Das Leben ist schmutzig

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Er wurde jäh aus seinen Betrachtungen gerissen. Von links erklang der »Schneewalzer«, einmal, zweimal, dreimal. Laut. Penetrant. Rücksichtslos. Wagner schnaubte. Es war zum Verrücktwerden. Sang der alte Depp am Ende sogar dazu? Es klang danach. Wagner klopfte energisch an die Wand. Pause. Er knirschte mit den Zähnen, hämmerte nun mit geballter Faust dagegen, sah den alten Pöhz förmlich dastehen, den Kopf vorgereckt, wie ein gerupftes Huhn, lauschend. Kurz danach ging es wieder los: Schneewalzer. Wagner schrie auf, begutachtete seine Knöchel. Blut! Er inspi­zierte die Wand. Ein kleiner Nagel stand ein Stück vor. Pöhz tanzte den Schneewalzer, unvermindert laut. Wagner sprang auf, fuhr in die Schlapfen, stürzte durch die Tür. Die blutige Hand auf der Klingel, schoss ihm ein: Ich rede ja nicht mit dem Trottel! Er machte kehrt. Nebenan klappte die Tür. Pöhz fuhr aus seiner Wohnung und tobte. ­Wagner nahm grinsend sein Auge vom Türspion und legte sich erneut ins Bett, nachdem er den Fernseher ganz laut gestellt hatte. Er schaltete um zur Formel 1 und ließ die Motoren aufheulen.

Sein Nachbar linker Hand war deutlich angenehmer. Er wirkte zurückhaltend, fast ein bisschen scheu.

»Sedlak, Herbert Sedlak.« Wagner sah zu dem großen stämmigen Mann auf und ergriff eine gut gepolsterte schwitzige Hand. »Wenn Sie etwas brauchen sollten …« Er lächelte freundlich. »Man muss ja zusammenhelfen.«

Mit diesem Nachbarn hatte Wagner jedenfalls definitiv Glück gehabt. Herbert Sedlak, Beamter in einer Registratur – welches Amt, hatte Wagner vergessen –, war in jeder Hinsicht angenehm. Er schien zu den Alteingesessenen zu gehören, war aber mit niemandem besonders vertraulich oder vertraut. Man begegnete einander hin und wieder am Gang, grüßte, wechselte ein paar Worte, nichts von Belang, und ging seiner Wege. Der Ältere zeigte sich weder besonders kontaktfreudig noch neugierig, was Wagner schätzte. Eine Frau schien es nicht zu geben, aber die hatte Wagner ja auch nicht, und im Übrigen war ihm das Privatleben seiner Nachbarn ziemlich egal. Da unterschied er sich definitiv von den meisten anderen. Und jedenfalls von Herrn Pöhz. Nur einmal hatte Sedlak bei ihm angeklopft und ihn um Hilfe gebeten, damals, als die Hausbesorgerin renoviert hat. Diesem Umstand verdankt Wagner die Bekanntschaft mit Julias Sohn. Seitdem lässt Wagner auf den Sedlak nichts kommen.

Es hat sich einfach so ergeben: Wenn wir einander begegnen, bleibt sie stehen und sagt was. Ich hänge viel im Haus herum. Und vor dem Haus. Sie kommt und geht zu den unmöglichsten Zeiten. Ich versuche im Wesentlichen cool zu wirken. Ich hab mir neue Klamotten gekauft, obwohl Mama meint, meine alten seien noch ganz in Ordnung. Zu eng, sage ich und drücke die Brust raus, und dann rückt sie die Kohle raus, wohl auch, weil sie ein schlechtes Gewissen hat. Wegen dem neuen Lover. Bei dem verbringt sie nämlich derzeit die meisten Abende. Der Neue hat scheint’s eine geräumige Wohnung und keine Angst vor Nähe. Es ist der dritte Haltbarere in Serie. Dazwischen gab’s ein paar Eintagsfliegen. Sozusagen. Mam ist knapp vierzig, und die Knaben sind um die dreißig. Oder knapp drunter. Adidas-Jacke oder Puma, Seitenscheitel, Unfrisur, iPod (okay, den würde ich auch nehmen), Thekensteher, Raucher, ungefickt, vermutlich Dreißigerkrise oder so was. Ich hab mir angewöhnt, möglichst gelangweilt dreinzuschauen, wenn sie den Nächsten anschleppt, und auf ihre Anbiederungsversuche nicht einzugehen. Insgesamt sind sie ganz in Ordnung, denke ich. Meine Mam auch. Bloß ist sie meine Mutter und sollte sich auch so benehmen. Denke ich.

