Lichtschacht

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»Hast du ein Motorrad?«

»Willst du einmal mitfahren?«

»Sicher nicht!«, pfauchte sie. Sie drehte sich um und trabte los.

Die nächsten Tage verliefen eintönig. Lenas Gedanken kreisten um das Haus, die drei auf dem Dach. Sie putzte die Fenster, kaufte Kleiderbügel und brachte Ordnung in Steffis begehbaren Schrank. Immer wieder fand sie Wäsche, an der noch das Preisschild hing, ungetragene Pullover und Modeschmuck, Sonnenbrillen und zahllose Lippenstifte, die sie nach Farben ordnete. Sie las aufmerksam die Zeitungen. Fand keinen Hinweis und kam dennoch nicht zur Ruhe. Sie stand gegen sieben auf, fütterte auf dem Weg zur Arbeit den phlegmatischen Kater der Schorns, wässerte gewissenhaft die großen Grünpflanzen im Haus und auf der Terrasse, immer in Sorge, eine zu übersehen, und fuhr am Abend in die andere, etwas weiter entfernte Wohnung. Hier waren drei Katzen zu versorgen. Sobald sie die Tür aufschloss, drängten sie sich an sie, strichen um ihre Beine und sprangen jammernd an ihr hoch. Nur mit Mühe gelang es ihr, die frisch gefüllten Schüsseln unfallfrei zum Futterplatz zu bringen. Während die Tiere mit vorgereckten Hälsen hastig schlangen, ging Lena durch die Räume der abgelebten Altbauwohnung und entfernte mit angehaltenem Atem ihre Hinterlassenschaften.

Auf dem Rückweg spähte sie zum Haus hinüber und versuchte es noch einmal. Die Eingangstüre war verschlossen. Sie wartete eine Weile. Keiner verließ das Gebäude, niemand kam.

Gegen halb neun war sie wieder zu Hause. Reinigte das verstopfte Waschbecken im Bad. Stand in der Küche und studierte die Kochanleitung eines Nudelgerichts auf der Rückseite der Packung. Sie aß lustlos vor dem Fernseher und spülte das Geschirr. Der Abend zog sich. Sie schaute lange aus dem Fenster. Zerteilte und aß einen Apfel. Klappte ihr Notebook auf und wenig später wieder zu. Legte sich aufs Sofa und starrte an die Decke. Hörte Musik. Sprang auf und ging ins Badezimmer. Überlegte, noch einmal aufzubrechen. Tanzen zu gehen. Oder ins Kino. Sie trödelte. Verlor sich dann im Internet und kroch lange nach Mitternacht völlig verspannt ins Bett.

Am zweiten Tag färbte sie sich die Haare. Tiefschwarz. Sie sah blass und fremd aus. Lustlos blätterte sie in einem der Modemagazine aus dem ordentlichen Stapel neben dem Sofa. Einem zweiten. Legte sie genervt beiseite. Ging ins Bad, wählte aus Steffis Lippenstiftsammlung mehrere aus und schnupperte daran. Sie trat ganz nahe zum Spiegel und malte sich den Mund rot. Es sah aus wie eine Wunde. Energisch wischte sie die Farbe wieder ab. Sie legte einen blassroten Stift auf die Ablage und die anderen zurück in die Lade. Dann schnitt sie sich Stirnfransen und besserte nach, bis sie schließlich zufrieden war.

Der Sonntag begann grau und verregnet. Sie erwachte früh und konnte nicht mehr einschlafen. Sie kochte Kaffee. Starrte hinaus in das Grau, schnitt sich ein Stück Brot ab und legte es wieder hin. Betrachtete sich lange im Spiegel, strich sich die noch ungewohnten Fransen aus der Stirn, verzog das Gesicht, nahm seitlich die Haare hoch und ließ sie wieder los. Gut, befand sie und stieg in die Dusche. Eine halbe Stunde später zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Sie musste raus! Spazieren gehen. Ins Kino, was auch immer. Dieses Herumlungern in der Wohnung macht mich noch verrückt.

Auf dem Fußabstreifer lag Werbematerial. Sie bückte sich danach. Unglaublich, wie oft jemand Prospekte, Zeitungen, irgendwelches Zeug in die Tür steckte oder davor ablegte. Eine Einladung für Einbrecher. Man sah sofort, schon nach wenigen Tagen: Hier war niemand zu Hause. Sie stutzte. Sie konnte nachsehen, ob das in einer der Dachgeschosswohnungen gegenüber der Fall war. Irgendwo klingeln. In den fünften Stock fahren. Feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Niemand gefallen war. Niemand ermordet.

