Das Geheimnis von Möwenpelz

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4. Am Pfefferminzsee

Der Angelhaken platschte leise ins Wasser. Patte sah zu, wie der Köder unter die Oberfläche trudelte und im grünlichen Schimmer versank.

Es raschelte im Schilf.

Ein Vogel? Eine Schlange?

Unsinn, hier gab es keine Schlangen.

Noch ein Rascheln.

Dann Schritte.

Wer konnte das sein? Patte erspähte einen blonden Schopf zwischen den Stängeln. Jule? Hatte Mama sie hierher geschickt? Pattes Hand krampfte sich um die Angel. Sein Herz raste. Doch was zum Vorschein kam, war schlimmer als Jule. Es war Flip, der mit glühenden Wangen durchs Gestrüpp stapfte.

„Was willst du denn hier?“, fragte Patte fassungslos.

Flip reckte den Kopf. „Deine Mutter hat gesagt, dass du hier bist.“

„Meine Mutter. Na, toll.“

„Ja, ich hab sie gefragt, wo du bist, und da …“

„Dauernd läufst du mir nach! Was willst du von mir?“

Patte war stinksauer. Nicht nur auf seine Mutter, weil sie diesen Blödmann hierher geschickt hatte. Nein, auch auf Flip. Er klebte seit Wochen an Pattes Bein. Fand alles toll, was Patte sagte. Und machte seltsame Vorschläge, wie er seine Freizeit mit Patte gestalten wollte. Brettspiele zum Beispiel. Gemeinsam ein Buch lesen. Oder um die Wette essen. Ganz offensichtlich plante er, Pattes Freund zu werden. Ganz offensichtlich übersah er, dass Patte darauf keine Lust hatte.

Flip balancierte unbeirrt am Ufer weiter. Wahrscheinlich wollte er auch gleich wissen, was Patte den ganzen Tag so machte.

„Du warst in der Holzmann-Villa!“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich … ich hab dich gesehen. Ähm … zufällig.“

„Zufällig. Aha.“

„Ja … ich hab gesehen, dass du in dem alten Haus warst.“

„Das hast du schon gesagt. Und es geht dich nichts an.“

„Und wenn ich es deiner Mutter sage? Dass du dort warst?“

„Bist ne Petze, was? Passt zu dir.“

„Ich weiß, was du gemacht hast. Du warst ziemlich lang drin und hast was mitgenommen. Das gehört dir nicht.“

„Na, so was.“

Flip drückte die kugeligen Köpfe der Wasserminze zur Seite, betrat den Bootssteg und schlich bis ans Ende. Patte spürte seinen Blick im Rücken.

Flip holte Luft. „Ich hab geseh-“

„Schhh! Du verjagst die Fische! Hau ab! Geh zu Papa!“

„Der weiß nicht, dass ich hier bin.“

„Und warum bist du hier?“

„Ich weiß, was das für ne Kiste ist.“

„Keine Ahnung, was du meinst.“

„Na, die Kiste!“

„Welche Kiste?“

„Die du mitgenommen hast!“

„Ich hab nichts mitgenommen.“

„Doch, hast du!“

„Hab ich nicht.“

„Ich hab’s genau gesehen!“

„Hast du nicht!“

„Also … diese Kiste hat mal einer Adeligen gehört. Mit Familienwappen und so.“ Flip sah Patte erwartungsvoll an und setzte seinen Redeschwall fort. „Also … das ist so … ich war neulich bei meinem Vater im Büro.“

„Interessiert mich nicht.“

„Also, ich hab auf ihn gewartet. Nach der Schule. Und dann ist …“

„Halt die Klappe!“

Flip schien nichts zu hören. Er knetete seine Finger und schwatzte unverdrossen weiter. „Da kam eine alte Frau rein und wollte ihn sprechen. Schiller heißt die, oder Schöller. Die war total aufgeregt, weil die Holzmann-Villa abgerissen werden soll. Und weil da was drin ist, das ihrer Freundin gehört. Gehört hat. Also, dieser Adeligen. Die ist aber schon tot.“

Patte sah im Augenwinkel, wie Flip ihn unentwegt anstarrte. Glaubte der wirklich, sein Gefasel könne Patte ein schlechtes Gewissen machen? Oder ihn zu Freudentänzen verführen?

„Also, die war so nervös, dass sie ein Glas Wasser gebraucht hat. Lustig, gell?“ Flip kicherte.