Die Lady hat moosgrüne Augen und immer enge T-Shirts an. Ich bemühe mich, meinen Blick nicht unter ihr Kinn abfallen zu lassen. Grinse sie an und wundere mich, dass mir das passiert. Wirklich schlaue Sachen fallen mir meistens nicht ein, aber das scheint ihr nichts auszumachen. Sie geht auf die Knie, streichelt den Moppel, der sich sofort wie eine Sau an ihr reibt, tätschelt und krault ihn und nennt ihn einen guten Hund. Und so übel ist er ja auch eigentlich nicht, abgesehen davon, dass er ständig furzt und viel zu fett ist. Und jetzt tatsächlich grunzt vor Wohlbehagen.

Aus Marie Bergers Eckwohnung im zweiten Stock, die mittlerweile einem Dschungel gleicht und ihn gießtechnisch eine gute Stunde beschäftigt, sieht Markus, wenn er im Schlafzimmer ganz nah am Fenster steht, in Monas Schlafzimmer; freilich auch in das der Hausbesitzerin, was ihn aber kein bisschen interessiert. Erwischen lassen möchte er sich aber auch nicht, wie er aus dem Fenster starrt in der Hoffnung, Mona sozusagen privat zu sehen. Gut, dass vor dem Fenster eine große Zimmerlinde steht, die ihn etwas tarnt.

Markus schleppt Kanne um Kanne. Die Vorräte an abgestandenem Wasser sind längst aufgebraucht. Die Pflanzen schlucken, als müssten sie sich auf eine lange Dürre­periode vorbereiten, aber Markus kommt mittlerweile ohnehin jeden Tag, sicherheitshalber, auch wenn Frau Berger, wie diesmal, nur ein Wochenende lang weg ist. Den Frauenhaarfarn hat er in eine Glasschüssel voller Wasser gepackt. Die Dinger sind höllisch empfindlich, und ein Unfall wie damals passiert ihm sicher nie wieder. Frau Berger hat ihn tatsächlich gelobt und nichts gemerkt, und er hat seitdem ein fixes Einkommen. Auch Tipp zwei von Wagner war hilfreich: auf jeden Fall alle gelben oder verdorrten Blätter abzupfen und verschwinden lassen. Schaut immer gepflegt aus. Erstaunlich, findet Markus, wo der doch auf eine gepflegte Umgebung nicht gerade viel Wert zu legen scheint und selber nicht einmal Plastikblumen in der Wohnung hat. »Aber Köpfchen«, sagt Wagner. »Köpfchen hab ich. Definitiv.«

Markus blättert in Frau Bergers Büchern. Sie liest seltsame Sachen, Esoterik, Lebenshilferatgeber, wirkt aber völlig normal: lange braune Haare, ein bisschen rundlich, Jeans und Pullover. Keine, die auffällt, aber auch nicht hässlich. Naturbelassen, irgendwie. In ihrem Schlafzimmer hängt ein Traumfänger. Und als sie eingezogen ist, hat sie zum Entsetzen der Hausbesitzerin die Wohnung ausgeräuchert. Das war noch lange Thema im Haus.

Unter ihm schießt ein Rollo hoch. Markus zuckt erschrocken zurück. Mona steht vor ihrem völlig zerwühlten Bett, in dem auch zerknüllte Jeans liegen. Sie ist nackt, schaut sich im Zimmer um, bückt sich – ihm wird heiß – und wühlt irgendwo ein weißes T-Shirt hervor, das sie sich überzieht. Sie bleibt untenrum nackt. Anders als die Frauen in der Peepshow trägt sie ein kurz geschorenes schwarzes Pelzchen. Markus saugt die Luft ein und beißt sich auf die Lippen. Wahnsinn! Aus dem Augenwinkel nimmt er eine Bewegung wahr. Er fährt zurück. Direkt gegenüber starren ihn vom Fensterbrett die beiden Katzen an, unbeweglich. Bestien.

Mona ist mittlerweile aus seinem Blickfeld verschwunden. Er weiß ungefähr, wie ihre Wohnung geschnitten ist. Vermutlich steht sie jetzt in der Küche, die sie sowohl vom Schlafzimmer als auch vom Wohnzimmer aus erreichen kann, und trinkt Kaffee aus ihrer großen braunen Tasse. Ohne Kaffee, sagt Mona, geht morgens gar nichts. Mona braucht eine ewig lange Anlaufzeit, hat sie ihm erzählt. Bis sie fit ist für den Tag. Im Augenblick sind Ferien, da kann sie ausschlafen. Da arbeitet sie fast jeden Abend in dem Lokal, hat aber die Tage für sich, bis die Uni wieder losgeht. Es ist verdammt schwer, sie zufällig zu treffen, weil er bisher noch keine Regelmäßigkeit in ihrem Tagesablauf herausgefunden hat.