Sie ging zum Lift und drückte den Knopf.

Die Tür zur Nachbarwohnung öffnete sich einen Spalt. »Waren Sie zufrieden?« Eine Frauenstimme mit leichtem Akzent.

»Ja, Sie machen das perfekt. Moment – vergessen Sie das Geld nicht.« Ein Mann. »Iveta?«

»Ja?«

Der Lift kam. Lena blockierte die Tür und wartete.

»Mein Angebot steht. Wenn Sie für mich arbeiten wollen … «

»Danke. Ich überlege es mir.« Die Frau schien es eilig zu haben. »Bis nächste Woche dann.«

»Überlegen Sie nicht zu lange.«

Leichte schnelle Schritte. Die Tür flog auf. Lena sah einen Mann in Shorts, um die vierzig mit rasierter Glatze und reichlich Muskeln. Er nickte ihr zu und musterte sie.

Sie grüßte ihn, ohne eine Miene zu verziehen, trat zur Seite und lächelte die Frau an. Sie war schön. Ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Mittelscheitel, die glatten blonden Haare nachlässig hochgesteckt.

Die Frau hielt den Blick gesenkt, während der Lift nach unten summte und schließlich mit einem Ruck stehen blieb. Sie wühlte in ihrer Tasche, zog ein Tuch hervor. Einen roten Schirm. Ihre Blicke trafen sich. Große blaue Augen. Ein scheues Lächeln. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.« Scheißkerl, dachte Lena und zog energisch den Zipp ihrer Regenjacke hoch.

Drei Tage später sah sie die Frau in der Fußgängerzone wieder. Sie schlüpfte direkt vor ihr aus dem Seiteneingang eines Nachtlokals, versperrte die Tür und hastete, ohne nach links oder rechts zu blicken, die Straße entlang. Ihre Schuhe klackten auf dem Asphalt. Sie hatte die Haare mit einer Spange hochgesteckt. Eine Strähne wippte bei jedem Schritt. Sie trug Jeans und eine große graue Tasche über der Schulter. Lena sah ihr nach, bis sie im Gewühl der angrenzenden Einkaufsstraße verschwand.

||

Er hatte ihr versprochen, sich darum zu kümmern. Die Tote wegzuschaffen. Er dachte gar nicht daran, aber sie hatte ihm wie immer geglaubt.

Es besteht keine Gefahr, dass jemand die Leiche findet, überlegte er. Kein Schwein zwängt sich ohne Grund durch das schmale Klofenster, um den Lichthof zu inspizieren. Wer da zu liegen kommt, bleibt liegen. Er würde also den Teufel tun.

»Ruf mich nicht an. Das ist riskant. Ich sag dir Bescheid, wenn alles erledigt ist.«

Sie dreht ihren Ring am Finger. Nickt. Er kann ihren Blick nicht deuten. »Wo bringst du sie hin?«

»In den Wald. Ich … «

Sie unterbricht ihn sofort. »Du darfst sie nicht einfach ablegen. Die Tiere … « Sie zögert. »Ein Grab«, stammelt sie. »Du wirst sie doch begraben?«

»Jaaa.«

»Versprich es mir.« Sie packt seine Hände. »Versprich …!«

Er hätte es wissen müssen: Seit dieser Sache klebt sie an ihm. Ständige Anrufe, der Wunsch, ihn zu treffen. Zu reden. Er wird sie nicht mehr los. Immerhin: Die Medikamente machen sie ruhiger. Sie wirkt fahrig, aber weniger hysterisch als zuletzt.

»Vielleicht solltest du ein paar Tage wegfahren«, schlägt er vor. »Bis alles vorbei ist. Nimm dir Urlaub.«

»Und du?«

»Was meinst du?« Manchmal versteht er sie nicht.

»Warum machst du das alles?«

Ich werde verdammt viel Geld haben, wenn ich den Schein einlöse, denkt er. »Ich will nicht, dass du in Haft kommst. Dass dein Leben vorbei ist«, sagt er sanft. Er kann ihre Angst an- und ausknipsen. Mit zwei, drei Worten. Ihre Schuldgefühle und ihre Dankbarkeit. Es beginnt ihn zu langweilen. »Griechenland«, sagt er müde. »Irgendeine kleine Insel. Du kannst spazieren gehen, fotografieren, malen. In der Sonne liegen. Du kommst auf andere Gedanken. Und wenn du zurück bist, ist alles geregelt.«

Sie zögert. »Ich kann doch nicht wegfahren, während du … ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen.«

Er hätte sie vom Dach stoßen sollen! Dem ersten Impuls folgen. »Genug! Es ist genug, hörst du! Es reicht!« Er fängt an zu schreien. Packt sie an den Oberarmen, schüttelt sie und brüllt, bis er heiser ist und sie heult.