„Irre witzig. Ich mach gleich in die Hose.“

„Dann hat sie erzählt, dass in dem Haus eine Kiste versteckt ist.“ Flip machte eine bedeutungsvolle Pause. Als Patte nicht reagierte, reckte Flip den Kopf und legte noch mehr Gewicht in seine Stimme. „Und da ist ein Schlüssel zu einem Schatz drin!“

Patte presste die Lippen zusammen.

„Ein richtiger Schatz! Schmuck und Gold und so!“

Patte schüttelte den Kopf. „So ein Quatsch.“ Er hatte sich so sehr auf einen verträumten Tag am See gefreut. Und jetzt stand Flip hier und verzapfte Schwachsinn. Warum konnte man Patte nicht in Ruhe lassen? Warum konnte er nicht einfach tun, worauf er Lust hatte und dabei von niemandem gestört werden? Vor allem nicht von Flip?

„Stell d-dir m-mal v-vor.“ Flip zitterte vor Aufregung. „Die-die Kiste! Die du gefunden hast! Ein Schatz! Ein richtiger Scha-schatz!“

Patte überlegte, seine Sachen einzupacken und Flip stehen zu lassen. Einfach abhauen und den Blödmann ignorieren. Einen anderen See suchen. Unsichtbar werden. Und niemandem etwas davon erzählen.

Doch gleichzeitig geschah etwas Seltsames, ohne dass Patte etwas dagegen tun konnte. Eine Truhe voll Gold stahl sich auf leisen Sohlen in seine Gedanken. Einfach so. Ihr folgten lautlos Diamanten. Pergamentrollen. Der heilige Gral. Patte schlug mit der freien Hand nach einer Mücke, als wollte er all diese Dinge verscheuchen, die es nur in Filmen gab.

„Wär das nicht toll?“

Patte schwieg.

„Also … ich find’s total toll.“

„Ich nicht.“

„Wieso?“

„Weil du Müll redest! Und weil du nervst!“

Patte zerrte ungeduldig an der Angel. So sehr er auch versuchte, Flip zu ignorieren, er konnte nicht. Erstens quasselte der ohne Ende. Und zweitens – ja zweitens war die Information, etwas Wichtiges gefunden zu haben, nicht unangenehm. Er sah Flip von der Seite an. „Und ich hab zufällig diese eine Kiste gefunden?“

Pattes plötzliche Aufmerksamkeit wirkte wie ein Stromschlag auf Flip. Er zitterte am ganzen Körper.

„Ja-ja! Ganz bestimmt!“

„Glaub ich nicht.“

„Do-doch! Das ist sie!“

„Woher willst du das wissen? Gibt bestimmt mehr davon.“

Ein Fleckenfeuerwerk funkelte auf Flips Wangen. „Mensch, ganz einfach! Diese Alte hat meinem Vater eine Visitenkarte von ihrer toten Freundin gegeben! Und da ist ein Wappen drauf! Genau wie auf der Kiste!“

Er holte Luft, um seine nächste Informationsladung hinauszuschleudern.

„Ich weiß es genau! Ich hab diese Karte dabei! Ich hab sie mitgenommen! Mein Vater hat nichts gemerkt!“ Flip hustete vor Aufregung. „Ich ha-hab’s genau gesehen! Ich hab in einem Busch auf dich gewartet und dann bist du vorbei gegangen und dann hab ich die Kiste gesehen, die du – …“

Patte ließ die Angel sinken. „Im Busch?“

„Ja, ich … ähm … “

„Du warst in einem Busch gesessen?“ Patte konnte nicht anders. Er warf die Angel hin und lachte aus vollem Hals. Flip grinste. Es schien ihm nichts auszumachen, dass Patte ihn auslachte.

„Und jetzt?“, fragte Patte, als er wieder reden konnte. „Soll ich die Kiste der alten Tante geben? Oder werde ich verhaftet?“

„Hast sie? Aufgemacht? Ja?“ Flip hüpfte von einem Bein aufs andere.

