Das Geheimnis von Möwenpelz

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7. Altes Zeugs

Patte starrte auf das Telefon in seiner Hand. Alles Mögliche hatte er erwartet. Dass Flip seinem Papa davon erzählte. Dem Bäcker. Dem Bademeister. Aber nicht das. Und dann noch so schnell.

„Sie kann uns helfen“, hatte Flip am Telefon gesagt. Was immer das heißen mochte, es klang gut.

Patte stopfte die Kiste in den Rucksack und ging die Treppe hinunter. Warum auch immer, aber Flip hatte ihn zu sich eingeladen. Normalerweise hätte diese Einladung sein Misstrauen verdreifacht, denn zu Flip eingeladen zu werden war gleichbedeutend mit einer Klassenarbeit: man nahm daran teil, weil es Pflicht war. Und man wurde ausgefragt. Bei Rombergs musste man pflichtbewusst am Tisch sitzen, pflichtbewusst sein Essen einnehmen und pflichtbewusste Gespräche führen.

Heute war es anders. Flips Eltern waren nicht zu Hause und ein Geheimnis musste gelüftet werden. Falls die alte Kiste wirklich eines barg. Patte nahm sich vor, das Ding notfalls aufzusägen, damit er nicht für den Rest der Ferien über den Inhalt nachdenken musste. Gemeinsam mit Flip.

Er verschnürte den Rucksack sorgfältig. Mama durfte nichts von der Kiste wissen.

„Na, fährst du wieder zum Angeln?“ Wie ein Geist stand sie plötzlich in der Küchentür. Patte hatte sich schon oft gefragt, ob sie Sensoren an seine Füße geklebt hatte, um jeden seiner Schritte zu beobachten. Eines Abends hatte er sogar seine nackten Fußsohlen mit der Taschenlampe untersucht. Wenn es welche waren, dann unsichtbare Mama-Sensoren.

„Hm, mal sehen. Ich fahr erst mal rüber zu Flip.“

„Zu Philipp Romberg? Netter Junge. Früher wolltest du nie mit ihm reden.“

Würde ich auch jetzt nicht, dachte Patte.

„Was macht Ihr denn?“

„Bücher tauschen.“ Diese Antwort hatte sich Patte sorgfältig ausgedacht. Sie war das beste Argument, das man haben konnte, denn danach fiel Erwachsenen keine Folgefrage mehr ein. Es war eine Antwort, die bewunderndes Schweigen und stille Zufriedenheit erzeugte.

Mama nickte beifällig und sah nachdenklich zur Seite. Patte musste sich beeilen, denn jetzt kam sicher eine Babsi-Geschichte.

„Mit Babsi habe ich früher auch gerne Bücher …“

„Tschüß, Mama!“ Patte schnappte seinen Rucksack und rannte hinaus in die Hitze. Er sprang auf sein Fahrrad und jagte die Auffahrt hinunter, als wäre Mamas beste Freundin hinter ihm her.

Es war nicht weit zu den Rombergs. In Reunach war sowieso nichts weit. Man konnte sich weder verlaufen noch verfahren. Nur das Holzmann-Haus lag weit außerhalb. Ansonsten kam man schnell überall hin, vor allem, wenn man wie ein geölter Blitz durch die Straßen schoss.

Patte liebte diese Schussfahrten, wenn Häuser und Bäume an ihm vorbeisausten. Er stellte sich dann vor, sein Fahrrad sei ein Rennpferd, das über die Grenze der Erde galoppierte, hinein ins Universum, wo er ihn zu einem fernen Planeten trug, den noch kein Mensch entdeckt hatte. Dieser Planet war allein sein Terrain. Nur auserwählte Menschen durften ihn betreten. Bis jetzt war er der einzige Bewohner.

Kastanienweg Nummer neun. Patte bremste scharf ab und bog in die Einfahrt der Rombergs ein. Als er sein Fahrrad an das Tonnenhäuschen lehnte, schielte er verstohlen zum Haus gegenüber. Er reckte den Hals, um irgendwelche Indizien zu erspähen, die darauf schließen ließen, dass Nina zu Hause war und ihn eventuell sehen könnte. Doch der Holme-Garten schlief still in der Sonne.