»Entschuldige bitte«, schluchzt sie, »entschuldige.«

Er stößt sie weg. Sie taumelt, knallt gegen ihren Bücherschrank, verzieht das Gesicht und reibt sich die linke Schulter. Recht geschieht es ihr, denkt er. Sie rutscht langsam nach unten und kommt auf dem Boden zu sitzen. Er blickt auf ihren Scheitel, die nackten, nach außen gedrehten Beine. Sie hat die Arme vor der Brust gekreuzt und wiegt sich ganz leicht vor und zurück.

»Ich hab auch nur Nerven. Du provozierst mich. Machst du das absichtlich? Was? Was sagst du?« Er zerrt an ihrem Arm und stößt sie dann von sich.

Sie reißt die Augen auf. »Ich wollte … «, piepst sie.

»Du wolltest was?« Er wird lauter. »Es ist schwer genug. – Kathrin … « Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und verharrt eine Weile so. Kathrin ist nur noch ein Name.

Sie zittert. Will etwas sagen, schüttelt dann den Kopf. Mit ihrer langen hellen Mähne wirkt sie zerbrechlich und trotz der geröteten Augen schön. Sie neigt den Kopf. Dichte Wimpern. Alabasterhaut. Er greift ihr ins Haar. Zwingt sie, ihn anzusehen. Löst den Gürtel.

»Nicht«, flüstert sie. »Nicht.« Er lächelt. Er knöpft ihr die Bluse auf, streicht mit den Fingerspitzen ganz leicht über ihren Brustansatz, zieht sie näher zu sich heran. Sie wehrt sich ein bisschen.

Eine halbe Stunde später verlässt er die Wohnung.

||

Über Nacht war es Sommer geworden. Lena lag auf einer bunt gestreiften Decke in der Wiese. Flugzeuge tauchten durch bauschige Wolken und hinterließen eine sich kräuselnde, langsam zerfließende Spur im kitschigen Blau. Der Wind strich durch die Baumkronen und über ihre nackten Arme. In einiger Entfernung saßen Großfamilien beim Picknick, spielten Kinder Fangen, schmiegten sich Paare aneinander. Sie hatte den Park durch Zufall entdeckt: einen englischen Landschaftsgarten mit Bäumen, Teichen und exotischen Pflanzen. Unweit der Liegewiese gab es einen Kleinkinderspielplatz, einen Kiosk und einen Streichelzoo. Auf dem Fußballplatz tobten ein paar Halbwüchsige. Bälle prallten auf den harten Boden und gegen die Gitter des Käfigs. Sie schloss die Augen. Lachen, Schreien und Quietschen vom Spielplatz. Es roch nach Gras, nach Sonnenöl und Sonntagsbraten. Nach Staub und süßem Klee. Bienen summten.

 

Erinnerungen an die Kindersommer im Freibad wurden wach. Fast vermeinte sie, das stark gechlorte Wasser zu riechen. Pommes frites. Wassereis mit Himbeergeschmack. Sie wartete auf das schrille Pfeifen des Bademeisters, mit dem er die Rabauken zur Raison brachte, die sie heimlich bewundert hatte, weil sie alles probierten, was verboten war. Sie war hingerissen von den Wasserspringern. Einmal, als sie schon leidlich schwimmen konnte, war sie auf den Turm geklettert, rasch, ohne ihrem Vater etwas zu sagen, ohne nachzudenken, ohne hinunterzusehen, und gesprungen – um sich zu beweisen, dass sie es auch konnte. Um es hinter sich zu haben. Der Aufprall nahm ihr die Luft. Sie ging unter wie ein Stein, schluckte Wasser, hustete, geriet in Panik. Riss die Augen auf. Sie sah strampelnde Beine, Badehosen, bekam einen Tritt gegen die Hüfte, einen Stoß gegen die linke Schulter, trudelte, tauchte auf – und schnappte nach Luft. Sie würgte, keuchte. Ihr Hals brannte. Rotz lief ihr aus der Nase, die Ohren dröhnten. Dann setzten die Freibadgeräusche wieder ein. Langsam schwamm sie zum Beckenrand und klammerte sich daran fest, bis das Zittern nachließ und ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Als sie den Freischwimmerschein machen sollte, verfiel sie in Panik und sperrte sich in der Umkleidekabine ein. Sie schämte sich ihrer Angst, aber sie gab nicht nach. Schließlich nahm der Vater sie aus dem Kurs. Es dauerte lange, bis sie wieder ins Wasser ging. Sie blieb eine Sonntagsschwimmerin.

