Lichtschacht

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Sie atmete tief durch und wandte sich dem Verkaufstisch zu. Hingebungsvoll polierte sie die Tischfläche, die Fronten. Sah auf die Uhr und holte sich ein Glas Wasser. Es war schon fast elf. Wo bloß die Kunden blieben? Gestern zehn, am Tag davor gezählte acht – davon konnte doch kein Mensch leben! Wenn sie nicht bald mehr Umsatz machte, war sie ihren Job bestimmt schnell wieder los. Ihr Chef sah nicht wie ein Wohltäter aus.

Er hätte dich nicht eingestellt, wenn es sich für ihn nicht rentiert, versuchte sie sich zu beruhigen und nahm sich das Schaufenster vor. Die filigranen weißen Schalen, wie aus Tortenspitze geformt, hoben sich kaum vom Hintergrund ab. Sie nahm sie vorsichtig hoch und stellte sie zur Seite. Man musste sie mit kräftigen Farben ergänzen, sie aufleuchten lassen. Ob er es merken würde, wenn sie das eine oder andere neu arrangierte? Sie zögerte kurz, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen.

»Du hast echt einen Putzfimmel«, hatte Elias ihr mehr als einmal genervt vorgeworfen. Ihre Beziehung war letztendlich aber an seiner Unzuverlässigkeit gescheitert.

Lena richtete sich auf und sah nach draußen. Vor dem Shirtshop gegenüber probierte ein blasses Mädchen unter den kritischen Blicken ihrer Freundin mehrere Kleidungsstücke aus der Wühlkiste gleich auf der Straße an. Ein Herr mit markantem Profil verhielt den Schritt und schaute interessiert zu, wie beim Ausziehen eines Tops ihr dünner Pulli mit hochrutschte und sie mit nacktem Bauch dastand, bis die Freundin ihr lachend zu Hilfe kam. Lena zog die Brauen hoch und wandte sich ab.

||

Er rief sie am späten Nachmittag an. Sie meldete sich nach dem ersten Läuten. Sie verabredeten sich für den Abend beim neuen Italiener in der Nähe ihres Arbeitsplatzes.

Er war etwas zu spät dran, sie erwartete ihn bereits. Kein Lächeln, als er auf sie zueilte. Er beugte sich zu ihr hinab. Sie hielt ihm ihre Wange hin. Sie verfehlten sich, ihre Jochbeine schlugen gegeneinander.

»Entschuldige«, murmelte sie und rieb sich mit der Hand die schmerzende Stelle.

Er setzte sich und nahm ihr die Karte aus der Hand. »Was trinkst du?« Sie zuckte die Schultern. Er bestellte eine Flasche ihres Lieblingsweins. Und Pasta. Sie rollte währenddessen ihre Stoffserviette zusammen und wieder auseinander, zusammen und wieder auseinander. Es machte ihn nervös. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie trug immer noch den Ring.

»Ich muss die ganze Zeit daran denken«, flüsterte sie. »Dass sie da liegt. Seit gestern Abend. Die ganze Nacht lang. Und einen ganzen Tag. Im engen Lichtschacht. Mit zerschmetterten Knochen. Vielleicht, vielleicht … lebt sie ja noch –« Ihre Stimme versagte. »Man kann sie doch nicht so liegen lassen!«, krächzte sie. »Wir müssen etwas tun.« Sie entzog ihm ihre Hand und massierte sich den Ringfinger.

»Ich hab dir doch gesagt: Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.«

»Sie kann doch da nicht liegen bleiben. Der Gedanke macht mich verrückt. Da … ist sicher alles voller Taubenscheiße«, sie wurde lauter, »da sind bestimmt Ratten!«

»Bitte!«, unterbrach er sie energisch.

»Ich verstehe nicht, dass wir einfach gegangen sind.« Sie sah auf. Ihr Blick flackerte. »Du hast doch die Schlüssel. Es gibt sicher einen Zugang zum Lichthof. Wir holen sie da raus. Rufen die Polizei, was weiß ich … Wir können doch nicht einfach … «

Er schnellte vor und packte sie am Arm. »Halt den Mund, verdammt«, zischte er. »Das ist kein Grund, hysterisch zu werden. Willst du, dass jemand Verdacht schöpft? Ja? Ja? Willst du das?«

Sie versuchte erfolglos, ihm ihren Arm zu entwinden. Angstgeweitete Augen.