In diesem Moment spürte Patte, wie heiß es war. Er wischte Schweißperlen von der Schläfe und drückte auf die Klingel. Er glaubte, ein Geräusch hinter sich zu hören, doch als er noch einmal den Kopf Richtung Nummer sieben reckte, war alles so ruhig wie vorher. Er war so auf das Geräusch konzentriert, dass er gar nicht merkte, wie die Tür geöffnet wurde. Erst als er sich umdrehte, blickte er direkt in grasgrüne Augen. Ein Blitz durchzuckte ihn wie ein Feuerball. Ihm wurde noch heißer als ihm schon war, dann kalt und wieder heiß.

Nina grinste ihn an. „Hi, Patte.“

„Hi. Du – du auch hier?“ Du auch hier. Wie originell.

Nina lachte. „Ja, ich auch hier.“ Ohne eine Antwort abzuwarten drehte sie sich um. Ihre nackten Füße patschten leise über die Steinfliesen.

Patte schloss die Tür hinter sich. Im Haus war es wunderbar kühl. Toll, dass Nina hier. Aber warum war sie hier? Bestimmt blieb sie nicht lange, denn Flip und er würden sich gleich um die Kiste kümmern.

Da dämmerte es ihm.

Ob Nina etwas wusste?

Ihm war, als würde eine kalte Hand nach seinem Magen angeln. Zögernd ging er Richtung Küche, wo er Ninas Stimme hörte. In diesem Moment sah sie um die Ecke.

„Kommst du?“

Er schluckte das Wutgeschwür hinunter, das in seinem Hals wuchs. Nina und Flip saßen auf Barhockern, jeder ein Glas Limonade vor sich. Täuschte Patte sich, oder machte Flip ein schuldbewusstes Gesicht? Dessen Wangen waren gerötet. Als Patte näher kam, starrte er tief in sein Glas.

Patte knallte seinen Rucksack auf den Boden. Wenn die Kiste jetzt zerbrach, umso besser.

„Auch Limo?“ Nina schob eine Karaffe in die Mitte der Theke. Sie schien sich hier zu Hause zu fühlen. Wahrscheinlich kicherte sie jeden Tag mit Flip auf den Barhockern herum.

Patte setzte sich nicht, sondern starrte Flip an. Der hob das Gesicht aus seinem Glas und blickte drein wie ein trauriges Kaninchen.

„Ja … also das …“, er zeigte nach rechts „das ist Nina … ähm, also …“

Nina brach in schallendes Gelächter aus.

Wie blöd war das jetzt?

„Flip hat mir erzählt, dass Ihr in dem Holzmann-Haus was gefunden habt. Er wollte mir nicht sagen, was es ist, aber es scheint ziemlich interessant zu sein?“

„Ich! Hab was gefunden“, würgte Patte hervor.

„Okay. Du. Und was hast du gefunden?“

Flip hob den Blick. „Ich hab’s … ihr gesagt“, sagte er und hob die Schultern.

„Du hast - was?“ Patte war fassungslos. Da fand er endlich mal etwas Bedeutungsvolles und was machte dieser Blödmann? Rannte herum und erzählte es jedem, der nichts davon wissen wollte. Patte trat wütend gegen seinen Rucksack. Wie dumm war er eigentlich, zu glauben, dass ausgerechnet Flip etwas für sich behalten konnte?

Er sah Flip giftig an. „Aber du solltest doch … du hättest doch … also du …“

Nina hatte verwundert zwischen Patte und Flip hin- und hergeschaut. Jetzt sah sie Patte an und sagte: „Er hätte was? Nichts verraten sollen?“

Flip nickte und sah Nina hilfesuchend an.

„Genau“, sagte Patte. „Nichts verraten, weil es sonst morgen die ganze Welt weiß.“

„Ach komm.“ Nina lehnte sich auf die Theke. „Wir behalten alles für uns. Niemand wird es erfahren.“ Sie zwinkerte Patte zu. „Ganz ehrlich.“

„Immerhin war es seine Idee.“ Patte zeigte auf Flip.

„Aber nur, weil du dort rumgeschlichen bist!“

„Ach so! Jetzt bin ich schuld, oder was?“

„Schuld an was?“

„Dass wir einen bescheuerten Schatz suchen!“

„Ein Schatz?“ Nina riss Augen und Mund auf. In ihrem Blick mischten sich Neugier und Zweifel. Flip hatte wohl doch nicht alles verraten. Patte griff nach seinem Limoglas und wedelte lässig mit der freien Hand.