Sie drehte sich auf den Bauch und streckte sich. Die Sonne machte sie müde. Sie hörte Krähen zetern. Das schnarrende Zirpen einer einsamen Grille. Kinderlachen aus großer Entfernung. Langsam verschwamm die Geräuschkulisse. Sie dämmerte ein.

Ein harter Schlag gegen den Kopf, ein dumpfer Schmerz. Benommen rappelte sie sich auf und tastete mit der Hand ihren Hinterkopf ab. Mit dem Blick die Umgebung. Um sie herum immer noch Sommeridylle. Spielende Kinder, zwei junge Familien beim Picknick. Staubwolken und halbnackte Spieler im Fußballkäfig. Vor ihr im Gras lag eine Frisbeescheibe.

Ein Mann rannte auf sie zu. »Entschuldige bitte, ich war zu langsam. Er wirft ziemlich hart. Hast du dir wehgetan?« Er ging in die Knie. »Lass sehen.« Schräggestellte grüne Augen, ein besorgter Blick.

Sie zuckte zurück. »Nein, schon okay«, wehrte sie ab. »Tut nicht weh. Kein Problem. Ich bin bloß erschrocken. – Muss wohl eingeschlafen sein«, ergänzte sie nach einer Pause.

»Tut mir leid.« Er angelte nach der Scheibe und hockte sich neben sie ins Gras. Er war groß und schlaksig. Trotz der Hitze trug er eine Mütze und ein Langarm-Shirt. Er zögerte. »Magst du mitspielen? Wir … entschuldige, ich bin … «

»Max – Vorsicht! Abstand! Die ist gefährlich!«

Beide fuhren herum. Lena hielt die Luft an. Das war doch der Kerl von letztens! Der sie auf der Straße überfallen hatte. Gregor oder so.

Mit einem breiten Grinsen kam er auf sie zu. »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Ihr kennt einander?« Max sah vom einen zur anderen und runzelte die Stirn.

»Wonach sieht es aus?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kratzbürste!« Der Kerl lächelte vergnügt, beugte sich vor, streckte ihr die Hand hin und sagte betont deutlich: »Hallo, Georg. Schön, dich wiederzusehen. – Ist doch nicht so schwer, oder?«

»Hast du es irgendwie auf mich abgesehen oder was?« Blitzschnell war sie auf den Beinen.

»Wenn du so fragst … « Sein Lächeln wurde breiter.

Unfassbar. Was bildet der sich ein! »Dein Freund ist ein Psycho«, informierte sie Max. »Der überfällt Frauen auf der Straße und findet das lustig.« Sie wirbelte herum. »Kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch benehmen, hä? Was passiert als Nächstes? Fährst du mich über den Haufen? Stellst du Fallen auf?«

»Womit wärst du denn zu ködern?« Der Typ machte sich über sie lustig!

Der andere, Max, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich anders, griff sich die Scheibe und trabte los. Der ist in Ordnung, dachte sie. Ruhig, aufmerksam, unaufdringlich. Kein überflüssiges Wort, kein Posen. Was der an so einem fand?

Georg musterte sie. Er stand neben ihr, die Hände in den Hosentaschen. »Immer noch sauer? Ich … « Er lächelte. Schien sich über sie zu amüsieren. Arrogant, dachte Lena. Einer von den ganz Coolen, der sich sicher ist, immer zu gewinnen. Früher wäre sie unter seinem Blick errötet. Wut fühlte sich deutlich besser an.

Sein Handy läutete. Er seufzte genervt und drückte das Gespräch weg.

»Fang.« Max. Sie wirbelte herum und packte reflexartig zu. Schleuderte die Scheibe zurück. Max sprintete los und schaffte es knapp. Visierte Georg an. Der warf zu ihr. Schon waren sie mitten im Spiel. Eine Drehung aus dem Handgelenk. Loslassen. Das Frisbee segelte über das Gras und beschrieb einen Bogen, bis einer von ihnen es schnappte und zurückschoss. Ihr Spiel wurde härter, schneller. Sie rannte, hechtete nach links, nach rechts, streckte sich und sprang wieder auf die Beine. Sie keuchte und strahlte. Jagte die Jungs über die Wiese und wurde selber gejagt. Schwitzte, lachte. Es roch betäubend nach frischem Gras.