„Was?“

„Na … die Kiste! Du? Sie? Schon? Auf?“ Flip federte hin und her. Die Holzplanken wackelten. „Und was - ?“ Er kicherte. „Ist?“, fragte er kurzatmig, „drin?“

„Hä?“

„Was drin? Ja? Hm? Und?“

„Sag mal, spinnst du?“

„Sag schon! Was drin? Sag schon!“

„Kannst du mal aufhören mit dem blöden Gehüpfe? Ich hab keine Ahnung, was du willst!“

Flip blieb stehen. Er atmete schwer. „Also, ich …“, keuchte er. „Also … was ist drin? In der Kiste?“

„Was drin ist? Keine Ahnung. Hab noch nicht reingeschaut.“

„Noch nicht?“

„Nö.“

„Warum?“

„Keine Zeit.“

„Echt?“ Flip sah enttäuscht drein. „Warum?“

„So halt!“

Flip zögerte einen Augenblick und sah Patte in die Augen. Seine Stimme zitterte.

„Wi-wir können doch auch zusammen schauen, was in der Kiste ist. Und was das für ein Scha-Schatz ist. O-oder? Wär doch toll!“

Patte hob die Augenbrauen. „Eine Schatzsuche? Geht’s noch blöder? Das gibt’s nur in deinen Büchern. Deswegen kommst auch nur du auf so eine Idee.“ Er sah Flip verächtlich an. „Was sagt denn dein Papa dazu?“

Darauf fiel dem Quassler nichts mehr ein. Typisch. Kaum sagte man „Papa“, sah er aus wie ein Zwergkaninchen. Das Kaninchen starrte auf seine Füße und schwieg.

„Und überhaupt: wenn es genau diese eine Kiste ist. Mit dem Schlüssel zu irgendeinem Scheißschatz. Warum soll ich ihn ausgerechnet zusammen mit dir suchen?“

Patte verschränkte die Arme. Er wollte gelangweilt wirken. Überlegen. Meilenweit entfernt von Flips Kinderwelt. Doch Neugier und Abenteuerlust jagten sein Herz. Vielleicht hatte das Kaninchen recht? Mal wieder?

Flip zögerte. Seine Hand glitt in die Hosentasche und zog etwas heraus. Ein gelbliches Papier, so klein wie die EC-Karte von Pattes Mutter. Ein Wappen war darauf zu sehen. Darunter stand ein Name. Isabelle von Raake. Sonst nichts. Als Patte danach greifen wollte, zog Flip seine Hand zurück. Er richtete sich auf. Und als er sich auf die Zehenspitzen stellte, war er fast so groß wie Patte.

„Die gehört meinem Vater.“

Patte verdrehte die Augen.

„Ich weiß, dass es den Schatz gibt“, sagte Flip mit fester Stimme. „Und ich weiß auch, wo er ist.“

„Angeber.“

Flip reagierte nicht.

Patte blickte in den Sommerhimmel, der sich im Westen unter einer Decke aus Gewitterwolken senkte. Mit Flip nach einem Schatz zu suchen, diese Idee war ihm so peinlich, dass es ihn fröstelte. Etwas Schlimmeres hätte er sich nicht ausmalen können. Doch leider hatten Diamantringe, Schriftrollen und goldene Kelche schon Platz in Pattes Kopf genommen. Sie winkten ihm fröhlich zu. „Such uns“, riefen sie und übertönten das Gefühl der Peinlichkeit. Patte spürte, wie seine Abwehr gegen Flips Vorschlag in sich zusammenfiel. Was wäre schon dabei, wenn er einfach mal schauen würde? Er könnte immer noch nein sagen, wenn es ihm zu blöd wurde.

 

„Also, weißt du, die Idee ist eigentlich okay“, sagte er und mochte kaum glauben, dass er das wirklich zu Flip sagte. „Lass uns mal schauen, ob da wirklich ein Scha-Schatz ist.“

Flip sah überrascht aus. Und sehr zufrieden. „Ja, lass uns sehen, wo er ist“, flüsterte er.

5. Ich krieg das Ding nicht auf

Patte fuhr sich durch die Haare. Die Friseurin hatte sie mal wieder verschnitten. Er sah aus wie eine Fransenkartoffel. Er schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse und ging in sein Zimmer.

Gleich würde Flip kommen. Dann würden sie nachsehen, was in der alten Kiste war und ob es etwas war, das ein Schlüssel zu einem Schatz sein könnte und wenn ja, wo dieser Schatz sein könnte. Patte bereute schon längst, dass er Flips Vorschlag zugestimmt hatte. Ausgerechnet ihm, den er sichtbar ignorieren wollte. Den er spüren lassen wollte, dass seine Gesellschaft nicht von Interesse war.