„Ne doofe Geschichte“, sagte er, nachdem er getrunken hatte. „Kinderkram. Ich glaub nicht dran.“

Flip richtete sich kerzengerade auf. „Das ist kein Kinderkram!“

„Alles Blödsinn!“ Patte war immer noch wütend. Am liebsten hätte er seinen Rucksack geschnappt und wäre nach Hause gefahren. Doch einfach so würde er nicht das Feld räumen.

„Also, was für ein Blödsinn ist das jetzt?“ Nina sah Patte und Flip herausfordernd an.

Patte seufzte. Jetzt war es sowieso schon egal. Abwechselnd erzählten sie Nina die ganze Geschichte. Von der Villa. Von Frau Schüller. Von der Kiste. Als sie fertig waren und Flip die Isabelle-Karte auf die Theke gelegt hatte, sagte Nina: „Und wo ist jetzt diese Kiste?“

Patte griff in seinen Rucksack und legte sie auf die Theke. Auf der sauber polierten, glänzenden Marmorplatte sah sie noch viel mehr aus wie ein Ding aus einer anderen Welt. Sie besaß etwas Geheimnisvolles, Unwirkliches.

Ein Schauer lief über Pattes Rücken, und so sehr er auch an Kinderkram denken wollte, es gelang ihm nicht. Im Gegenteil – je länger er die Kiste ansah, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, tatsächlich ein Geheimnis anzusehen. Nina schien es ähnlich zu gehen. Sie starrte die Kiste ungläubig an, beugte sich darüber, schnupperte, rümpfte die Nase. Dann drehte sie die Kiste um.

„Aha, das Zahlenspiel.“

Flip zuckte zusammen.

„Und wo ist das Problem?“

Flip steckte einen Finger in die Öffnung und drehte. Nach dem ersten Knacken hob er die Schultern und sah Nina an, als wäre sie die einzige Lösung auf alle Fragen der Welt.

Nina lachte. Patte dachte zuerst, sie tue das aus Verlegenheit. Oder weil sie nicht zugeben wollte, dass sie auch nicht wusste, was es mit diesem Zahlenkringel auf sich hatte. Und als Lachen lauter wurde, ein Lachen, das zu jedem anderen Zeitpunkt Patte angesteckt hätte, jetzt aber total nervtötend klang, war er sicher, sie mache sich lustig. Einfach nur lustig über zwei dumme Jungs, die wie Trottel aus einem altmodischen Kinderfilm einen Schatz finden wollten. Das Wutgeschwür würgte Pattes Kehle. Er hatte genug. Das musste er sich nicht bieten lassen. Von niemandem. Als er nach seinem Rucksack greifen wollte, rief Nina: „Toll! Das kenne ich! So was Ähnliches hat meine Oma auch! Das ist gar kein richtiges Schloss, sondern – wie sagt man – eine Attrappe?“

Eine Attrappe? Patte und Flip vermieden es, sich in die Augen zu sehen.

 

„Also … ich meine, falls es so ein Ding ist, wie das von meiner Oma.“

Sie trug die Kiste zum Wohnzimmertisch.

„Es ist so -“, erklärte sie und zeigte auf die Öffnung an der Unterseite „dass es zwar knackt wie bei einem Tresor, aber das ist eine Täuschung. Auch diese komischen Ziffern sind eine Täuschung. In Wahrheit muss man -“, sie presste die Hände seitlich gegen die Kiste, „hier drücken und dann … Patte, steckst du mal deinen Finger in die Öffnung?“

Patte kratzte sich am Kopf. Eigentlich war es ein gutes Zeichen, dass Nina ihn fragte und nicht Flip. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, dass es des Rätsels Lösung war, wenn er den Finger in ein Loch steckte.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Flip schielte zur Seite, bewegte sich aber nicht. Es klingelte auffordernd, schien immer lauter zu werden. Flip verzog keine Miene. Er starrte nur auf die Kiste wie ein Kaninchen auf eine Schlange, die zwischen Ninas Händen steckte und über die hinweg Nina in Pattes Augen sah. Ihr Blick duldete keinen Widerspruch.

„Jetzt mach endlich!“

Das Klingeln verstummte.

Patte bohrte brav den Zeigefinger in die Öffnung. Ein Holzsplitter stach in sein Nagelbett. „Und jetzt?“, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Nina presste die Hände wieder gegen die Kiste. „Jetzt musst du deinen Finger festhalten.“ Sie drehte die Kiste um die eigene Achse, einmal, zweimal, dreimal. Und plötzlich, mit leisem Knirschen, sprang der Deckel auf.

