Aus dieser schweren Zeit

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Historische Rahmenbedingungen des „Transports 222“

Die Wissenschaft spricht vom „dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch“.3 Dieser wird meist griffig als „Transport 222“ bezeichnet. In Wirklichkeit gelangten durch ihn jedoch 282 Menschen nach Palästina. In Wien kamen nämlich 61 Juden mit britischen und amerikanischen Staatsangehörigkeiten aus den Internierungslagern Vittel und Laufen zu den 222 aus Bergen-Belsen hinzu. Eine 77jährige Frau musste nach einem Schlaganfall in einem Istanbuler Hospital zurückgelassen werden, wo sie später starb.

Wegen der widrigen und komplexen Rahmenbedingungen und der Vielzahl der beteiligten Akteure mag es uns heute unglaublich erscheinen, dass der „Transport 222“ seinerzeit überhaupt stattfand. Zwar bestand seit Herbst 1943 eine grundsätzliche Übereinkunft der Kriegsgegner für den Austausch, doch eine Vielzahl von staatlichen Stellen war zu beteiligen. Für Deutschland sind außer dem verhandelnden Auswärtigen Amt Heinrich Himmler in seiner Doppelfunktion als „Reichsführer-SS“ und „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ (RKF), das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in den Abteilungen „Ausländerpolizei“ und „Judenangelegenheiten“ sowie auch die nachgeordneten SS-Dienststellen in den Niederlanden zu nennen. Auf der britischen Seite waren gleich drei Ministerien – Ausland, Krieg und Kolonien – sowie die Mandatsverwaltung der britischen Regierung in Palästina involviert. Von den beteiligten Nichtregierungsorganisationen besaßen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf und die Jewish Agency mit Dienststellen in London, Genf, Istanbul und Palästina gewissen Einfluss auf das Verfahren. Auch der „Joodsche Raad voor Amsterdam“ setzte sich 1943 für die Aufnahme von Personen auf die „Palästina-Liste“ ein. Die Hauptakteure Großbritannien (die Mandatsmacht von Palästina) und Deutschland kommunizierten wegen des Kriegszustands nur über die neutrale Schweiz, die dafür in ihrer Berliner Gesandtschaft die Abteilungen „Schutzmacht“ und „Austausch“ eingerichtet hatte. Zudem können die zeitraubenden Postwege einen Teil der monatelangen Verzögerungen seit der Übereinkunft und der ständigen, nur schwer nachvollziehbaren Änderungen an der Austauschliste erklären.

Gerade in der Zeit des Austauschs Mitte des Jahres 1944 ging der 2. Weltkrieg in seine dramatische Endphase. Die Deutschen hatten durch die Niederlage von Monte Cassino Italien verloren, die Rote Armee zerschlug die Heeresgruppe Mitte, die Westalliierten hatten am 6. Juni, also gut drei Wochen vor Fahrtantritt, die Invasion in der Normandie begonnen. Wenig später wäre die interkontinentale Aktion kaum mehr möglich gewesen, zumal im August 1944 die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland einfror. Die Fahrt führte durch Gebiete, die durch Partisanenkrieg und Luftangriffe gefährdet waren, und durch die Machtbereiche Deutschlands, der Türkei und Großbritanniens. Dennoch lief die Logistik der Züge, Fahrpläne, Versorgung und administrativen Begleitung nahezu perfekt. Auch in der „Gegenrichtung“ Palästina – Deutschland funktionierte der Austausch, soweit bekannt, gut.

Welches Interesse an einer Freilassung von Juden lag überhaupt vor, wenn das unausgesprochene deutsche Staatsziel seit 1941 die „Auslöschung der jüdischen Rasse“ war? Deutschlands verbrecherische, rassenideologische Position war zwar dominant, aber in diesem Fall auch widersprüchlich, weil beeinflusst durch die Interessen der beteiligten staatlichen Organe und Kompetenzen. So gab es eine realpolitische Linie des Auswärtigen Amts (AA) unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Diese wollte es sich in Kriegszeiten nicht mit jedem Staat der Welt verderben, von dem sich Staatsbürger zufällig im Machtbereich befanden – und Juden waren. Deshalb waren jüdische Bürger neutraler oder befreundeter Staaten von der Ermordung zurückgestellt. Diese deshalb seit 1941/42 an verschiedenen Orten gefangen gehaltenen Juden wollten AA und SS gegen von Kriegsgegnern internierte Deutsche oder dringend benötigte Devisen austauschen. So hatte ein Jude amerikanischer oder britischer Staatsangehörigkeit Überlebenschancen im Gegensatz zu den Juden mit der Staatsangehörigkeit der okkupierten Länder Europas, die meist sofort ermordet wurden.