»Wir müssen uns genau überlegen, wie wir vorgehen. Wir waren uns doch einig … «, sagte er leise. Nun hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Sie stöhnte. Er löste den Griff. Schlagartig veränderte sich ihr Blick. »Ich verstehe dich nicht«, murmelte sie. »Du klingst, als wäre nichts. So distanziert. So kühl.« Sie rückte ein Stück von ihm ab. Griff nach ihrem Glas, nahm hastig einen Schluck.

»Verdammt, was erwartest du?«, fuhr er sie erneut an. Sie zuckte zusammen. Er lehnte sich zurück und fixierte sie.

Ihr Atem ging schnell. Sie klammerte sich an ihrem Weinglas fest. »Entschuldige. Entschuldige bitte. Du hast recht. Ich rede die ganze Zeit nur von mir, und du … du … « Sie geriet ins Stocken.

Er half ihr nicht. Er sah dem Kellner zu, wie er Gläser polierte und gegen das Licht hielt. Es waren nur wenige Gäste da. In der Nische vorne beim Eingang erregte ein ungleiches Paar seine Aufmerksamkeit. Der Mann mit Schmerbauch und Maßsakko war wesentlich älter als die Frau. Er konnte seine Hände nicht von ihr lassen. Sie lächelte nachsichtig, ein wenig verächtlich, wie ihm schien, und legte die linke Hand auf den Arm ihres Begleiters. Sofort verflocht der seine Finger mit ihren. Sie griff nach ihrem Glas, drehte es geziert, nahm einen Schluck und sah zu ihm herüber. Ihre Blicke trafen sich. Er senkte den Kopf und fixierte sie aus halb geschlossenen Augen, lächelte und wandte sich um. Mit Geld, dachte er, kannst du jede haben. Er schenkte sich Wein nach, trank und stellte das Glas wieder ab.

Ihre Hand kroch näher. Sag was, dachte er. Mach endlich den Mund auf.

»Du hast deine … Freundin verloren«, flüsterte sie schließlich kaum hörbar.

»Ich will jetzt nicht daran denken«, unterbrach er sie schroff.

Sie nickte. Wagte es nicht, seine Hand zu nehmen. Sie starrte vor sich auf den Tisch. »Es war nicht meine Schuld«, sagte sie leise. »Ich war nicht betrunken. Ich erinnere mich an alles.«

»Ich weiß«, bestätigte er sanft. »Hör auf, dich zu quälen. Sie –«, er machte eine längere Pause, ließ seinen Blick erneut durch das Lokal schweifen und seufzte, »Kathrin hat mehrere Gläser gekippt. Mehr als ihr guttat. Die war ziemlich angesäuselt. Ist ausgerutscht … ein Unfall.«

»Ich habe –«, sie schien mit sich zu ringen, »sie nicht besonders gemocht.«

»Ich weiß. Es war nicht zu übersehen«, sagte er knapp.

Sie riss die Augen auf. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, das Kinn bebte. Nun heulte sie. Er legte seine Hand auf ihren Unterarm, während der Kellner an den Tisch trat, den Wein einschenkte und sich bemühte, ihre Tränen zu übersehen.

Er hob sein Glas. Sie reagierte nicht. Er trank. Die Pasta kam.

»Ein Unfall, ja«, schniefte sie. »Ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie nicht gestoßen. Du musst mir glauben, dass ich … ich bin nicht eifersüchtig, das weißt du doch.« Er reichte ihr ein Taschentuch, was eine neuerliche Sturzflut auslöste.

»Bitte beruhige dich.« Er nahm einen Schluck Wein. »Tut mir leid«, sagte er, »ich sterbe vor Hunger. Wir brauchen jetzt einen klaren Kopf. Es hilft niemandem, wenn … es hilft ihr nicht mehr … «

Sie nickte, immer noch um Fassung ringend, und stocherte in ihrer Pasta. »Aber warum gehen wir nicht einfach zur Polizei? Wir erklären, was vorgefallen ist … «

»Einen ganzen Tag später? Was wird passieren, was meinst du?« Er sah sie eindringlich an.

»Wir werden erzählen, wie es war … «

»Ein Mann und seine Ex kommen aufs Kommissariat und geben an, dass sie gestern mit der neuen Freundin des Mannes auf ein Dach geklettert sind, dort getrunken haben und die Neue dann, einfach so, in den Lichtschacht gefallen ist.«

Der Kellner näherte sich. »Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte er mit besorgtem Stirnrunzeln.

Sie zögerte.

Respekt. Der Mann war ein guter Schauspieler! Er lächelte ihn an. »Es ist ausgezeichnet. Meine Bekannte ist ein bisschen«, er zögerte, »indisponiert.«

Er orderte einen Espresso, sie hielt sich an den Wein.

