigt und beabsichtigte, demnächst in die Schweiz überzusiedeln. Der Banker war ziemlich attraktiv und sehr gut gekleidet. Es dauerte eine Weile, bis Leni die Teilnehmer den Namen auf ihrer Liste zugeordnet hatte, auf der nicht die Rufnamen, sondern entweder nur Buchstaben mit Punkt oder alle im Taufregister eingetragenen Vornamen standen. Mit diesen fünf Leuten begann die Lehrerin den Unterricht. „Ich bin Leni und ich werde ab heute Ihren Kurs leiten. Ich weiß nicht, ob es sich schon herumgesprochen hat: Beate Neumann ist am Dienstag auf tragische Weise ums Leben gekommen.“ Jetzt sah sie in betroffene Gesichter.

„Was ist passiert?“, fragte Marijke.

„Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass die Polizei Untersuchungen aufgenommen hat. Wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann können wir den Kurs jetzt abbrechen und an einem anderen Tag nachholen.“

„Nein, nein, ich würde gerne weitermachen“, war die Meinung von Michiel, die von Frauke mit „Ich auch!“ bestätigt wurde.

„Gut. Ich habe einen Artikel für Sie kopiert, in dem es um Umweltprobleme in Großstädten geht. Ich denke, den können wir als Grundlage für eine Diskussion nehmen. Aber zuerst werden wir mal Ihren Wortschatz aktivieren.“ Nachdem Leni das Wort Umwelt auf das elektronische Whiteboard geschrieben hatte, teilte sie die fünf Leutchen in zwei Gruppen ein und bat sie, Wörter zum genannten Thema zu sammeln.

Gegen 19:30 Uhr betraten Hoofdinspecteur Jan de Rijk und Hoofdagent Pim Jansen das Gebäude. Hieronymus schaute mit aufgesetzten Kopfhörern in seinen Laptop und bemerkte weder die Polizisten noch das Klingeln des Telefons. Jan blieb nichts anderes übrig, als seine Schulter zu berühren, um sich bemerkbar zu machen.

„Oh, sorry“, jetzt nahm er die Kopfhörer ab.

„In welchem Raum ist der Kurs, den Beate Neumann gegeben hat?“

Die Suchaktion in einem Papierstapel, die deutlich länger dauerte als das Telefonklingeln, konnte Hieronymus erfolgreich beenden.

„Klassenraum B, erste Etage.“

Kurze Zeit später klopfte es an Lenis Klassenzimmertür und die späten Gäste traten ein. „Ich wollte dich telefonisch vorwarnen, aber ich habe dich nicht erreicht“, sagte Jan.

„Ich war gerade bei einer Ausstellungseröffnung unserer Kulturabteilung. Ich vermute, ihr habt einige Fragen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.“ Leni bemühte sich um eine vorbildliche gendergerechte Wortwahl und war ein bisschen stolz, dass sie den Lernenden mit der kurzen Konversation ein persönliches Verhältnis zu den ermittelnden Behörden demonstrieren konnte.

„Wir machen jetzt eine kurze Pause, damit sich die Polizisten mit Ihnen unterhalten können. Wenn die Befragung beendet ist und Sie unten einen Kaffee getrunken haben, machen wir weiter.“

Inzwischen war im Ausstellungsraum der offizielle Teil in den inoffiziellen übergegangen und der Künstler, Frau Müller-Bär und alle Besucher außer Birgit, die unterrichten musste, befanden sich in der Nähe des seitlich aufgebauten Tisches beim Smalltalk. So eine lockere Plauderei ist nicht sehr einfach zu führen, wenn man mit einem übervollen Teller in der einen und einem Glas Wein in der anderen Hand gleichzeitig reden, essen und trinken möchte. Der Institutsleiterin gelang die Konversation mit dem Künstler dennoch. „Ich würde wahnsinnig gerne nach Brüssel gehen. Dort kann man kulturell so viel machen, auch in Zusammenarbeit mit den europäischen Institutionen.“ Michael Bär wendete seine Augen von Marga Engels ab und unterstützte die Aussagen seiner Frau, der wiederum die Blicke ihres Mannes auf ihr Mode-Double nicht entgangen waren, mit einem kurzen, kräftigen Nicken. Dann prostete er Urs Friedhelm munter zu. Das war nach seinen Erfahrungen immer eine gute Geste, wenn man nicht richtig zugehört hatte. Der Videokünstler hatte sich gerade ein Stückchen Brot gegönnt, sah sich aber genötigt, sofort und mit halbvollem Mund zu antworten. „Und man kann in Belgien wirklich gut essen … und trinken natürlich. Wenn ich an all die wunderbaren Biersorten denke.“

„Sie sagen es. Das burgundische Leben hat doch viel für sich.“ Jetzt nippte auch Frau Müller-Bär gekonnt an ihrem Weinglas und war kurz abgelenkt, als Leni den Raum betrat, ihn aber gleich wieder verließ, weil auf dem Tisch, im Gegensatz zu den Tellern, nichts Essbares mehr zu sehen war.