Max suchte ihren Blick, bevor er warf. Der andere forderte sie. Er täuschte einen gezielten Wurf an, pfefferte dann die Scheibe ungefähr in ihre Richtung. Er weckte ihren Ehrgeiz. Sie radierte über das Gras, knallte der Länge nach hin und hielt triumphierend das Frisbee hoch. Sie revanchierte sich mit harten Würfen und sah lachend zu, wie er verbissen kämpfte.

Irgendwann ließ Max sich bäuchlings ins Gras fallen. Sie setzte sich neben ihn. Ihr Gesicht glühte.

»Muss was trinken. Magst du auch?« Er griff in seinen Rucksack und hielt ihr eine große grüne Glasflasche hin. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie war. Sie trank, setzte ab und suchte in ihrem Rucksack nach den Taschentüchern.

Er sah sie unentwegt an. Seine Augen leuchteten. »Nicht nötig, gib her.« Er lachte. »Du bist ja nicht giftig.« Er setzte die Flasche an und trank mit geschlossenen Augen. Das Wasser lief sein Kinn, den Hals entlang und färbte sein rotes T-Shirt dunkel.

Sie tauschten ihre Handynummern aus. Verabschiedeten sich, als die Baumschatten länger wurden und der Lärm vom Kinderspielplatz verstummte. Auf dem Weg zur Straßenbahn summte sie vor sich hin. Winkte den beiden, als sie auf ihren Motorrädern an ihr vorüberbrausten. Mücken tanzten in der Abendsonne. Seit langem fühlte sie sich zum ersten Mal wieder leicht und glücklich. Spaziergänger, die ihr entgegenkamen, lächelten sie an.

Lena erwachte vergnügt und eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Sie frühstückte in dem kleinen Café in der Nähe und blätterte rasch die Zeitungen durch. Nichts, dachte sie erleichtert. Es war wie ein Mantra: Wenn etwas passiert wäre, hätte man sie schon gefunden. Da war nichts!

Trotzdem: Sie musste endlich in dieses verdammte Haus! Nachsehen. Dann konnte sie damit aufhören. Abschließen. Sie würde es morgen wieder versuchen. Irgendwann, zum Teufel, muss es ja klappen. Sie legte die Zeitungen beiseite und schaute auf ihr Handy: Keine Nachricht.

Sie lächelte. Er schläft sicher noch. Heute, irgendwann im Laufe des Tages, oder morgen würden sie telefonieren, einander wiedersehen. Wie er sie angesehen hatte: ruhig und konzentriert , als müsste er sich ihr Gesicht für immer einprägen … Er war anders als die meisten, die sie kannte. Ernster, dachte sie, erwachsener. Jemand, auf den man sich verlassen kann.

Sie zahlte und drängte sich in letzter Minute in die gerammelt volle Straßenbahn. Die Leute stiegen einander auf die Zehen, Schulkinder lärmten, ein Baby plärrte durchdringend. Jemand rammte ihr einen Rucksack ins Kreuz. Der Mann vor ihr schrie in sein Handy. Er stank aus dem Mund.

Sie floh bei nächster Gelegenheit und ging das letzte Stück zu Fuß. Ein strahlend schöner Morgen. Radfahrer, Kindergartenknirpse, entspannte junge Väter, die keine Eile hatten. Die Läden, die Cafés öffneten gerade erst. Das hier war eine andere Welt.

Die Tür zum Geschäft stand bereits offen. Ihr Chef lehnte am Verkaufspult und blätterte in einem dicken Katalog.

»Guten Morgen.«

»Hallo, Lena. Schönes Wochenende gehabt?«

»Ja.« Man sah es ihr an! Ihr wurde heiß unter seinem prüfenden Blick. Sie verstaute ihre Jacke, fuhr sich durch die Haare und sah sich um. Neben dem Eingang standen einige Kartons. »Neue Lieferung?«

Er nickte gleichgültig.

Okay, das ist also mein Job. Sie bückte sich nach einem der Pakete und trug es in den Nebenraum. Wo war das Stanleymesser? Sie schaute sich suchend um.

Wolfgang stand plötzlich hinter ihr. »Lass, Lena, ich mach das schon. Schau, ich muss dir etwas zeigen.« Er schob das Paket zur Seite und legte eine Architekturzeitschrift vor sie hin. Er deutete mit dem Finger auf eine ausladende Sitzlandschaft, die sündhaft teuer aussah. »Wie gefällt dir die?«

Sie war irritiert. Wieso …?