Wahnsinn!“, riefen Patte und Flip wie aus einem Mund.

„Meine Oma hat mir erklärt, das ist wie ein altmodischer Kinderverschluss. Drücken – drehen – auf!“ Sie strahlte Patte und Flip an, als hätte sie soeben erfahren, dass die Sommerferien um drei Monate verlängert würden.

„Wieso hat deine Oma auch so ein Teil?“

„Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist das Teil jetzt offen. Bitte sehr.“

Sie drehte die Kiste zu Patte hin. Dieses „Bitte sehr“ klang wie ein Startschuss, wie eine Einladung, endlich seine Neugierde zu stillen, eine verrückte, kindische Neugierde, die Patte immer wieder überfiel, die er sich aber nur schwer eingestehen wollte. Sein Herz klopfte wie verrückt, als er den leicht geöffneten Deckel anhob und wie die Tür zu einer mittelalterlichen Kammer öffnete, ganz langsam, als könne er Geister herbeirufen oder einen Drachen wecken, sorgsam darauf bedacht, nicht das leiseste Geräusch zu erzeugen. Behutsam entfernte er einen dünnen hölzernen Deckel.

Drei Augenpaare starrten in die geöffnete Kiste.

„Was ist das denn?“ Patte war der erste, der die Sprache wieder fand.

„Ist das alles?“, fragte Flip.

Auf dem Samtfutter, mit dem das Innere der Kiste ausgekleidet war, lagen ein Foto und ein Stück Papier.

„Sonst nichts?“ Pattes Stimme wog schwer von Enttäuschung. Alles Mögliche hätte er erwartet, auch wenn er nicht hätte sagen können, was. Hätte man ihn gefragt, dann hätte er tatsächlich „Nichts“ geantwortet und noch einmal betont, wie wenig er an einen Schatz glaube. Aber das hier – ein altes Foto und ein Stück Papier – das war noch schlimmer als nichts.

Nina nahm das Papier heraus und entfaltete es sorgsam. Seine Kanten waren brüchig und sahen aus, als könnten sie mit jedem Lufthauch zerbröseln. Ein sonderbarer Geruch stieg in Pattes Nase, wie eine Mischung aus feuchter Erde, morschem Holz und altem Staub. Er dachte an den Geruch in der alten Villa.

„Was sind das für komische Zeichen?“, fragte er.

„Keine Ahnung.“ Nina griff nach dem Foto.

„Sieht aus wie eine Geheimschrift.“

„Ich glaube …“, Flip beugte sich über das Papier. „Ich glaube, die Zeichen heißen Suterlin oder so.“

Patte schüttelte ungläubig den Kopf. Flip, der alte Besserwisser. Hatte er nichts anderes zu tun als sich über seltsame Zeichen zu informieren?

„Das ist eine alte Schrift. Ich hab so was schon mal gesehen. In einem Buch.“

War ja klar, dachte Patte.

„Und wer ist das?“ Nina hielt das Foto in die Höhe. Es zeigte eine junge Frau. Ihr schwarzes Haar fiel schwer auf die Schultern und war über der Stirn und an den Seiten zu glänzenden Locken gedreht. Auch wenn ihr Mund lächelte, war ihr Blick unter den schwarzen Augenbrauen sehr ernst.

„Keine Ahnung“, sagte Patte.

„Die sieht aus wie in den alten Filmen, die meine Oma immer anschaut“, sagte Nina. In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Faszination und Ratlosigkeit.

„Komische Bluse“, fügte sie hinzu und nahm das Papier mit den seltsamen Zeichen in die Hand.

„Keine Ahnung, wer das ist. Sieht definitiv alt aus. Lauter altes Zeugs.“ Patte kauerte sich auf den Boden und nippte an seinem Limoglas. Das war’s also. Kein Schlüssel. Keine Karte. Kein Schatz. Er konnte wieder angeln und baden und alles tun, was in den Sommerferien Spaß machte. Ohne Flip an der Backe.

Der hatte sich über die offene Kiste gebeugt und brabbelte vor sich hin. Anscheinend mochte er nicht glauben, dass es keinen Schatz gab. Patte beobachtete voller Spott, wie Flip im Inneren der Kiste herumnestelte. Wollte er das Samtfutter herausreißen? Vermutete er darunter den Goldschatz?