Doch Pattes Neugier war inzwischen gewachsen. Er hatte versucht, die Kiste zu öffnen. Hatte den Deckel gedrückt und ein verstecktes Schloss gesucht. Ohne Erfolg, denn die Kanten waren glatt und das Holz ziemlich hart. Nur auf der Unterseite war eine Öffnung eingelassen, kreisrund und kaum größer als ein Centstück. Sie war etwa zwei Zentimeter tief und verkrustet von Staub und Schmutz. Patte hatte sie mit einem Wattestäbchen gereinigt und daran herumgespielt, aber nicht gewusst, was er eigentlich machen sollte. Vielleicht hatte Flip eine Idee? Notfalls könnte man die Schachtel einfach zerhacken oder aufsägen.

Unten klingelte es. Patte hörte, wie seine Mutter die Tür öffnete und erfreut feststellte, dass Flip davor stand. Dann hörte er Schritte auf der Treppe, dann auf dem Flur und gleich darauf klopfte es an der Tür. Patte öffnete. Das Zwergkaninchen hatte rote Flecken auf den Wangen und grinste schüchtern.

„Hi, Patte.“

„Komm rein.“ Er würde das alles schnell beenden, denn die Kiste war garantiert leer und die ganze Geschichte sowieso Käse. In spätestens zwei Stunden würde er auf seiner Eiche sitzen. Oder am Pfefferminzsee.

Patte hielt die Kiste in die Höhe.

„Also, nochmal: woher willst du wissen, dass dieses Ding“, er warf die Kiste aufs Bett, „so wichtig ist? Da ist ja nicht mal ein Schloss dran.“

Er sah Flip an, der noch immer neben der Tür stand und das Spiderman-Poster anstarrte. Sein Blick wanderte im Zimmer umher und kehrte langsam zu Patte zurück.

„Was?“

„Wieso ist dieses Ding so wichtig?“

„Das hat die Frau Schüller erzählt.“

„Und was genau hat die erzählt?“

Flip kam näher und setzte sich auf den Boden.

„Sie hat was von einer kleinen Holzkiste gesagt und dass die ein Beweis sein könnte.“

„Ein Beweis? Für was?“

„Dass ihrer Freundin in dem alten Haus was passiert ist. Und dass die deswegen tot ist. Weil … weil … die Freundin hat die Kiste mitgenommen, ist in das Haus gegangen und dann verschwunden.“

„Wow! Vielleicht ist das eine magische Schachtel, in die man reinschlüpfen kann? So wie in den Schrank in den Chroniken von Narnja? Und wenn wir sie öffnen, dann kommt diese … diese Dingsbel heraus?“

„Isabelle!“

„Na, meinetwegen.“

Flip zog die Mundwinkel nach unten. „Die Tante hat nun mal gesagt, dass in der Kiste der Schlüssel zu einem Schatz drin ist. Und dass auf der Kiste das Familienwappen drauf ist.“

Patte und Flip sahen die Kiste an. Das Wappen zeigte einen Vogel, zwei Münzen und verschlungene Zweige, die an einem Baum mit breitem Stamm wuchsen. Flip zog die kleine Karte aus der Hosentasche und legte sie daneben. Beide Wappen waren identisch.

Gänsehaut zog über Pattes Rücken und kitzelte an seinem Nacken. Er hatte etwas gefunden. Es konnte sogar sein, dass er etwas Wichtiges gefunden hatte. Etwas, das der Beginn eines Abenteuers sein könnte. Immerhin, die Möglichkeit gab es. Auch wenn er noch keine Lösung hatte.

Er sah Flip an. „Tja. Dann öffnen wir mal den Sesam. Bitte sehr. Probier du. Ich hab schon.“

Flips Finger betasteten ehrfürchtig das Wappen, glitten über die Kanten, streichelten das dunkel gemaserte Holz. Er drehte die Kiste vorsichtig um.

Da fiel Patte etwas ein. Er legte sich auf den Bauch. „Warte mal – du hast doch gestern gesagt, dass du weißt, wo der Schatz ist, oder?“

Flip antwortete nicht.

„Wenn du das weißt, warum fummeln wir dann an dem Ding herum? Sag doch einfach, wo er ist!“

Flip fingerte an der Öffnung auf der Unterseite der Kiste herum und schwieg.