Markus klingelt bei Frau Novak und nimmt den Moppel in Empfang. Der Hund wedelt begeistert. Er wird immer runder, findet Markus. Und offenbar senil, denkt er, wenn er mich dermaßen entzückt anstarrt. Der Hund nimmt langsam Stufe um Stufe. Sein Bauch streift die Kanten. Markus kann sich nicht dazu durchringen, ihn auf den Arm zu nehmen und über die Stiege zu tragen. Im Hausflur ist niemand. Er parkt den Hund im Rinnstein unweit des Hauses und bezieht seinen Posten. Der Moppel nimmt einen höchst konzentrierten Gesichtsausdruck an, er krümmt und windet sich. Er furzt. Ein vorwurfsvoller Blick zu Markus hoch. Unglaublich, der Hund. Der zweite Anlauf scheint erfolgreicher. Wastls Gesichtszüge entspannen sich zusehends. Schließlich rutscht er mit dem Hinterteil ein Stück den Boden entlang, steht auf und ruckelt an der Leine.

»Markus!«

Sie ist es. Sie schaut schlecht aus. Also im Gesicht. Müde und bleich, dunkle Ringe unter den Augen. Ansonsten topp wie immer. Das weiße hat sie gegen ein enges knallgrünes Shirt mit breit grinsendem Frosch drauf getauscht. »Ver­katert«, sagt sie, »und erst um sechs ins Bett. Hab aber einen Termin. Schlechte Planung. Tja.« Markus nickt. Er hat ganz feuchte Hände. Und starrt ihr in die Augen. »Sag, weißt du, wer da einzieht neben mir?«

Markus weiß gar nichts, wird aber seine Mutter fragen. »Ich sag dir dann Bescheid.« Mona nickt.

Markus zerrt den Hund lustlos hinter sich her, setzt sich auf eine Bank im Park, schlurft ein paar Schritte weiter und lässt sich im Schatten nieder. Der Moppel beschnüffelt ausführlich ein rosa Kondom. Markus zerrt ihn zurück. »Aus. Aus jetzt.« Der Hund schaut demonstrativ in die Gegenrichtung und interessiert sich jetzt für ein zusammengeknülltes Papier. Der Park ist völlig versaut, denkt Markus. Bei den Schaukeln sitzen ein paar größere Kinder und rauchen. Im Käfig ist niemand. Hinter ihm kickt jemand eine Dose vor sich her. Das Geräusch kommt näher.

»Maks«, grüßt Alex und lässt sich neben ihm auf die Bank fallen. Er streckt die Beine weit von sich und stupst den Hund an. »Geht’s?«

»Hm. Geht so.«

»Cooler Hund«, grinst Alex, deutet mit dem Kinn auf den Moppel und stößt Markus in die Seite.

Der schaut genervt auf. Der Hund nähert sich gerade wie beiläufig erneut dem Gummi.

»Bisschen fixiert, hä, wie es scheint.« Alex hört nicht auf.

»Aus, Wastl! Aus, sag ich.« Der Hund lässt sich fallen und streckt alle viere von sich.

 

»Eins a Stunt«, ätzt Alex.

»Hey, komm.« Markus ist zunehmend genervt.

Sie schweigen. Alex fingert in seiner Jackentasche nach Zigaretten, steckt sich eine an und hält Markus die Packung hin. »Auch eine?« Markus schüttelt den Kopf. Er raucht selten. Eigentlich nur, wenn sie abends unterwegs sind. Oder bei Wagner. »Die Sau hat mich ausgegriffen«, fängt Alex plötzlich an zu erzählen. Er nimmt einen tiefen Zug und muss husten.

Markus versteht nicht. »Wer jetzt?«

»Der Wagner«, erklärt Alex und redet sich langsam in Rage. »Stell dir vor: Ich sitz da und schau mir mit dem den Film an. Hat ja eine ganze Menge davon. Hat mir auch schon welche geborgt. Alles ganz chillig. Wir liegen da auf seinem Bett, kannst ja nirgends bequem sitzen sonst, Bier vor uns, du kennst das. Wir unterhalten uns, schauen uns den Porno an, einen zweiten, und dann redet der plötzlich so komisch, macht so Andeutungen, ich Trottel lache mit, und auf einmal hat der seine Hand auf meinem Schwanz. Ich sag dir: ich auf und hab ihm eine geknallt. Bier am Bett, auf meiner Hose, überall. Alles nass – und sein blödes Gesicht. Da hat er sich angeschissen: Alex, Alex, was ist denn? Alles ein Missverständnis und so. Aber echt nicht! Nicht mit mir. Scheißkerl. Macht einen auf Kumpel und geht dir dann an die Wäsche. Ich steh auf Weiber, verstehst. Und dann kommt der und glaubt, für ein bisschen Quatschen und Taschengeld hin und wieder und ein, zwei Bier kann er mich haben. Hat mir einmal sogar seine Wohnung angeboten, wenn ich mit meiner Freundin ins Bett will. Drecksau. Und zuschauen wahrscheinlich! Markus, ich schwör dir, dem verpassen wir auch noch eine Abreibung. Der merkt sich das.«