Der mörderische Staatsrassismus wurde also in Randbereichen mit dem pragmatischen Primat der Politik abgeglichen. Heinrich Himmler – nach Hitler der machtstärkste Nationalsozialist – hatte spätestens nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 erkannt, dass das Reich jetzt verstärkt Devisen zum Ankauf von Rohstoffen benötigte. Deshalb gestaltete er das frühere Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen zum zentralen Austauschlager um und benutzte jüdische Menschen als Druckmittel und Handelsware. Bekannt sind die ca. 1.700 sogenannten Kastner-Juden aus Ungarn, die die SS von Bergen-Belsen aus im August und Dezember 1944 gegen Lösegeld – angeblich 1.000 $ pro Person – in die Schweiz transferierte.

Himmler war aber gleichzeitig auch „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ (RKF) und wollte, wie auch der Chef der Auslandsorganisationen der NSDAP, SS-Gruppenführer Ernst Wilhelm Bohle, alle „arischen“ Auslandsdeutschen in das Deutsche Reich „heimführen“ bzw. sie im Rahmen der deutschen „Großraumpolitik“ in den besetzten Gebieten Osteuropas ansiedeln. 1942 führte der RKF aus: Das Klima Palästinas werde „…dieses wertvolle deutsche Blut zugrunde gehen“ lassen und in „der fremdvölkischen – heute noch zu einem erheblichen Teil jüdischen – Umwelt […] diese Volksgenossen auf die Dauer der nationalsozialistischen Weltanschauung entfremden“.4 Im Gespräch für die Umsiedlung war unter anderem die Krim.

Während also aus rassenideologischen Motiven heraus die Juden in fast ganz Europa ermordet wurden, bedeutete gleichzeitig die „rassenhygienische“ Paranoia vom gefährdeten deutschen Blut in fremdvölkischer Umwelt in der Perspektive „arisierender Großraumpolitik“ eine Chance für einige wenige Juden. Diese bestand darin, tatsächlich ausgetauscht zu werden – oder als „austauschwertig“ nicht sofort, sondern erst später, wenn der Austausch nicht zustande kam, umgebracht zu werden. Fast wäre der Transport noch am Einspruch des Großmufti Al-Husseini von Jerusalem gescheitert, der sich in seinem Berliner Exil als alleiniger Vertreter aller arabischen Interessen verstand und als Befürworter des Holocaust jeden weiteren Juden in seinem beanspruchten Bereich durch Eingaben an das AA und den Reichführer-SS zu verhindern suchte.5

Deutschlands Verhandlungspartner Großbritannien befand sich bezüglich Palästinas in einer schwierigen Situation in der Konsequenz seiner widersprüchlichen Politik. In der territorialen Abwicklung der Folgen des 1. Weltkriegs war Großbritannien Mandatsmacht über das Gebiet Palästina geworden, wo laut Balfour-Deklaration von 1917 eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“ geschaffen werden sollte. In der Zeit vor September 1939, dem Beginn des 2. Weltkriegs, war gerade Palästina zu einem wichtigen Zufluchtsort der von NS-Deutschland verfolgten Juden geworden. Die meisten Staaten, die danach neutral blieben oder sich im Krieg mit dem Deutschen Reich befanden, waren schon vor 1939 nur sehr eingeschränkt bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Welt teilte sich nach dem berühmten Satz von Chaim Weizmann „in Länder, die die Juden loswerden wollten, und in Staaten, die sie nicht aufnehmen mochten.“6

Diese mangelnde Aufnahmewilligkeit zog unweigerlich einen sich weiter verstärkenden Flüchtlingsdruck auf Palästina nach sich. Die exponierte Stellung des Mandatsgebiets führte zu der im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und danach während des Krieges, der ja auch in Nordafrika stattfand, immer klareren Absicht Großbritanniens, die Konflikte mit den arabischen Anrainer-Staaten nicht weiter zu schüren. Das „White Paper“ von 1939 schränkte beispielweise die jüdische Einwanderung gerade in der Phase extrem ein, als Tausende Juden aus Deutschland und Österreich noch hätten gerettet werden können.