»Die zwei haben nichts unternommen, nicht nachgesehen. Keine Hilfe geholt. Weder die Rettung gerufen noch die Polizei. Sie haben eine Nacht darüber geschlafen, eine zweite, und – dir ist klar, dass wir in der Sekunde beide verdächtig sind?«

»Wir … wir können das doch erklären … «, stieß sie hervor.

»Erklären, erklären!«, fuhr er sie an. »Kapierst du das denn nicht?« Er legte die Gabel am Tellerrand ab. »Warum kommen wir zwei Tage später, hm? Wir haben mögliche Beweise beiseitegeschafft, uns abgesprochen, wer was sagt. Sie werden annehmen, dass … «

Sie war blass geworden. »Es war deine Idee«, sagte sie tonlos. »Ich wollte sofort … « Sie brach ab, griff nach dem Wein, trank hastig einen großen Schluck und bekam einen Hustenanfall. Er klopfte ihr auf den Rücken. Sie keuchte. Ihr Gesicht glühte, die Augen tränten. Sie sah erbärmlich aus.

Er nahm die Gabel wieder auf.

»In dem Zustand, in dem du gestern Abend warst, hätte man dich dort behalten«, sagte er nach einer Weile. »Und auseinandergenommen, bis du ein Geständnis ablegst. Du warst alkoholisiert. Unter Schock, hast gezittert. Du warst nahe am Durchdrehen. Wenn ich dir nicht etwas zur Beruhigung, zum Schlafen, gegeben hätte … «

Sie starrte ihn an. Er schob seinen leeren Teller zur Seite. Sie hatte nichts gegessen, die Nudeln mit den Meeresfrüchten verrührt, sie hin und her geschoben. Nun legte sie ihre Gabel weg und knüllte die Serviette zusammen.

Der Kellner brachte den Espresso. Er wartete, bis er außer Hörweite war. Rückte näher und nahm ihre Hand. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagte er mit Wärme in der Stimme. »Ich will nicht, dass du im Gefängnis landest. Nach allem, was war.«

Sie neigte den Kopf ein wenig, verharrte eine Weile und legte ihn dann auf seine Schulter.

Er strich ihr übers Haar. Zwei, drei Minuten vergingen. Dann löste sie sich von ihm.

»Sie war deine Freundin! Man wird dir glauben … « Ihre Stimme klang jetzt gefasst, ja zuversichtlich.

»Denk nicht, dass mir das alles leichtfällt«, unterbrach er sie. »Kathrin ist tot.« Er biss sich auf die Lippen. Schwieg. Sie wurde unruhig. Räusperte sich. Schluckte. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Ich will nicht auch noch durch die Polizeimühle gedreht werden«, fuhr er fort. »Für dich lügen, mich sorgen müssen, weil du dich in deiner Panik in eine Situation manövrierst, aus der du nicht mehr herauskommst. Alles spricht gegen dich: Natürlich werden sie Eifersucht als Motiv annehmen! Wir sind ja noch nicht so lange getrennt. Kathrin ist … war jünger als du. Du hast ein bisschen … nun … überreagiert in den ersten Wochen … Wenn sie Freunde und Bekannte befragen … «

 

»Was hat das denn damit zu tun? Ich wollte dich … es ist doch normal, dass man um eine Beziehung, um jemanden, den man liebt, kämpft. Ich dachte –« Sie stockte.

»Genau! Und damit lieferst du ihnen das Motiv auf einem Silbertablett. – Verstehst du jetzt, was ich meine?«

»Ja«, sagte sie tonlos. »Ja, ich verstehe.«

||

Lena hatte geputzt, Kunden bedient und schließlich auch noch einen Teil des Lagers aufgeräumt. Sie hatte den ganzen Tag nicht mehr daran gedacht, aber jetzt, als sie die Wohnungstüre aufschloss, ging ihr erster Blick zum Fenster. Die Dächer lagen in der Abendsonne. Das sanfte Licht wirkte wie ein Weichzeichner.

In der kurzen Mittagspause hatte sie im Kaffeehaus hastig die Zeitungen durchgeblättert und keinen Hinweis gefunden. Aber – nach einem Tag konnte man noch gar nichts sagen. Wenn einer vermisst wurde, wenn jemand eine Leiche fand, dauerte es wohl seine Zeit, bis die Zeitungen darüber berichteten. Sie hatte nie darüber nachgedacht.