„Hallo? Erde an Flip?“

Flip bohrte einen Finger in die Öffnung und sah furchtbar konzentriert aus.

„Du weißt gar nicht, was das für ein Schatz ist. Richtig? Du weißt auch nicht, wo er ist. Auch richtig?“

Eigentlich musste Flip nichts antworten. Es war klar wie Kloßbrühe, dass er genauso wenig wusste wie Patte. Er hatte gelogen. Er hatte einen Köder ausgeworfen, um Pattes Neugier anzustacheln. Was ihm gelungen war.

So sehr Patte es auch versuchte – er konnte Flip, der auf dem Boden saß und alle Gesichtsmuskeln anspannte, um konzentriert auszusehen, nicht wirklich böse sein.

Flip schielte über den Kistenrand. Seine Wangen glühten. „Weiß auch nicht … ich hab das irgendwie anders gemeint.“

„Irgendwie“, Patte sog die Unterlippe unter die Vorderzähne, zog die Oberlippe hoch und mimte Hasenzähne „anderfff gemeint“, lispelte er.

Flips Gesicht war jetzt feuerrot. „Mann, ist doch auch egal, oder?“ Sein Kinn zitterte.

„Ist eben nicht egal.“ Patte zeigte auf die Kiste. „Und das Ding da ist nur Schrott.“

„Ist es nicht.“ Flip schob die Unterlippe vor und bohrte den Finger wieder in die Öffnung. Als er die Kiste mit der anderen Hand drehte, knackte es.

Patte wollte wieder Hasenzähne machen, hielt aber inne.

„Hast du das gehört?“

Flip nickte stumm.

„Mach das nochmal.“

Flip gehorchte. Es knackte.

Patte rutschte vom Bett herunter und kniete sich neben Flip. „Was ist das?“

„Keine Ahnung.“ Flip legte die Kiste auf den Boden, mit der Unterseite nach oben. Sie beugten sich darüber.

In Pattes Augen war die kleine Öffnung ein sinnloses Etwas gewesen. Eine Zierde, die zu den verschlungenen Ornamenten und Linien auf der ganzen Kiste passte, welche die ganze Kiste überzogen. Wenn man aber sehr genau hinsah, konnte man verblichene römische Zahlen erkennen, die kreisförmig um die Öffnung angeordnet waren. Patte waren sie nicht aufgefallen. Kein Wunder, denn so genau hatte er nicht hingesehen.

Und Flip hatte es sofort herausgefunden. „Das sieht aus wie ein Tresor“, sagte er.

„Und man muss seinen Finger reinstecken, um ihn zu öffnen?“

„Ja … aber wo ist die Kombination dazu?“

„Hat das deine Schillertante nicht erzählt?“

„Soll ich sie fragen?“

„Bist du verrückt?“

„Aber vielleicht kennt sie die Schachtel?“

„Ich dachte, du willst selbst suchen?“

Flip schwieg. Patte sah abwechselnd ihn und die Kiste an. Gäbe es einen Preis fürs Rotwerden, Flip würde ihn bekommen.

Irgendwie mussten sie die Kiste öffnen. Aber wie? Er hatte mal gelesen, dass man genau hinhören musste und eine richtige Kombination durch richtiges Knacken herausfinden würde. Aber wie klang ein richtiges Knacken?

„Und jetzt?“ Flip sah ihn fragend an.

Patte überlegte. Zahlen kreisten vor seinen Augen. Sie formten einen Wald aus Kombinationen, Verbindungen und Möglichkeiten. Zwischen den Bäumen ein blaues Haarband. Patte merkte nicht einmal, dass er laut „Nina“ sagte.

„Was?“ Flip starrte ihn an.

Patte spürte, dass er rot wurde. „Nina – ähm – die ist doch so gut in Mathe. Vielleicht … ähm … vielleicht weiß die was über Zahlenkombinationen?“

„Hä?“ Flip sah aus, als könne er nicht mehr bis drei zählen.

„Wir können das Ding auch einfach zersägen.“

Flip schwieg.

„Oder darauf herumtrampeln.“

„Willst du die Kiste wirklich kaputt machen?“

„Wir können das Ganze auch einfach vergessen. Alles und den Schatz und so.“ Patte verschränkte die Arme.

Flip sah die Kiste an und sagte langsam: „Ich kann die Nina ja mal fragen.“

Patte unterdrückte ein Grinsen.