Ihr Hunger war nach dem Unterricht so groß, dass Leni sich auf dem Heimweg beim Albert Heijn am Bahnhof einen eingeschweißten Salat inklusive Dressing-Tüte und ein Sandwich besorgte. Das belegte Brot verzehrte sie gleich unterwegs. Sie war sehr müde, als sie die Wohnung betrat und Kathrin in der Mitte des Wohnzimmers in der Stellung des herabschauenden Hundes vorfand.

„Ist was passiert?“, fragte sie in Anbetracht der Yogaübung zu dieser späten Stunde.

„Ich muss mich ein bisschen abreagieren. Wir haben jetzt an der Hochschule einen neuen Manager. So einen jungen, dynamischen, der alles umkrempeln will. Ich bin mir noch nicht sicher, ob zum Guten oder zum Schlechten. Der war vorher Manager im Bereich Baukunde und ist nach anderthalb Jahren zu uns in die Deutschlehrerausbildung versetzt worden. Da kann doch was nicht stimmen. Meiner Meinung nach sieht das nach einer Strafversetzung aus.“

„Warte es doch erst mal ab. Vielleicht bewegt der ja was, macht mehr Werbung für euch, damit eure Studentenzahlen steigen.“ Leni mischte das Dressing unter den Salat, nahm eine Gabel aus dem Besteckfach und stopfte den Inhalt des Plastikbehälters in sich hinein.

„Ich habe übrigens auch einen neuen Job“, ließ sie nebenbei fallen. Kathrin hatte gerade den Lotussitz eingenommen und sah ihre Mitbewohnerin interessiert an.

„Toll. Wo denn?“

„Klaus Dieter hat mich heute gefragt, ob ich die Aufgaben von Beate übernehme, übergangsweise, bis die Stelle neu ausgeschrieben wird.“

Kathrins Begeisterung hielt sich, anders als von Leni erwartet, in Grenzen. Es folgten eine weitere Yoga-Figur und die Frage: „Arbeitest du da mit Beates Computer?“

„Ja.“

„Kommst du an alle Dateien ran? Ich meine, kannst du alles lesen?“

Da war sie wieder, die Frage nach den Dateien in Beates Computer. Merkwürdig. Leni selbst hätte sich ohne ihre neuen Aufgaben nicht im Geringsten für den Inhalt dieses Accounts interessiert. Aber womöglich lauerte dort noch die eine oder andere Überraschung.

„Ich glaube schon, aber ich habe gar keine Zeit, mich mit all den Dokumenten zu befassen. Das Audit hat oberste Priorität und dann sind da noch die ganzen Mails, die ich beantworten muss und mein Unterricht … Aber warum fragst du? Soll ich was Bestimmtes für dich suchen?“

„Nein, nein, das war nur so eine ganz allgemeine Frage.“ Kathrin bemühte sich um Beiläufigkeit, ohne Erfolg. „Wieso hat Klaus Dieter eigentlich dich gefragt? Er hätte doch auch jemand anderen fragen können.“

„Dich zum Beispiel?“, jetzt klang auch Leni gereizt.

„Na ja, bei mir wäre es sicher schwierig geworden, ich habe ja schon eine Teilzeitstelle an der Hochschule. Aber natürlich hätte er mich erst mal fragen können.“

„Es geht meiner Ansicht nach darum, dass es irgendwie weitergeht und jemand die Rolle des Rettungsassistenten übernimmt. Dafür war ich nun mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wärst du zu Hause gewesen und nach Klaus Dieters Anruf gleich ins Institut gerannt, hätte er bestimmt dich gefragt. Aber ich muss mich jetzt hier nicht vor dir rechtfertigen.“ Leni stürmte aus dem Raum und schloss sich auf dem Klo ein.

Dort blieb sie ziemlich lange, während Kathrin ihre Yoga-Einheit beendete, eine Flasche Wein öffnete und sich mit zwei vollen Gläsern vor der Toilettentür aufbaute. „Tut mir leid, Leni.“

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