Sie schlüpfte aus den Schuhen, dann aus ihren Kleidern. Ließ die Badewanne volllaufen, träufelte etwas Mandelöl ins Wasser und tauchte bis zum Kinn unter. Versuchte sich zu entspannen, schloss die Augen und riss sie gleich wieder auf. Sie schnupperte, bewegte ihre Hände, sah ihren Körper zerfließen und wieder ganz werden und versuchte, an nichts zu denken.

Wie das wohl war, wenn man plötzlich das Gleichgewicht verlor, stürzte, fiel? Aus großer Höhe. Begriff man in diesem Augenblick, was geschah? Dass man sterben wird. Schrie man? Verlor man die Stimme, den Verstand, während man auf den Boden zuraste und aufschlug? Spürte man den Aufprall? Einen Schlag? Wie innen alles kaputtging, die Lunge zerriss und in sich zusammenfiel, die Haut aufplatzte und die Knochen brachen? Man konnte wohl nichts mehr denken … Was, wenn man am Ende, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, noch am Leben war? Zwischen den Müllcontainern auf dem Betonboden lag, mit zerschlagenem Schädel, im eigenen Blut, halb betäubt und wimmernd vor Schmerzen – und niemand kam?

Sie rutschte zur Seite und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Gesetzt den Fall, ihr, Lena, würde etwas zustoßen: Wie lange würde es dauern, bis jemand sie vermissen, nach ihr suchen würde?

In den beiden Wohnungen, die sie hütete, würden die Pflanzen verdorren. Die Katzen verhungern. Verdursten. Nein, da stand Gießwasser. Im Regal eine halbvolle Packung mit Trockenfutter. Und Katzen waren klug.

Lena sah drei großäugige klapperdürre Gerippe durch eine weitläufige Altbauwohnung staksen. Hörte das Tippen ihrer viel zu langen Krallen auf dem Parkett. Langgezogene Schreie, die ihr durch Mark und Bein gingen. Über allem lag der scharfe Geruch von Katzenpisse und Kot.

Die Leute fuhren weg und übergaben fremden Menschen, von denen sie kaum den Namen kannten, Wohnung und Tiere zur Pflege und verließen sich darauf, beides wohlbehalten vorzufinden, wenn sie gebräunt und übermüdet – mit quengelnden Kindern an der Hand und Trolleys voller Schmutzwäsche – wieder vor der Tür standen.

Sie würden den Schaden begutachten, den Dreck, die toten Pflanzen. Würden anrufen, aufgebracht, erzürnt, zunehmend wütender, während das Läuten in einer leeren Wohnung ein paar Bezirke weiter verhallte. Oder in einem Hinterhof, dachte sie.

Keine Adresse, kein Familienname. Eine Empfehlung genügte im Allgemeinen, um Zugang zur Wohnung, zum Leben anderer zu bekommen. Ein Vorname, eine Handynummer. Ein kurzes Gespräch.

»Lena. Eine Abkürzung, oder? Wie heißt du mit ganzem Namen? Magdalena?«

»Milena.«

Er wirkt überrascht. »Woher kommst du?«

»Aus Salzburg.«

»Nein, ich meine … « Er verheddert sich. »Deine Familie.«

»Aus Salzburg.«

Wären die Schorns besorgt, wenn sie verschwinden würde? Oder voller Zorn? Würden sie nachsehen, die Nachbarn fragen oder es nach ein paar erfolglosen Anrufen dabei bewenden lassen und die Schlösser austauschen?

Und Wolfgang?

»Ich hatte Pech mit meiner letzten Aushilfe. Ja, wenige Tage nach dem ersten Lohn war sie weg. Hat mich im Regen stehen lassen, mitten in der Urlaubszeit, stellt euch vor! Wenigstens hat sie den Schorns nicht die Wohnung ausgeräumt. Sehr unangenehm, das. Nun, man kann in niemanden hineinschauen. Und im Allgemeinen sind sie ja zuverlässig.«

So in etwa? Nein, sie tat ihm unrecht. Er würde sich Sorgen machen. Nachsehen. Bestimmt. Sie öffnete das Ablaufventil, stieg aus der Wanne, rubbelte sich trocken und hüllte sich in ein großes Badetuch.

Wer blieb sonst? Steffi war noch gut ein halbes Jahr unterwegs. Mit Elias herrschte seit zwei Wochen endgültig Funkstille. Erst verletzt, dann zornig hatte sie die Handynummer gewechselt, auf Facebook ihren Status geändert und zwei Tage später den Account stillgelegt. Von den anderen, die sie zurückgelassen hatte, würde sich niemand wundern, wenn sie eine Zeitlang nichts von sich hören ließ. Ihre Freundinnen – zum Großteil frühere Kolleginnen – und die wenigen Freunde waren während ihrer Beziehung mit Elias nach und nach verlorengegangen.