»Du hast einen guten Geschmack«, nahm er ihre Frage vorweg.

»Elegant«, befand sie. »Die braucht aber einen großen, fast leeren Raum, etwas wie ein Atelier oder … «

»Du hast recht. Ist was für Großverdiener.«

»Oder Erben.«

»Genau.« Er lachte und klappte den Katalog zu. »Sag, wie lebst du eigentlich?«

»In der Wohnung einer Bekannten. Im Dachgeschoss. Ein Traum. Ich kann dort aber nicht bleiben. Spätestens im Herbst braucht sie sie selber wieder.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Bis dahin muss ich etwas gefunden haben. Klein und billig, mehr ist nicht drin. Ich muss wohl wieder nach unten ins Parterre.« Sie wollte gar nicht daran denken. Graue Wände und Straßenlärm vor den Fenstern. Laute Nachbarn. Wenig Licht.

»Kennst du niemanden, der … «

»Nein«, sagte sie kläglich.

»Ich kann mich umhören«, bot er an. »Vielleicht gibt’s ja eine andere Möglichkeit.«

»Ja, vielleicht«, sagte sie ohne rechte Überzeugung. »Danke.« Er wusste doch, wie wenig Geld sie zur Verfügung hatte! »Mit einem Vollzeitjob wäre es deutlich einfacher«, sagte sie forsch und warf ihm einen raschen Blick zu. War das nicht zu direkt? Zu frech?

»Schauen wir einmal.«

Was sollte das heißen? Hatte er vor, ihr einen Ganztagsjob anzubieten? Unwahrscheinlich. Der Laden warf kaum Gewinn ab. Sie musste so rasch wie möglich mit der Wohnungssuche beginnen. Mehr arbeiten, vielleicht wieder putzen gehen. Sie seufzte. Ihr war zum Heulen.

»Hey, was ist los? Was hast du?«

Sie wandte sich ab. »Ich hab mich verzettelt, lebe, als hätte ich alle Zeit der Welt«, murmelte sie. »Ich muss schleunigst anfangen zu suchen.«

»Es wird sich schon etwas ergeben«, beruhigte er sie.

Aber so funktionierte die Welt nun einmal nicht. Abwarten führte zu gar nichts. Alles blieb in der Schwebe. Sie musste endlich etwas tun.

Diesmal stand die Haustüre offen. Lenas Herz schlug schneller.

Auf Zehenspitzen huschte sie über den frisch gewischten Boden. Die Abdrücke ihrer Schuhkuppen waren deutlich zu sehen. Ein älterer Mann in Arbeitskleidung stand bei den Briefkästen. Sie grüßte und setzte einen schuldbewussten Blick auf.

»Macht nichts«, sagte er und lachte. »Ist schon fast trocken.« Während sie auf den Lift wartete, packte er seine Putzutensilien zusammen und zündete sich eine Zigarette an. »Wiedersehen!« Die Haustür fiel ins Schloss.

Lena sah sich um. Rechts vom Lift, drei Stufen tiefer, lag der Zugang zum Hof. Sie öffnete die Tür und stand in einem mit grauen Steinen gepflasterten, aufgeräumten Geviert, das an zwei Seiten vom Haus umarmt wurde. Drei Bäume warfen dichte Schatten. Links schloss das Nachbarhaus an. Auf der Feuermauer gegenüber der Tür rankte Efeu. Davor standen, ordentlich aufgereiht, Müllcontainer und Sammelbehälter für Altpapier. Jemand hatte ein paar staubige Pflanzen abgestellt. Daneben lagen zwei Säcke mit Blumenerde, verkrustete Tontöpfe und eine grobe Bürste. Ein grüner Gartenschlauch schlängelte sich über das Pflaster. Weit und breit keine Leiche. Keine Spuren. Kein Hinweis darauf, dass hier jemand zu Tode gekommen wäre.

Wieder war sie Opfer ihrer blühenden Phantasie geworden. Hatte sich tagelang umsonst gefürchtet. Während andere der Sache sofort auf den Grund gingen, spann sie ihre Geschichten um etwas, das ihr aufgefallen war, Begegnungen, Kleinigkeiten – bis sie sich schließlich selber davor zu gruseln begann.

 

Sie trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die Hinterhoffassaden . Hier war erst vor kurzem renoviert worden, die Gangfenster neu. Der Großteil der Wohnungen musste zur Straße hin liegen. Im letzten Stock gab es zwei Terrassen.