»Was hast du vor?«, fragt Markus. »Und wer ist wir?«

Alex zuckt die Schultern. »Besser, du weißt nicht zu viel«, sagt er, steht auf und klopft Markus auf die Schulter. »Vergiss es, Maks. Ich wollte dir bloß … aber – egal.«

Markus schaut ihm nach, wie er langsam über den Platz geht, ein bisschen nach vorn gebeugt. Müde sieht er aus, denkt Markus. Und dünn. Da schaut Alex sich noch einmal um.

Markus hebt die Hand. Dann blickt er auf die Uhr. Nun hat er es plötzlich eilig. Jetzt irgendwann müsste Mona eigentlich zurückkommen. Er zerrt den Hund zu sich und sprintet über den Platz nach Hause. Er hört den Moppel hinter sich keuchen.

Und dann, ein paar Tage später, der Kellereinbruch. Markus war in der Schule und hat nichts davon mitbekommen. Herr Pöhz fährt ihn an, ob ihn die Polizei schon einvernommen habe, und Markus bringt grade noch ein »Wa-warum?« heraus, aber Herr Pöhz hat schon Herrn Sedlak erspäht und schreit ihm aufgeregt entgegen: »Einbruch, Herr Nachbar. Einbruch in unseren Keller. Die Hälfte der Abteile ist offen. Die Polizei war auch schon da. Bitte, bei mir fehlt nichts, aber Sie sollten sicherheitshalber nachschauen.«

Sedlak kommt ihm nicht aus. Herr Pöhz muss reden. »Jetzt sind die Verbrecher schon im Haus. Kein Wunder, wenn die Tür ständig offen ist. Und die Mutter von dem Früchtchen da nie daheim. Da kann ein jeder ein und aus gehen, wie er will. Man muss Angst haben um sein Leben, Herr Sedlak. Angst.«

Markus macht, dass er wegkommt.

Der Einbruch bringt die Leute einander wieder näher. Man hat etwas zu reden. Herr Pöhz steht viel am Gang herum und nicht ungern, wie es scheint, im Mittelpunkt. Er tobt, dass man seines Lebens nicht mehr sicher sei. Die Wawerka sei nicht imstand, die Haustüre geschlossen zu halten. Kein Wunder, wo sie ständig unterwegs ist. »Und mit welchen Nachwuchsganoven ihr Sohn herumzieht, das sollte sie sich auch einmal anschauen.«

Wagner geht an Sedlak und Pöhz vorbei, nickt dem einen zu und ignoriert den anderen. Er findet die Jungs ganz in Ordnung, den einen, mit dem Markus ein paarmal bei ihm war – der hatte seine Magazine zu schätzen gewusst –, sogar schwer in Ordnung. Richtig frecher Typ mit großer Klappe. Einer, der sich nichts pfeift. Und immer Kohle braucht. Nicht so gutaussehend wie Markus, aber auch bei weitem nicht so verklemmt. Es war Zeit, dass der Bub endlich einmal mit richtigen Jungs Umgang hatte, die nicht ständig an Mamas Rockzipfel hingen.

Die Polizei zeigt sich nicht sonderlich engagiert, findet Herr Pöhz. Die Ganoven haben zum Glück bald aufgegeben. Weiter als bis zum fünften Abteil scheinen sie nicht gekommen zu sein. Die zweite Tür, die zum hinteren Teil des Kellers führt, weist keine Einbruchspuren auf. Eine der Jugendbanden aus der Gegend wahrscheinlich, meint der Polizist. Herr Pöhz soll die Augen offen halten. Da üben also die Nachwuchskriminellen schon für später, für die richtig großen Verbrechen: Einbrüche, Raube, Banküberfälle. Den haben sie auch noch nicht, den Maskenmann. Kein Wunder, lasch wie die Exekutive ist. Vier Banken hat der bisher überfallen, freilich nicht in der Gegend, aber – weiß man’s, ob man nicht morgen schon selber in den Lauf einer Pistole blickt, wenn man seine Pension abhebt? Herr Pöhz wird die Augen offen halten. Und wie.