Hier, in Wien, kannte sie noch niemanden. Die Nachbarin rechts – Mittelalter, Hüftleiden – bekam kaum die Lippen auseinander, um »guten Morgen« zu wünschen. In der Wohnung links hörte Lena fallweise jemanden gehen oder ein Fenster zuschlagen. Oft brannte die halbe Nacht Licht. Wer immer dort lebte, schlief noch, wenn sie das Haus verließ, und machte die Nacht zum Tage. Im Lift Zufallsbegegnungen, die sie nicht zuordnen konnte.

Du bist das perfekte Opfer! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.

Hatte sie eigentlich abgeschlossen? Die Sicherheitstür hatte außen einen Knauf. Trotzdem … Sie raffte das Badetuch zusammen, lief barfuß durch den Flur.

Prallte zurück: Die Klingel! Jemand war an der Tür. Sie verharrte, nur durch das Türblatt vom Unbekannten getrennt, und wagte kaum zu atmen. Ihr Puls flog. Es musste bereits acht, halb neun sein. Wieder schrillte die Glocke. Nachdrücklich. Fordernd. Ein Fremder, ganz sicher! Mit der ganzen Hand auf der Klingel – so läutete kein Nachbar. Wie war er ins Haus gekommen? Sie beschloss, sich totzustellen. Sie kannte hier niemanden. Ein Notfall? Feuer? Sie schnupperte: Nein. Überlegte, durch den Spion zu schauen, und verwarf den Gedanken sofort. Damit war klar, dass jemand zu Hause war! Sie sah sich selber: halbnackt im Flur, hektisch um sich blickend, das feuchte Badetuch über der Brust gerafft. Die Klingel gellte in ihren Ohren.

Sie machte kehrt und floh ins Wohnzimmer. Auf Zehenspitzen, wie sie grimmig feststellte. Sie schlich durch ihre Wohnung, nur, weil jemand an der Tür war! Anläutete. Sie löschte das Licht.

Plötzlich war es still. Sie wartete. Der Unbekannte hatte aufgegeben. Sie tappte zum Fenster und spähte auf die Straße. Hob zögernd den Blick. Natürlich war niemand auf dem Dach! Sie behielt den Gehsteig vor dem Haus im Auge.

Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte man so himmelschreiend blöd sein, sich ohne Not eine Paranoia anzuzüchten! Irgendein Zeug zu rauchen, sich den Kopf zu vernebeln, weil man sich nach knapp zwei Wochen beinahe allabendlichem Putzen, Waschen und Aufräumen in der nun wieder ordentlichen Steffi-Wohnung, in der neuen Stadt, plötzlich sehr allein gefühlt hatte. Weil kein Wein mehr da war. Weil man sich nicht aufraffen konnte, irgendwohin zu gehen. In ein Lokal. Sich an eine Theke zu stellen. Jemanden anzureden.

Es konnte dieser Mann da gewesen sein. Er war dunkel gekleidet und trug eine Umhängetasche. Er verlangsamte den Schritt, zögerte, wandte sich dann um und schaute zu ihren Fenstern herauf. Sie ging in Deckung. Als sie wieder auftauchte, war er verschwunden. Oder dieses Paar, die Frau … nein – die hatte kürzere Haare. Nein, der da! Es war hoffnungslos. Hirngespinste. Die Straßenlampen gingen an. Ein Pizzazusteller fuhr vorbei. Lena legte sich auf das Sofa und starrte ins Dunkel.

»Mörder!« Sie erwachte mit einem Schrei. Wo war sie? Der Raum war in rötliches Licht getaucht. Um sie zerknüllte Kissen. Sie selber halb nackt, bis zur Hüfte in ein Badetuch gewickelt. Sie hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht! Ihre Füße tasteten über den rauen Stoffbezug. Ihr Herz schlug wie wild, der Mund war ausgedörrt, der Hals brannte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff: ein Traum. Sie hatte nur geträumt!