„Was machst’n da?“, fragte er über den Couchtisch hinweg.

Flip starrte vor sich hin. Sein Mund stand offen.

„Mann, ich hab’s doch gesagt“, sagte Patte voller Hohn. „Es gibt keinen blöden Schatz. Kapier’s endlich.“

Flip zeigte keine Reaktion. Er sah wie hypnotisiert durch Patte hindurch. Plötzlich schrie er „Ja! Genau!“, schoss wie eine Rakete in die Höhe und rannte in sein Zimmer. Dort schepperte und klapperte und klirrte es.

Was war in ihn gefahren? War er so enttäuscht, dass er herumwüten musste? Patte konnte so etwas verstehen. Trotzdem fand er eine derartige Reaktion auf eine leere Schachtel etwas übertrieben.

Mit Nina war auch nichts mehr anzufangen. Sie blickte abwechselnd auf das Foto und das Stück Papier, runzelte die Stirn und sagte nichts. Waren jetzt alle enttäuscht, weil es keinen Schatz gab? Patte schüttelte den Kopf. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Flip kam wieder angerannt. Er hielt ein Lineal in der Hand und kniete sich hin. „Differenz von Außenmaß und Innenmaß und dann noch die Holzstärke“, brabbelte er in die Kiste hinein und fummelte mit dem Lineal an allen Kanten herum, die er finden konnte.

„Hä?“

„Na, äußere Höhe! Innere Höhe! Stärke des Holzes! Ist doch ganz einfach!“ Flip hielt die Kiste dicht vor die Augen, drehte sie, klopfte sie von allen Seiten ab.

„Spinnst du?“

„Da!“ Flip bohrte den Zeigefinger tief ins Innenfutter. „Da, da!“

„Dada, alles klar.“ Patte tippte sich an die Stirn. Nina sah Flip an, als hätte er eine eklige Krankheit.

„Guckt, ku-guckt!“ Flips Stimme überschlug sich. „Hier! Ma-man muss erst die äußere Höhe von s-so einer Kiste messen.“ Flip holte tief Luft. „Danach misst man die innere Höhe und rechnet dazu die mu-mutmaßliche Stärke des Holzes. Und wenn sich da-dann eine Differenz ergibt, dann ist im Boden ein Hohlraum!“

Patte und Nina sahen sich verständnislos an.

„Hä? Kapierst du, was er sagt?“

„Nö.“

„Na … hier! Hier ist ein Geheimfach!“

„Du meinst …“, Patte setzte sich kerzengerade auf.

„Genau!“ Flip strahlte zufrieden. „Die Kiste hat einen doppelten Boden! Ein geheimes Fach! Versteht Ihr?“

Patte und Nina nickten langsam.

„Und wie kriegt man das auf?“, fragte Nina.

„Ich glaube … so wie das hier aussieht …“ Flip kniff die Augen zusammen und drehte die Kiste nach allen Seiten. „Der doppelte Boden kommt zum Vorschein, wenn man …“ Flip bastelte wieder am Innenfutter herum. Er spreizte alle Finger, drückte sie gegen die Innenseiten und plötzlich, mit leisem Plopp, sprang ein dünnes Brett ein klitzekleines Stück aus der Kiste heraus.

„Juhu!“ Flip sprang auf, rannte wie ein wilder Affe durchs Wohnzimmer und plumpste wieder auf den Boden. „Ich hab einen doppelten Boden gefunden! Juhu! Ist das nicht toll? Juhu!“

„Wieso?“ Patte suchte neiderfüllt nach Worten. „Wieso weißt du so etwas?“

„Was meinst du?“ Flip strahlte wie eine Lichterkette.

„Na, das mit der Kiste und der Differenz und so?“

„Och, das …“ Flip wurde rot. „Ich finde Geheimkisten und Truhen und Geheimfächer voll interessant! Ich hab Bücher, in denen steht, wie das funktioniert. Mit meinem Onkel Peter hab ich schon ein paar so Kisten gebaut. Der zeigt mir dann immer, wie es geht. Und was man beachten muss und er erklärt mir alles. Das ist echt total spannend!“

Patte schwieg. Zu gerne hätte er jetzt auch einen Onkel Peter gehabt, der ihm besondere, spannende Dinge zeigte, mit denen man wichtige Geheimnisse lüften konnte.