Eine knappe Woche später trifft Markus Wagner am Haustor. Der hat ein blaues Auge und den rechten Arm in Gips. Ihm wird siedend heiß. Er starrt Wagner an: »Was …?«

»Ich war betrunken«, sagt Wagner. Er schaut ziemlich mitgenommen aus. »Letzten Samstag. Völlig zu. Bin gestolpert. Über einen Randstein. Die Brieftasche hab ich auch verloren. Kann man nichts machen. Jetzt bin ich eine Weile im Krankenstand, wie’s ausschaut.«

»Tut’s weh?«, fragt Markus, weil ihm nichts Besseres einfällt. Ihm ist schlecht. »Hast du eine Anzeige gemacht?«

»Anzeige? Wieso? Ich bin ja gefallen.« Wagner ist irritiert.

»Wegen der Brieftasche«, fällt Markus da ein. Er ist ganz rot im Gesicht und scharrt mit den Füßen. Seine hellen, kinnlangen Haare fallen ihm über die Augen. »Deine Brieftasche ist doch weg. Die muss doch jemand …«

Wagner winkt ab. »Kriegt man ja doch nicht wieder. Wozu also? Markus, ich muss dann …«

Mona sitzt seit anderthalb Stunden auf dem unbequemen Sessel, der perfekt in die durchgestylte Praxis passt. Trotz Termins also wieder Warten. Sie hasst das. Sie spürt förmlich, wie die Lochstruktur der Sitzfläche sich durch die dünne Baumwollhose langsam in ihren Hintern und die Oberschenkel prägt. Sie kämpft gegen den Impuls an, einfach aufzustehen, zu gehen und zu hoffen, dass weiter nichts ist. Die Frauen links und rechts von ihr blättern in Zeitschriften oder telefonieren. Einige von ihnen haben dicke Bäuche. Ein werdender Vater – die Frau neben ihm sitzt breitbeinig wie ein Kutscher, die Geburt dürfte unmittelbar bevorstehen – informiert seine Sitznachbarin über die gemeinsame Geburtsvorbereitung. Mona erwartet jeden Moment, dass er zu hecheln beginnt. Das blasse Mädchen mit den abgekauten Nägeln gegenüber schaut grimmig von ihrem dicken Buch auf. Harry Potter, mein Gott! Immerhin in Englisch. Hin und wieder wird eine zur Anmeldetheke gebeten und gibt dort intime Auskünfte über letzte Blutung, Verkehr, Symptome und dergleichen. Mona merkt, dass sie sich immer mehr verkrampft.

»Wie blöd muss man eigentlich sein, um keinen Gedanken an Verhütung zu verschwenden? Von möglicher Ansteckung will ich gar nicht reden«, hat ihre Schwester ganz zu Recht gesagt. »In deinem Alter?« Sie sieht sich zerknirscht nicken. »Und warum rufst du nicht gleich an? Hm? Oder fährst ins AKH?« Der HIV-Test immerhin war negativ.

Sie weiß, was es ist. Sie lässt sich treiben, die ganze Zeit schon. Keine Pläne, keine Ziele, einfach weitermachen wie die Jahre davor. Ihre Vorlesungen, die Seminare, hin und wieder legt sie eine Prüfung ab. Der Auszug aus der Wohngemeinschaft nach fünf Jahren war immerhin ein Anfang. Und wieder ist sie ohne allen Antrieb für den nächsten Schritt. Dieser verdammte Job bringt ihr ganzes Leben durcheinander. Sie wird langsam zu alt, um nach der Arbeit noch nächtelang durchzumachen, in denen mehr getrunken wird, als allen guttut. Ihr vor allem guttut. David kannte sie lange und gut genug, um völlig sicher zu sein, dass zwischen ihnen nie etwas laufen würde, auch wenn sie weiß, dass er will. Niemals mit Kollegen. Und außerdem ist er ihr zu unmännlich. Ein richtiges Bubi. Aber ein hartnäckiges. Er hat es immer wieder probiert. Und dann lief doch was, Stunden, nachdem alle gegangen waren und es draußen schon hell wurde, und weder er noch sie hatte Lust, sich voneinander zu lösen und nach den Gummis zu suchen. Dann schliefen sie bis zum Nachmittag, frühstückten. Sie verließ seine Wohnung und ging zur Arbeit. Abenddienst, die ganze Woche. Die perfekte Ablenkung. Die Verdrängung funktionierte genau drei Wochen.