Der Mann zwingt sie zu springen, und obwohl die Aussichtsplattform gut besucht ist, greift niemand ein. Zwei Paare stehen eng umschlungen und küssen sich, Kinder wirbeln wie wild gewordene Kreisel zwischen den Erwachsenen herum und spielen Fangen. Direkt neben ihr hantiert ein dicker Mann gelassen mit einem imposanten Teleobjektiv, während ihr Mörder, der kein Gesicht hat, näher rückt und sie an den brüchigen, ungesicherten Rand drängt: »Spring!«

Rostige Eisenteile ragen ins Leere. Sie sieht sich – plötzlich von außen – an einem Balken hängen bleiben, über dem Abgrund baumeln wie in einem Horrorfilm. Sieht Straßen, Autos, Menschen unter sich, bevor ihr Blick verschwimmt. Ein Dröhnen in den Ohren, sie hofft, ohnmächtig zu werden, spürt, wie der Stoff reißt. Dann fällt sie – und schreit. Schreit.

Sie träumte sonst nie. Legte sich abends hin und schlief wie ein Stein. Sprang morgens vergnügt aus dem Bett. Alles war durcheinander. Sie musste es wieder in den Griff kriegen, etwas dagegen tun.

Nun stieg langsam die Sonne empor. Der beeindruckende Scherenschnitt einer Dachlandschaft mit Kränen vor flammendem Rot. Sie wickelte sich in das Badetuch und ging zum Fenster. Schaute auf die stille Straße hinunter.

Sie war ständig allein. Kein Wunder, dass das ganze Zeug in ihren Schlaf kroch und sie verrückt machte. Ich sollte endlich ausgehen, Leute kennenlernen. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt.

Sie lief hinunter und holte die Zeitungen. »Alle drei?«, fragte der Trafikant. Sie nickte. Kaufte in der kleinen Bäckerei nebenan Milch und ein Brioche, machte Kaffee und setzte sich an den Tisch am Fenster.

Die Sonne streichelte ihren linken Oberarm, wanderte langsam über die Schulter und legte sich auf ihren Nacken. Diese Wohnung war ein Glücksgriff, ihr ganz persönlicher Lottogewinn. Lena kaute, genoss die Wärme und sog den Kaffeeduft ein, nahm hin und wieder einen Schluck, während sie akribisch Seite um Seite die Zeitungen durchsah und nach einer Toten fahndete, von der sie hoffte, dass es sie nicht gab.

»Leiche gefunden.« Ihr Herzschlag setzte aus. »Tote lag tagelang in Wohnung. Keiner der Nachbarn hat etwas bemerkt.« Porzellan klirrte auf Porzellan, der Kaffee ergoss sich über die Seiten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Die Frau war alt, der Fundort eine Villenetage im Botschaftsviertel.

Wenn das so weiterging, war sie über kurz oder lang ein Nervenbündel. Niemand hat gemordet. Es gibt keine Tote. Alles wird gut. Es war, als würde man sich selber in den Arm nehmen. Durch einen finsteren Wald stolpern und sich lautstark versichern, dass man keine Angst zu haben brauchte. Ungeheuer gibt es nicht!

Sie fuhr ihr Notebook hoch, löschte eine Menge Spam und schickte eine E-Mail an Steffi:

geht’s dir gut, gibt’s schon fotos? die vernichtung der beweismittel ist abgeschlossen.;-) die belohnung hatte es in sich.:-*, lena

Dann klappte sie den Laptop zu, knüllte die nasse Zeitung zusammen und stellte ihre Tasse in den Geschirrspüler. Sie brachte den Müll hinunter, bezog das Bett neu und startete eine Waschmaschine. Um halb elf verließ sie das Haus.

Sie hatte Steffi erst vor kurzem wiedergetroffen. An einem trüben, regnerischen Tag Anfang März standen sie einander plötzlich an einem der Wühltische im Großkaufhaus gegenüber.

»Steffi?«

Es war nicht zu fassen: Ihre Bekannte schob langsam, ohne sich im Geringsten um ihre Umgebung zu kümmern, ein cremefarbenes Spitzenhemdchen in die Innentasche ihrer Jacke und zog seelenruhig den Zipp zu. Sie stutzte, riss die Augen auf, strahlte sie an und fiel ihr um den Hals.

 

»Hey, was machst du denn hier? Wie geht’s dir? Seit wann bist du in Wien?« Sie duftete nach einem teuren Parfum. »Ich freu mich so, dich zu sehen. Du bist nicht mehr mit Elias zusammen, hab ich gehört? Das war immer cool mit euch beiden.«

»Ich arbeite hier«, sagte Lena hölzern und sah sich hektisch um. Die war verrückt. Überall waren Kameras installiert. Gleich würden der Detektiv oder Frau Schauer, die sich einen Sport daraus machte, Ladendiebe zu jagen, neben ihnen auftauchen und die Polizei rufen. Und dann? Oh nein, man wird uns für Komplizinnen halten! Sie konnte unmöglich da stehen bleiben.