„Du hast ein richtiges, echtes, geheimes Fach gefunden und aufgekriegt.“ Nina schenkte Flip bewundernde Blicke. „Irre. Total cool. Echt.“

Flip lachte stolz. Und auch wenn Patte neidvoll auf Flips Eroberung blickte, so sah er ihn zum ersten Mal mit anderen Augen. So etwas Besonderes hätte er dem doofen Streber nicht zugetraut. Er war so fasziniert von Flips Entdeckung, dass er gar nicht daran dachte, unter den doppelten Boden zu schauen. Nina schon. Sie hob ihn vorsichtig an und zog etwas heraus.

Es war ein Schlüssel. So groß wie eine Streichholzschachtel und schwarz verkrustet von Staub und Rost. Sein Kopf war rund und verschnörkelt wie ein Schmuckstück.

„Der Schlüssel zum Schatz!“ Flip wollte danach greifen, doch in diesem Moment knirschte ein Schlüssel in der Haustür. Flip hielt in seiner Bewegung inne, als sei er zu Eis gefroren.

„Philipp! Ich bin wieder da!“

So schnell wie Flip erfroren war, so schnell taute er wieder auf. Seine Ohren, seine Haare, einfach alles sank an ihm herunter.

„Meine Mutter“, flüsterte er und blickte entsetzt auf die Gegenstände, die auf dem Couchtisch lagen.

„Philipp? Bist du da?“

„Schnell!“ Nina steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche und griff nach dem Foto, während Flip wie ein aufgescheuchtes Huhn um seine Achse kreiste.

„Lenk sie ab!“, zischte Nina und gab ihm einen Schubs. Flip kreiselte in die Diele und wurde fröhlich von seiner Mutter begrüßt.

Patte stopfte die Kiste so tief in den Rucksack, dass sie knirschte. Er ignorierte Ninas entsetzten Blick und stopfte das Stück Papier hinterher. Dann kam Flip zurück, gefolgt von seiner Mutter.

„Das ist aber schön, dass du Besuch hast“, sagte sie und stellte ihren Einkaufskorb ab. Sie reichte Patte und Nina die Hand.

„Puh, ist das wieder heiß heute. Philipp, ich habe vorhin angerufen. Hast du das Telefon nicht gehört? Ich wollte dir nur sagen, dass ich früher nach Hause komme.“

„Ich … ähm …“

„Wir waren draußen“, sagte Nina schnell.

„Ach …“ Flips Mutter blickte irritiert auf die verschlossene Terrassentür. „Wollt Ihr zum Mittagessen bleiben?“

„Ich muss nach Hause“, sagte Patte hastig. „Danke“, fügte er hinzu und griff nach seinem Rucksack.

„Und du?“, fragte er Nina.

„Ich muss auch.“

Sie verabschiedeten sich von Frau Romberg und gingen hinaus. 38 Grad Celsius knallten wie eine Betonwand auf ihre Köpfe.

„Sag mal …“ Patte verlangsamte seinen Schritt.

„Ja?“ Nina blinzelte ihn an.

„Möchtest du mal mit mir … also, hast du Lust …“

In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Flip rannte heraus. „Halt! Wartet!“

„Was denn?“ Patte starrte ungeduldig auf Flips rote Wangen.

„Wie machen wir jetzt weiter?“

„Wie weiter?“

„Na, wir müssen doch rausfinden …“ Flip beließ es bei dieser Andeutung.

Patte wusste genau, was er meinte. Ab jetzt teilten sie ein Geheimnis, von dem niemand etwas wissen durfte. Und auch wenn Patte ebenso erstaunt wie ratlos über den Inhalt der Kiste war, musste er sich eingestehen, dass es jetzt keinen Sinn hatte, die Sachen einfach zu vergessen. Falls das überhaupt möglich war.

Patte seufzte. „Okay. Morgen Mittag bei mir. Meine Mutter hat Freitagnachmittag ihren Nebenjob. In Bamberg. Wir haben den ganzen Nachmittag für uns.“

Sie verabschiedeten sich. Auf dem Heimweg fiel Patte ein, dass seine Mutter Urlaub hatte. Er wusste zwar nicht, ob dieser Urlaub auch für ihren Nebenjob galt. Aber vielleicht würden sie für ihr Treffen einen anderen Ort finden müssen.

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