»Mach dich nicht verrückt«, hatte ihre Schwester gesagt. Sie saß inmitten des Chaos, das sich in der letzten Zeit angesammelt hatte, auf der hellgrünen Ikeacouch und sah sehr erwachsen aus mit der Brille, die sie seit kurzem trug, strenge schmale Form mit dunkler Fassung. Ihre glatten, hell gesträhnten Haare hatte sie aus dem Gesicht gebunden. Niemand würde uns für Schwestern halten, dachte Mona. Wir sind völlig verschieden. Irma hatte sich vorgebeugt und ihr das Haar gestrubbelt, ruppig aufmunternd. »Arzttermin. Das ist ein Befehl.« Sie hatte gefragt: »Weiß er …?«

»Ist meine Sache. Ich will nichts von ihm.«

Die Jüngere schüttelt den Kopf. »Na gut, du musst selber wissen … Ruf mich an, wenn du dort warst, gut? Dann schauen wir weiter …«

Fehlalarm. Die Ärztin, eine Freundin von Irma, groß, kühl und sehr schlank, spart sich jeden Kommentar. Sie haben über sie geredet, so viel ist klar. Mona kommt sich mit einem Mal vor wie ein kleines Mädchen, das die Erwachsenen nachsichtig behandeln, weil es ohnehin nie auf die Großen hört und immer noch zu schnell rennt und seine Möglichkeiten überschätzt, trotz aller Mahnungen und schlechten Erfahrungen. Und sich also die Knie aufgeschlagen hat. Und wohl wieder nichts dazulernt.

Sie schämt sich plötzlich ein bisschen. Die Ärztin ist kaum älter als sie. Mona schwingt sich vom Untersuchungsstuhl und zieht sich an. Die Freude sickert ganz langsam, als sie wieder auf der Straße steht. Nach und nach entspannt sie sich. Sie geht den ganzen Weg durch die Stadt zu Fuß, durch den gutbürgerlichen Bezirk, durch die Gegend, in der die Häuser niedriger und schäbiger werden, Sechziger-Jahre-Betonbauten dazwischen, und schließlich über den Markt. Entronnen. Entronnen. Entronnen. Die Blumenfrau hat stachelige bunte Strauchrosen in Eimern vor dem Geschäft stehen. Sie kauft einen Armvoll. Eine Dorne reißt ihr den Daumen auf. Sie leckt das Blut ab. Entronnen. Sie strahlt den mürrischen alten Mann an, der im Haus im Erdgeschoss wohnt und immer etwas zu schimpfen und zu nörgeln hat. Er bleibt stehen und schaut ihr erstaunt nach. Nebenan ist jemand eingezogen. Mona hat ihn einmal kurz gesehen: Interessanter Typ, aber er hat sie kaum angeschaut.

Der Neue hat seine Tür einen Spalt offen. Davor stehen einige Umzugskartons. Sie hebt die Werbesendungen vom Boden auf und sucht nach ihrem Schlüsselbund. Hämmern von nebenan. Der wird sich freuen, wenn er mitkriegt, wie mies die Wände hier sind. Schnell und lieblos renoviert, das Ganze. Schaut auf den ersten Blick aber tadellos aus. Die Böden, immerhin altes Eichenparkett, sind schön.

Von ihrem sieht man nicht viel. Überall liegen ihre Klamotten. Pizzaschachteln dazwischen, Kaffeebecher, Skripten und Bücher. Sie schaufelt das schmutzige Geschirr aus dem Abwaschbecken, füllt Wasser ein und taucht die Rosen. Macht sich einen Kaffee. Sie trinkt ihn schwarz mit viel Zucker.

Mona schlüpft aus der Hose, wirft sie aufs Bett und setzt sich in Slip und Shirt auf das breite Fensterbrett, die Hände um die große Tasse gelegt. An der Feuermauer gegenüber klettert Wilder Wein. Im Herbst wird er in allen Rottönen leuchten. Flammend. Die Hinterhoffassade ist schäbig, blättert ab, hätte einen Anstrich dringend nötig. Am gegenüberliegenden Ende des Ganges, in der Eckwohnung, steht die alte Frau am Fenster und schaut zu ihr her. Mona winkt ihr zu. Ein freundliches Lächeln kommt zurück. Die Omama im Apfelbaum, denkt Mona. Ihr Lieblingsbuch als Kind. So schaut sie aus, genau so. Mona lächelt in ihre Tasse.

Ihr Handy! Der Klingelton ist unglaublich nervig. Sie muss den ändern. Morgen. Sie löst sich vom Fenster und tastet nach dem Telefon. Ihre Schwester.

»Und? Wie war’s?«

»Na ja. Ist okay. Also …« Mona wandert mit dem Handy im Wohnzimmer auf und ab. Wie ein Storch steigt sie über das Chaos am Boden, runzelt die Stirn und grinst. Da ist ja ihre Sonnenbrille. Unter einem Haufen Schmutzwäsche schauen die Bügel hervor. Sie zieht sie heraus, hebt sie auf. Unversehrt, zum Glück.