»Ich dachte, du arbeitest im Spital?« Steffi hatte die Ruhe weg. Sie zog ein Spitzenhöschen aus dem Wäschehaufen und hielt es prüfend hoch. »Hübsch, oder?«

»Lass das. Hier sind überall Kameras.«

»Komm, entspann dich.« Steffi warf das Spitzending achtlos zurück. »Ein bisschen Nervenkitzel, ich brauch das. Mich erwischt schon keiner.«

»Kommst du öfter her? Wie lange machst du das jetzt schon?«

»Willst du den Detektiv auf mich hetzen?« Steffi lachte. »Ich bin das erste Mal hier, Lena, ich schwör’s. Wollte nur einmal schauen … Lena, was ist denn? Hey, tut mir leid.« Sie legte ihr den Arm auf die Schulter. »Ich … es ist wie ein Spiel, weißt du. Ein Kick. Stöbern. Shoppen. Hin und wieder was mitgehen lassen.«

»Du bist noch nie erwischt worden?«

»Einmal, vor einem halben Jahr. Zu Hause. War ziemlich peinlich. Die Sache wurde aber außergerichtlich geregelt. Mein Vater hat sich darum gekümmert. Du weißt ja, er kennt Gott und die Welt. Und du? Seit wann bist du in Wien? Wo wohnst du? Du lieber Himmel, ist das schade, dass wir uns erst jetzt treffen. Es ist unglaublich öd, allein wegzugehen. Mein ganzer Freundeskreis ist ja in Salzburg. Wir hätten … «

»Frau Lena, Sie können jetzt in die Pause gehen! Dreißig Minuten.«

Sie fuhr herum. Die Schauer! »Danke«, stammelte sie und hielt die Luft an. Jetzt! Aber ihre Chefin eilte weiter.

Steffi redete immer noch auf sie ein: »Meine Eltern haben mich zu einer Reise überredet. Ich fliege Anfang April. Ja, allein. Sag, Lena, hast du Lust auf einen Kaffee?«

»Nein, ich … okay«, sagte Lena matt. »In zehn Minuten. Gegenüber. Ich muss mich noch umziehen.« Sie wollte nicht dabei sein, wenn man Steffi ins Büro bat und höflich ersuchte, ihre Tasche zu öffnen und die Jacke auszuziehen.

Nichts dergleichen geschah. Als sie das Café betrat, saß ihre Bekannte bereits vor einem Latte und winkte ihr fröhlich zu. »Ich hab schon bestellt. Melange, oder?« Lena nickte.

Da hatte sie zum ersten Mal von der Wohnung gehört.

»Die steht leer, während ich weg bin. Meine Eltern wollen bei Gelegenheit nach dem Rechten sehen. Ich muss noch aufräumen, die trifft sonst der Schlag. – Ein paar Monate, halbes Jahr ungefähr, vielleicht länger. Mal sehen. Mein Vater hofft, dass ich danach weiß, was ich will. Also beruflich. Und dass ich die Sache da«, sie klopfte auf ihre Jacke, die neben ihr auf der Sitzbank lag, »in den Griff kriege. Wenn du magst, wenn dich das Chaos nicht stört, kannst du einziehen. Ja, sicher. Das ist es!«, rief Steffi enthusiastisch. »Dann spare ich mir den Stress mit den Eltern. Ich bin mitten in den Reisevorbereitungen. Momentan sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. – Die Wohnung gehört mir«, nahm Steffi ihren Einwand vorweg. »Du zahlst die Betriebskosten weiter. Machst ein bisschen sauber. Räumst auf. Wenn dir irgendwas von meinen Klamotten gefällt«, sie lachte und zwinkerte Lena zu, »bedien dich. Ich mach mir nichts aus dem Zeug. Komm, Lena, komm, sag ja.«

Nach kurzem Zögern schlug sie ein.

Lena trödelte und blinzelte ins Helle. Sie hatte noch Zeit. Sollte sie gleich hingehen? Nachsehen? Sich überzeugen, dass alles in Ordnung war. Kein Mord. Kein Unfall. Keine Tote im Hof.

Ein bisschen Detektivarbeit. Vielleicht war die Tür ja diesmal offen? Sie konnte hineinschlüpfen, wenn jemand das Haus verließ. Sie wechselte die Straßenseite. Sie würde klingeln. Ich muss etwas abgeben. Die Postkästen kontrollieren. Ob einer überquoll. In den Hof gehen. Sich vergewissern, dass nichts geschehen war, und dann mit dem Thema abschließen. Bei Tag war alles plötzlich ganz einfach.