Nun, wo sie schon da war, konnte sie sich das Haus auch gleich genauer ansehen. Die Bilder wieder bannen, dachte sie. Der Lift brachte sie ins Dachgeschoss. Weiße Türen ohne Namensschilder, kein Werbematerial. Lena atmete auf. Ein Hightech-Fahrrad war ans Geländer gekettet. Im vierten Stock roch es ein wenig nach Rauch. Auch hier wohnte man anonym. Vier teure, ein billiger Fußabstreifer im dritten Stock. Im zweiten lagen graue Standardmodelle. Sie trat näher heran, las zwei russisch klingende Namen und sprang erschrocken zurück, als jemand durch den Spion schaute. Sie tat, als suche sie in ihrer Tasche nach der Adresse und kam sich dumm dabei vor. Sie spürte den Blick bis in die Haarwurzeln, ihr wurde heiß. Sie floh in den ersten Stock. Über ihr öffnete sich eine Tür. Husten. Sie erwartete einen Zuruf, eine Frage. Aber es blieb still. Sie begnügte sich mit einem raschen Rundumblick, lief ins Parterre und verließ das Haus.

Als Detektivin, Lena, murmelte sie, bist du völlig ungeeignet.

||

Champagner. Er hatte den teuersten genommen, den er fand. Eigentlich machte er sich nicht viel aus dem Zeug, aber dieser Abend war eine Zäsur. Alles lief gut. Nach Plan. Morgen begann sein neues Leben.

Warten war nicht seine Stärke, aber diesmal hatte er sich Zeit gelassen. Was waren schon ein paar Tage mehr oder weniger? Ab jetzt konnte er alles haben. Es war eine große Summe. Zwei Stunden hatte er damit zugebracht, sich im Internet Luxuswohnungen anzusehen. Seine war so weit in Ordnung, viel zu teuer natürlich, aber irgendwie hatte er es immer geschafft. Mit einem starken Willen klappte alles. Geld spielte ab jetzt keine Rolle mehr. Er konnte sich kaufen, wonach immer ihm war.

Es blieb seltsam abstrakt. Jetzt, wo er kurz davor war, in Geld zu schwimmen, gab es nichts, das er unbedingt haben musste. Kein großer Wunsch, der der Erfüllung harrte. Nein, halt: Reich sein, richtig reich – das war es! In den Tag hinein leben. Tun und lassen, worauf er Lust hatte. Es den Snobs zeigen. Er stellte sein Glas ab und holte den Kalender. Die Einträge in ihrer ordentlichen, ein wenig bauchigen Kleinmädchenschrift endeten am 15. April. Die restlichen Kalenderblätter waren leer und würden es bleiben.

Da war der Schein! Drei Quicktipps. Joker. Und: Volltreffer. Kathrin hatte ihn aufgeregt angerufen: »Ich hab den Doppeljackpot geknackt, stell dir vor! Was wünschst du dir? Wir müssen feiern! Gleich. Komm rüber.« Dumm und zutraulich wie ein Stubenküken. Ihr erster Fehler …

||

Lena sah auf die Uhr: kurz vor acht. Das Flugzeug musste bereits gelandet sein. Sie würde dem Mann die Schlüssel zurückgeben und den Rest kassieren. Leicht verdientes Geld, wenn man sich nicht ekelte und mit Katzen gut auskam. Er hatte es eilig gehabt und ihr, während unten bereits das Taxi wartete, noch einmal umständlich erklärt, welche Räume er versperrt und welche sie zu kontrollieren hatte. »Sie protestieren gegen meine Abwesenheit, indem sie da und dort Häufchen hinterlassen. Die dürfen natürlich nicht liegen bleiben.«

Er hatte tatsächlich »Häufchen« gesagt! Die penibel geschriebenen Listen in der Küche, wo er die Katzenfutterdosen aufbewahrte, hatte sie erst später entdeckt: Den Fütterungs- und Tränkplan. Anweisungen zur Katzenklohygiene. Die Lüftungsvorgaben und in welchen Raum die Katzen zwischenzeitlich zu »verbringen« waren, um ein Entwischen zu verhindern. »Man muss sie auch kraulen«, hatte er erklärt. »Eine halbe Stunde genügt im Allgemeinen.«

Wie lebte so jemand? Wie verbrachte er seine Tage? Lena stellte sich einen Beamten vor, der seine Kollegen durch seine Pingeligkeit regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Sie sah ihn in einem übertrieben ordentlichen, leicht angestaubten Einzelbüro allein seine Jause einnehmen. Seinem Chef beflissen die geforderten Unterlagen reichen. Eine Partei, wie die Kunden einer Behörde hier genannt wurden, durch eine eigenwillige Mischung aus Rechthaberei und Unterwürfigkeit dazu bringen, je nach Temperament erschöpft aufzugeben oder türenknallend davonzurauschen und beim nächsten Mal den Anwalt vorzuschicken. Würde er ihr auf der Straße auffallen? Wahrscheinlich nicht. Viele sahen so aus: durchschnittlich, unauffällig, beige. Sie schlüpften in Hauseingänge und verschwanden in Wohnungen, die ihnen glichen.