»Verdammt, kannst du nicht in ganzen Sätzen reden?« Irma pfaucht ihr ins Ohr. »Was sagt sie? Bist du schwanger?«

 

»Nein. Bin ich nicht. Irmi, ich bin soo froh. Ich schwöre dir, nie wieder … Ich hab ja immer Gummis mit, sicher, aber da, wir waren …« Und plötzlich sprudelt sie los. Von der einen Nacht. Der einzigen. Den verdammten endlosen drei Wochen Vergessenwollens, vom Test, dem Warten, der Untersuchung. Davon, wie pestig sie zu David war, der von nichts weiß und von nichts wissen muss und nicht kapiert, warum seine Lieblingskollegin plötzlich wie eine Irre Bierkisten schleppt und putzt und ihm aus dem Weg geht und zickt. Nur noch zickt.

Mona sitzt auf der Sofalehne und redet und redet. Sie wickelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger, zieht sie lang und nagt daran. Irma findet das grauslich, fällt ihr ein, und sie nimmt die Haare aus dem Mund, obwohl Irma sie nicht sieht.

»Mona, ich muss dann«, unterbricht ihre Schwester schließlich, »ich hab Karten …«, und in dem Moment geht Monas Türklingel.

»Entschuldige, da ist jemand an der Tür, Irmi. Wir hören uns. Und – danke.«

Langsam kommt der Sommer in Gang. Die Tage sind endlos lang. Markus döst oder hört Musik. Er sitzt am Computer, verbringt Stunden in Marie Bergers Wohnung im zweiten Stock. Die ist nach Hause gefahren, wo immer das sein mag. Manchmal geht er raus, meist erst gegen Abend. Frau Novak hat wieder begonnen, hin und wieder selber kleine Runden mit ihrem Hund zu gehen. Markus ist das ganz recht.

Eines Abends sitzen sie im Park, die ganze Partie. ­Markus bleibt stehen. »Auch wieder da? Einmal nicht schwer beschäftigt?« Markus nickt. Er schaut sich um. Die Kleineren kicken im Käfig. Alex raucht. Er hat dunkle Ringe unter den Augen und ist noch dünner geworden. Sebi starrt ihn aus trägen Augen an. »Weichei!« Er grinst. Er ist völlig dicht.

»Was macht ihr?«

Alex schnieft. »Nichts. Rumhängen. Kohle organisieren. So Sachen.« Er schaut irgendwie krank aus. Und unglücklich. Da ist nichts mehr von cool und entspannt.

»Weichei, schon mal eine Oma gemacht?«, schaltet sich Sebi ein. »Geht ganz einfach. Schubsen, Handtasche wegreißen, Geldtasche plündern. Chillen. Bist du zu feig, was?« Die anderen grinsen.

Alex schaut wütend auf und geht ein paar Schritte mit ihm weiter. Er ist nervös und fahrig. »Alles Scheiße, Markus. Und bei dir?«

Markus zuckt die Schultern. »Geht so.« Sie nicken einander zu.

An der Haustür trifft Markus Frau Novak. Sie zögert kurz, blinzelt in die Sonne, dann zu ihm hoch, erkennt ihn schließlich. Sie lächelt ihn freundlich an. »Markus!« Der Hund drängelt sich an ihn, reibt sich an seinem Bein. ›Omas machen‹. Er sieht Frau Novak auf dem Boden liegen, wie sie die große braune Tasche an sich presst und »nein, nicht« ruft. Er sieht Sebi grinsen und weglaufen. »Ist was, Markus? Geht’s dir nicht gut?« Er spürt Frau Novaks Hand auf seinem Oberarm. Ihr besorgter Blick tastet sein Gesicht ab.

»Nein, nein, es ist nichts.« Markus stürmt Richtung Wohnung. Er schämt sich.

Bernhard Färber hat seine zwei Zimmer möbliert gemietet. Der zweite Stock ist ruhig – eine alte Dame, die er hin und wieder am Fenster sieht, und nebenan wohnt ein Mädchen, das oft erst morgens heimkommt und manchmal ziemlich laute Musik hört. Es stört ihn nicht. Die dritte Wohnung dürfte vermietet sein, die Bewohner kennt er nicht. ­Bernhard hat sich eingerichtet, seine Sachen eingeräumt. Es ist nicht für lange. In zwei, drei Jahren wird er nicht mehr hier sein. Es lässt sich nicht vermeiden.

Die Wohnung ist fast fertig, nur noch die beiden Bilder – und dann merkt er, dass er hier mit einem Hammer und Nägeln nicht weiterkommt. Es ist ärgerlich, aber es macht ihn nervös, dass er damit bis morgen warten soll. Die Geschäfte haben schon zu. Er will, bevor er schlafen geht, alles an seinem Platz haben.