„Aber was soll ich fragen?“

„Frag einfach, ob sie Lust hat, eine alte Kiste zu öffnen.“

Flip sah verständnislos drein.

„Okay. Du fragst, ob sie was über Tresore weiß. Und wenn sie ja sagt, dann fragst du, was man dabei beachten muss. Und wenn sie …“

„Aber das ist doch doof. Ich kann doch nicht einfach so zu ihr rübergehen und nach einem Tresor fragen!“

„Mensch, Flip! Du sollst dir was einfallen lassen! Irgendwas Unauffälliges. Was Harmloses! Dass du gerade einen Krimi liest. Oder dass du was für die Schule machen musst.“

„In den Ferien?“

Patte seufzte. Das hatte keinen Sinn. War sowieso Blödsinn, das alles.

Flip hob die Hände. „Okay, ich versuch’s.“ Er stand auf. „Ich muss jetzt gehen.“

„Gibst du mir Bescheid, was du rausgefunden hast?“

„Okay. Bis dann.“

„Bis dann.“ Patte beugte sich wieder über die Kiste und spielte gedankenverloren an der Knacköffnung. Wenn er gewusst hätte, dass er mit diesem Ding gleichzeitig Flip an sein Bein binden würde, er hätte es im Haus liegen lassen. Oder doch nicht? Was für ein Durcheinander.

6. Frag mal Nina

„Ein Tresor?“ Nina zog die Nase kraus. „Wie kommst du drauf, dass ich ne Ahnung davon habe?“

Flip hatte diese Frage erwartet. Das hieß aber nicht, dass er eine Antwort wusste. Ein zarter Rotschimmer puderte seine Wangen.

„Naja … ich dachte nur … weil du so gut in Mathe bist? Hast vielleicht schon mal was drüber gelesen?“

„Nee, hab ich nicht. Sonst noch was?“

Flip zögerte. Irgendwas Unauffälliges.

„Ich dachte nur. Ich hab so ein Zahlenspiel gefunden. Und komme mit der Lösung nicht weiter.“

Nina kam einen Schritt näher an den Zaun. „Was für eins? Sudoku?“

„So ähnlich. Man muss die richtigen Zahlen finden. Soll ich dir mal eine Zeichnung mitbringen?“

„Wieso eine Zeichnung? Bring halt das Heft mit.“

„Welches Heft?“

„Na, das Heft, oder das Buch, wo das Sudoku drin ist?“

„Ach so! Nee, das ist kein Rätselheft. Das ist … das muss ich dir abzeichnen.“

Nina runzelte die Stirn. „Abzeichnen“, wiederholte sie. „Versteh ich nicht.“

Flip verstand auch nichts. Weder, wie Nina eine x-beliebige Kombination entschlüsseln sollte. Noch, wie sie das tun sollte, ohne sie zu sehen. Egal, dachte er. Einfach weiterreden. Wird schon irgendwie funktionieren.

„Na, das ist eben so ein Zahlenspiel, das woanders steht als in einem Heft. So ähnlich wie ein Tresor.“

„Was soll denn das sein? Willst du ne Bank überfallen, oder so?“

Flip wischte sich über die Stirn. Die Sonne knallte auf seinen Kopf und verschmorte sein Hirn. Er hatte sich schon dumm genug gefühlt, als er zufällig am Gartenzaun der Holmes vorbeischlenderte und Nina ansprach, die in einer Hängematte lag und ein Buch las. Nun musste er auch noch etwas erfinden, um aus Nina herauszulocken, wie man einen Tresor öffnete. Und dabei wusste er nicht einmal, was genau er herausfinden sollte.

Nina blinzelte. Sie stand im Schatten einer Riesentanne und war so frisch wie Erdbeereis, während die Hitze ihm volle Schlagseite gab. Sein Nacken juckte wie verrückt.

„Nein, keine Bank. Aber irgendwie geht es schon darum, wie man einen Tresor öffnet. Wir müssen nur das richtige Knacken …“

„Knacken?“ Ninas Augen blitzten wie eine blankgeputzte Scheibe. „Also doch ne Bank, oder wie?“

„Nein. Ach – Mist!“ Jetzt war es sowieso schon zu spät. Und eigentlich hatte er auch gar keine Lust, in der Hitze zu braten und unauffällige Fragen zu erfinden. Er zögerte einen Moment. Dann begann er zu erzählen.