Auch als Deutschland 1941 keine Auswanderung mehr zuließ, sondern die Juden in Ghettos zusammenpferchte und den Massenmord begann, wandelte sich die britische Position nur wenig. Der von Deutschland ins Gespräch gebrachte Austausch, der den Anlass für die Einrichtung des „Aufenthaltslagers“ Bergen-Belsen gegeben hatte, blieb trotz der geringen Zahlen für London heikel. Nur wenige Gruppen unter den von Nazi-Deutschland angebotenen „Austauschjuden“ wurden akzeptiert. Am besten geeignet war eine vorhandene palästinensische Staatsangehörigkeit, denn das führte rechtlich zu keiner zusätzlichen Einwanderung nach Palästina. Bekannte Anhänger der zionistischen Bewegung waren nicht erwünscht. Auf wiederholtes Drängen der zionistischen Jewish Agency wurden schließlich aber auch Personen als austauschfähig akzeptiert, die Angehörige in Palästina hatten, insbesondere Eltern von dort lebenden Kindern.7

Das traf auf Änne und Hermann Gröschler zu, lebte doch ihr Sohn Walter seit 1935 in Palästina. Vielleicht spielten auch seine Armeezugehörigkeit und eine Bürgschaft von Dr. Fritz Steinfeld, der seine Internistenpraxis im Zentrum Jerusalems betrieb, eine Rolle dabei, dass das Ehepaar Gröschler nicht nur auf eine der zahlreichen Palästina-Listen kam, sondern Änne schließlich tatsächlich zu den 222 „chosen people“8 gehörte. Aus ihrem Bericht erfahren wir, dass sich das Ehepaar von Westerbork aus, als noch eingeschränkt Postverkehr möglich war, an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in der Schweiz gewandt hat. Über diesen Kanal mag überhaupt die Information bei den Verwandten in Palästina angekommen sein, dass das Ehepaar noch lebte und wo es sich aufhielt, so dass Eingaben gemacht werden konnten. Die konkreten Kommunikations- und Entscheidungswege jedoch werden sich vermutlich nicht mehr aufklären lassen.

 

Die Zahl der Ausgetauschten blieb deshalb so gering, weil das Prinzip des Austauschverhältnisses von eins gegen eins galt. Die britische Mandatsmacht hatte Schwierigkeiten, eine größere Anzahl akzeptierter Personen zu rekrutieren, weil das Potential durch zwei vorhergehende Austausche von in Palästina internierten deutschen Staatsbürgern gegen in Deutschland trotz gültiger Palästina-Papiere festgehaltene Juden bereits weitgehend erschöpft war. 500 männliche Deutsche aus Palästina im wehrfähigen Alter waren zudem inzwischen im fernen Australien interniert. Nicht jeder „Volksdeutsche“ wollte „heim ins Reich“ und man konnte 1944 schon ahnen, wie der Krieg ausgehen würde. Schließlich verfügten die Briten doch über eine genügende Anzahl. Es waren überwiegend Angehörige der Templer-Sekte aus ursprünglich Baden-Württemberg, die seit 1868 in Palästina siedelte, um in Jerusalem das „Volk Gottes“ zu versammeln, sowie internierte Deutsche aus der britischen Kolonie Süd-Afrika. Der Austausch der „Volksdeutschen“ gegen die Juden fand am 6. Juli 1944 in Istanbul statt. Während die einen den Orient-Express in das untergehende Reich bestiegen, fuhren die anderen mit der Bagdad-Bahn in die Freiheit.