Auf der Suche nach einem Dosenöffner hatte sie in der Küche ein paar Laden geöffnet. Ein bisschen Besteck, Teller, Gläser, zwei Töpfe. Futterschüsseln. Und Unmengen von Instantsuppen in Plastikboxen, nach Geschmacksrichtung sortiert. Sie war sich sicher, dass er ihr Fallen gestellt hatte, Haare oder Fäden in Schranktüren und Laden geklemmt, um zu sehen, ob sie sie öffnete, an seine Sachen ging. Viele ihrer Kunden waren Kontrollfreaks. Eine Dame, die sich nur schwer von ihrer fetten Katze hatte trennen können, ließ vor ihrer Abreise in die Kuranstalt die Wohnung verstauben, um sie anhand von Fingerabdrücken eines »Übergriffs«, wie sie das nannte, zu überführen. Eine andere stand die ganze Zeit wie eine Aufseherin neben ihr, während Lena wie verlangt mit der Zahnbürste die Ecken der Badezimmerschränke schrubbte, und herrschte sie schließlich an: »Sie sind Ihr Geld nicht wert.«

Sie zog den schweren Vorhang ein Stück zur Seite. Ein breiter Sonnenstreifen fiel auf das fleckige Eichenparkett. Sie hatte große Lust, an den räudigen Lappen zu ziehen, bis sie nachgaben und zu Boden gingen, die Fenster sperrangelweit aufzureißen. Durchzulüften und … Man müsste den Boden abschleifen und ölen, die Wände neu tapezieren. Eine ganz helle Tapete, dachte sie. Fenster und Türen in mattem Elfenbein. Weiß war zu hart. Sie sah sich durch die schimmernden, leeren Räume gehen und staunen. Nach und nach würden sie sich mit Möbeln füllen. Mit Bildern in kräftigen Farben. Sie hatte Zeit. Man musste die Dinge zusammenfügen, eins nach dem anderen. Stoffe aussuchen, Lampen. Auf Flohmärkten stöbern …

Vergiss es! Sie seufzte. Eine Wohnung wie die hier wirst du dir nie leisten können. Und der steife, farblose Mann, der hier lebte, hatte keinen Blick für das Besondere. Die Tapeten waren vergilbt und zerkratzt. Auf den schönen, aber abgewohnten Möbeln lag Staub, an manchen Stellen verwischt, als hätte jemand ein Tuch darübergezogen und gleich darauf die Lust zu putzen verloren. Wasserränder von achtlos abgestellten Gläsern. Aufgequollene gewellte Oberflächen. Daneben Pfotenabdrücke. Die Katzen lagen satt und zufrieden auf dem haarigen Sofa und putzten sich. Sie setzte sich auf den Boden und sah ihnen zu, wie ihre kleinen rauen rosigen Zungen über das Fell fuhren. Und über die samtigen Pfoten. Wenn sie erst ihre eigene Wohnung hatte … Träume, nichts als Träume. Ich hantle mich von einem Provisorium zum nächsten. Seit Jahren ging das nun schon so. Ich habe den Absprung verpasst. Sie seufzte und erhob sich.

Und Max. Kein Anruf. Keine Nachricht. Kein Lebenszeichen. Sollte sie den ersten Schritt tun, ihn anrufen? Oder …

Sie fuhr herum. Jemand hantierte am Türschloss. Rasch durchquerte sie das Wohnzimmer, den Vorraum und schaute durch den Spion. Der Wohnungsinhaber war in Begleitung.

Die üppige ältere Dame drängte ihn zur Seite und hielt sich nicht lange mit Freundlichkeiten auf: »Ich hoffe, Sie haben hier nicht herumgestöbert.«

»Mama, bitte!« Der Mann schien peinlich berührt. »Sie meint es nicht so«, flüsterte er nach einem raschen Blick auf seine Mutter, die vergeblich an einem großen Koffer zerrte.

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