Die Bilder lehnen am Sofa. Kandinsky hat nie verstanden, warum einer an zwei halbfertigen Bildern dermaßen Gefallen finden konnte, dass er drei Monatseinkommen dafür ausgab, in einer Zeit, als keiner von ihnen es sich leisten konnte, besonders großzügig zu sein. Ich male sie dir fertig, hatte Kandinsky gemeint und ihn mit zusammengekniffenen Augen gemustert, aber er wollte sie so haben – eine bloße Ahnung von dem, was in jedem der beiden Bilder steckte, was möglich war, werden konnte – und Kandinsky hatte ihn für verrückt gehalten. Er war nicht der Einzige.

Er klingelt bei seiner Nachbarin und sieht gleich, dass er sich das hätte sparen können. Das Mädchen mit den nackten Beinen und den Piercings im Ohr und in der linken Braue schaut nicht nach Heimwerkerin aus. Bei der alten Dame am anderen Ende des Ganges war er ebenfalls erfolglos gewesen. Aber die Nachbarin – ich heiße Mona – taucht mit dem Oberkörper in einen Karton im Eingangsbereich und fördert eine Bohrmaschine zutage. »Hab ich mir gleich gedacht. Mit Nägeln geht da gar nichts. Spachtelmasse? Hab ich auch. Meine Schwester hat ein Baumarktabo.« Sie grinst. Die Suche nach den Bohraufsätzen dauert etwas länger. Sie findet sie im Bad.

Bernhard bedankt sich. Er soll ihr die Sachen morgen einfach vor die Tür legen, meint sie. »In dem Haus kommt nichts weg. Und ich schlafe lang.« Bernhard hat nicht vor, nachbarschaftliche Kontakte zu pflegen. Das ist ihm so ganz recht. Er schätzt seine Unabhängigkeit, interessiert sich nicht für andere und möchte für sich bleiben.

Um sechs Uhr in der Früh ist er bereits am Laufen. Hinunter zum Donaukanal und dann, je nachdem, in den Prater oder Richtung Klosterneuburg. Bernhard ist schlank, aber muskulös, durchtrainiert. Er versteht nicht, dass jemand sich gehen lassen kann, keinen Wert auf Ernährung legt, keine Pläne hat, keine Ziele. Man kann alles erreichen, wenn man ein klares Ziel vor Augen hat, Visionen, und den festen Willen, sie umzusetzen. Man kann jedes begonnene Bild nach seinen Vorstellungen fertigmalen.

Kandinsky hat das ebenso wenig verstanden wie die anderen. »Aber man kann doch nicht alles planen, Bernd.« Kandinsky war richtig gut, aber haltlos. Er malte nach Lust und Laune. Er ließ sich treiben. Immer wieder Frauen, vor allem in der ersten Zeit. Eine neue Frau, und er meldete sich fünf, sechs Tage nicht, bis er sattgefickt war und schlapp. Keine Visionen mehr. Bernhard hatte sich abgewandt. Vanek und Ebner – keiner der beiden hatte die Kraft gehabt, eine Zeitlang seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und mit ihm das Projekt, das immer als vager Plan zwischen ihnen gestanden war, aufzugreifen und auszuarbeiten. Das erforderte vor allem Disziplin, klare Kalkulation und Weitsicht. Man musste eine Weile zurückstecken können und hart arbeiten. In ein, zwei Jahren wird er es geschafft haben. Die Wohnung hier ist eine Zwischenstation. Sie ist günstig gelegen und er braucht einen ruhigen Ort ohne Ablenkung. Zeit. Konzentration. Es kommt auf jede Kleinigkeit an.

Vanek war genial, auf seine Art. Kreativ, unkonventionell und wendig. Aber er soff. Ebner war groß, was Pläne betraf, weigerte sich aber, die mühsamen Recherchen zu Beginn auf sich zu nehmen, und Kolin, den er vom ersten Tag an gemocht hatte, weil er wie ein großer Bruder für ihn war, Kolin war nach Spanien gegangen, weil er hier für sich keine Zukunft gesehen hatte. Um Kolin tat es ihm leid. Kolin hatte ihm klargemacht, dass ein verpatzter Start nichts bedeutet und ein starker Wille alles. Er war entspannt, aber sofort wie unter Strom, wenn er eine Möglichkeit witterte, eine große Sache auf die Beine zu stellen. Kolin hatte ab sofort nur auf das eine Ziel hingearbeitet. Er war ein glänzender Analytiker – das fehlte Bernhard – und erfasste mit einem Blick die Chancen und Möglichkeiten, die eine Situa­tion bot.