Mehr als 1.000 weitere Zertifikatsinhaber blieben in Bergen-Belsen zurück, viele von ihnen kamen in den folgenden zehn Monaten bis zur Befreiung des Lagers durch die britische Armee im April 1945 und auch noch in der Zeit danach wegen der erlittenen gesundheitlichen Schäden ums Leben. Warum gerade diese 222 Menschen auf der Austauschliste standen, ist seit langem Gegenstand von Überlegungen. Gültig ist immer noch die Vermutung von Simon Heinrich Hermann bereits aus dem Jahre 1944: „So dürfte die definitive Transportliste die nach langen Verhandlungen festgestellte Komponente verschiedener Interessenrichtungen darstellen.“9 Wie hoch der Anteil von Glück oder Zufall am Überleben von Änne Gröschler war, lässt sich nur erahnen, zumal es schon unwahrscheinlich war, den Westerborker Deportationen in die Vernichtung entgangen zu sein.

Editorische Bemerkungen

Das mit „Jerusalem, im Herbst 1946“ auf der letzten Seite datierte Typoskript – 39 engzeilige Seiten im britischen Foolscap-Format10 – entstand offenbar schon relativ kurz nach der Ankunft in Jerusalem, vermutlich im Juli 1944. In der Zeit der Erzählung ist der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet, die Befreiung von Groningen im April 1945 und das Überleben der Verwandten sind Änne Gröschler nicht bekannt. Wie der Text verdeutlicht, ist sie seit ihrer Ankunft in Palästina erkrankt und in stationärer Behandlung. Klare Symptome der Krankheit werden nicht genannt. Wie ihre Tochter Käthe Löwenberg-Gröschler 1984 dem Herausgeber mitteilte, habe sie einen Zusammenbruch erlitten und deshalb auf Anraten der Ärzte den Bericht niedergeschrieben. Den habe sie in späteren Jahren immer „Aus dieser schweren Zeit“ genannt. Vielleicht erklärt sich das falsche Datum aus der später erfolgten Übertragung eines handschriftlichen Urtextes in das Typoskript.

Der Text wurde in Rechtschreibung und Zeichensetzung korrigiert und im Satzbau an wenigen Stellen angepasst. Linguistische Untersuchungen, z. B. über eventuelle Reflexe des Jiddischen, sollten auf das originale Typoskript zurückgreifen. Die Übersetzung hält sich so nah wie möglich an den deutschen Wortlaut und an den spezifischen Schreibstil von Änne Gröschler, selbst wenn sie zwischen verschiedenen Zeitformen wechselt.

1984 besuchten von den Nationalsozialisten vertriebene Juden aus Jever ihren alten Wohnort. Sie folgten der Einladung einer Projektgruppe von Schülern und Lehrern des örtlichen Gymnasiums. Während der Besuchswoche überließen Käthe und Alfred Löwenberg-Gröschler ihm das Typoskript zur Erstellung von Fotokopien und zur weiteren Verwendung, eine Kopie wurde dem Niedersächsischen Landesarchiv in Oldenburg zur Verfügung gestellt. Der Herausgeber veröffentlichte 1988 Auszüge des Berichts in einem Aufsatz über den Novemberpogrom 1938 in Jever. Werner Vahlenkamp edierte in demselben Jahr die Jever betreffenden Passagen, das sind etwa zehn Prozent des Gesamttextes.

2014 mietete der Zweckverband Schlossmuseum Jever das Erdgeschoss des 1954 auf dem Grundstück der abgetragenen Synagogenruine erbauten Gebäudes an, um hier ein „Zentrum für die Geschichte der Juden und der Zeitgeschichte der Region“ aufzubauen. Die Einrichtung sollte nach Hermann und Julius Gröschler heißen, den letzten beiden Vorstehern der Synagogengemeinde Jever. Zum 70. Jahrestag des „Transports 222“ fand hier im Juli 2014 ein Vortrag über Änne Gröschler und ihre Rettung statt, zu dem drei ihrer Nachfahren aus England und den Niederlanden nach Jever kamen. Bei dieser Gelegenheit entstand die Idee der vollständigen Veröffentlichung von „Aus dieser schweren Zeit.“ Die Nachfahren von Hermann und Änne Gröschler, Julius und Hedwig Gröschler und der Familie Hoffmann-Levy, die an der Namensgebungsfeier für das GröschlerHaus Ende September 2014 teilnahmen, bekräftigten das Projekt. Anita Engler-Haas, Erica Groschler, Heidi Groschler, Roslyn und Walter S. Groschler, David Haas, Bob Löwenberg, Hans Löwenberg, Jacqui Lynskey-Haas, Andrea Shalinsky, Lauren Sokolski, Michael Stuart und andere, die im Ausland leben, haben den Herausgeber ermutigt, auch eine englische Version zu erstellen. Leider konnten Roslyn und Hans die Veröffentlichung der Erinnerungen 2017 nicht mehr erleben.