Sie hörte Schritte hinter sich und trat zur Seite.

»Hab ich dich!« Der Aufprall warf sie fast um. Sie schrie auf, ihre Knie gaben nach. Ein Überfall!

Sie klammerte sich an ihre Tasche, stolperte und versuchte sich loszureißen. Rammte ihre Ellbogen nach hinten. Trat nach dem Angreifer. Ein Aufschrei. Sie kam frei. Hörte ihn keuchen. Wirbelte herum und ging auf Abstand. Ihr Herz schlug wie wild.

Der Mann presste seine Hand gegen den Magen und atmete schwer. Er war unbewaffnet. »Entschuldigen Sie«, stammelte er und wich zurück. »Eine Verwechslung. Ich habe Sie verwechselt. Ich wollte Sie nicht – erschrecken.«

»Was willst du? Bist du verrückt?«, schrie sie ihn an. Er war kaum älter als sie. Durchschnitt, mittelgroß.

Der auf dem Dach, dachte sie plötzlich in Panik, wie sah der aus?

Es konnte hinkommen. Er hatte sie gefunden! Ich muss auf mich aufmerksam machen. Schreien! Sie blickte gehetzt um sich und brachte keinen Ton heraus. Er wird es nicht wagen! Sie bekam kaum noch Luft. Da waren Menschen. Man wird mir helfen! Bestimmt. Eine rundliche Frau auf der anderen Straßenseite blieb stehen, sah zu ihnen herüber und ging dann weiter. Ein Mann mit Kinderwagen und einem widerstrebenden Kleinkind an der Hand überholte sie. Rundherum Leute. Alles wie immer.

Nun war sie sich nicht mehr sicher: Der Radfahrer von gestern? Nein, der hier war breiter gebaut. Er trat von einem Bein aufs andere, schien unschlüssig, kam dann näher.

»Was soll das?«, pfauchte sie, immer noch aufgewühlt. »Willst du mich umbringen?«

»Nein. Wär schade um dich.« Ein impertinentes Grinsen. Sie holte aus. Der Schlag saß. Aber der Typ war hart im Nehmen: »Okay, das war jetzt der Ausgleich.« Und nach einer Pause: »Machst du Kampfsport oder so was?« Er rieb sich die Wange.

»Kann ich Ihnen helfen?« Plötzlich stand die Frau von vorhin da. Sie musterte Lenas Gegenüber besorgt und fummelte hektisch an ihrem Handy herum. Dabei behielt sie sie ängstlich im Blick.

»Sehr nett von Ihnen«, bedankte sich der Mann. »Aber – das war bloß eine Trainingseinheit. Wir üben Stunts«, er zwinkerte Lena zu, »für den Film.« Der war nicht bei Trost!

»Ach so.« Die Frau grinste unsicher, lächelte ihn dann an und steckte ihr Handy weg. Gleich würde sie ihn nach einem Autogramm fragen.

»Ich weiß – schaut verdammt echt aus. Jedenfalls cool, dass Sie eingreifen. Das trauen sich die wenigsten.«

Jetzt strahlte sie.

Lena drehte sich um und ging.

Sofort war er wieder neben ihr. »Du kannst nicht einfach so weggehen.«

»Und ob ich kann. Hau ab.« Sie wurde schneller.

Er blieb an ihrer Seite. »Ich hab dich vor einer Anzeige bewahrt. Körperverletzung. Die Frau war wild entschlossen … « Er wies auf seine Wange. Der Abdruck ihrer Hand war noch gut zu sehen.

»Und der Überfall?« Lena blieb abrupt stehen. »Wie willst du das erklären, hm?«

»Herr Inspektor, sie hat mir gefallen … « Ein breites Grinsen.

»Idiot!«

»Ich heiße Georg.« Er hielt ihr die Hand hin.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was willst du: Soll ich auf die Knie fallen und um Vergebung bitten? Ich mach’s.« Er legte die Hand aufs Herz.

Nur das nicht! Der war dazu imstande. »Lena«, sagte sie widerstrebend.

»Lena, du bist nachtragend.«

»Nicht nur Stuntman. Sondern auch noch Psychologe. Respekt.«

»Ich arbeite in einer Bank. Ist nicht besonders aufregend. Ich wohne da vorne. Ich kann dir gern Führerschein, Meldezettel und Gehaltsnachweis vorlegen.«

»Führerschein genügt fürs Erste.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er nach seiner Brieftasche und hielt ihr das Dokument hin. Georg Neudeck, zwei Jahre älter als sie, hatte den Schein wie sie mit achtzehn gemacht.