Eine Papierkopie des Typoskripts befindet sich im Niedersächsischen Landesarchiv Oldenburg (Best. 297 D Nr. 155). Eine digitale Kopie stellt das GröschlerHaus Jever auf Anfrage zur Verfügung.


7 | 1984 kehrten jüdische Menschen, die die NS-Zeit überlebt hatten, auf Einladung des örtlichen Gymnasiums für eine Woche nach Jever zurück. Käthe Löwenberg-Gröschler hielt am 25. April 1984 die Festrede beim Ehrenempfang im Schloss Jever, rechts im Bild Dr. Alfred Löwenberg.

Danksagungen

Werner Beyer übertrug das nur schwer lesbare Typoskript in ein Dateiformat. Bob Löwenberg unterstützte die Kommentierung des Berichts seiner Großmutter durch eigene Recherchen, Fotos und die Beantwortung von Fragen. Joan Greening, Michael Greening, Claudia de Levie, Antje C. Naujoks und Lauren Sokolski stellten Fotos und Informationen zur Verfügung. Bei ihrer Übersetzungsarbeit für die englische Ausgabe merkte Linda Robbins-Klitsch noch näher zu klärende Sachzusammenhänge des Berichts an. Uta Esselborn, Rolf Keller, Hans-Jürgen Klitsch, Thomas Rahe, Mareike Spiess-Hohnholz und Klaus Tätzler gaben zusätzliche Informationen oder lasen Korrektur. Außerdem danke ich Guido Abuys, Matthias Bollmeyer, Ingrid Donk, Holger Frerichs, Karin Glatzer, Sabine Glaum, Volker Landig, Hermann Lüers, José Martin, Heidrun Peters, Andreas Reiberg, Antje Sander, Peter Tolksdorf und Werner Vahlenkamp für ihre Unterstützung.

Private Spender an das GröschlerHaus Jever, der Jeverländische Altertums- und Heimatverein e.V., die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, die Johanne-Gruner-Stiftung der Stadt Jever und die Oldenburgische Landschaft haben den Druck der ersten Auflage von 2017 ermöglicht.

Hartmut Peters, im Juli 2020

Änne Gröschler

1. Jever 1938 - 1939 11

[10. Nov. 1938, ca. 2:30 h]

Nachts ging das Telefon: „Frau Gröschler, die Synagoge brennt.“ Ich weckte in Aufregung meinen Mann und wir sahen tränenden Auges das traurige Schauspiel. Wir wohnten der Synagoge sehr nahe und sahen, wie das Feuer zum Himmel brannte. Auf der Straße war lautes Treiben, eine große Unruhe. Menschen liefen hin und her.12 Es schellt, ein Freund meines Mannes mit seiner Frau. Sie weinten – und wir alle stehen bestürzt vor der unsagbar trüben Begebenheit. Dann gehen sie fort. Mein Mann fühlt sich als Vorsteher der Gemeinde verantwortlich, sich nach der Ursache des Feuers zu erkundigen. Ich fühle, es könnte ihm etwas passieren, und will ihn zurückhalten, doch er ging. Halb angezogen rennt er zur Synagoge und meine Befürchtung, die Nazis könnten die Juden als Anstifter des Brandes beschuldigen, hat sich bestätigt. Ich wartete auf meinen Mann, doch er kam nicht zurück. Eine Freundin kam zu mir und erzählte mir vorsichtig, dass sie meinen Mann verhaftet haben. Mit einem Mal fiel mir ein, dass ich, als ich durchs Fenster blickte, gesehen hatte, dass ein Soldat13 auf die Schulter meines Mannes klopfte. Ich konnte es erst nicht glauben. Dann lief ich in der Nacht zu Freunden, sie zu warnen. Und da musste ich erfahren, dass alle jüdischen Männer verhaftet seien und ins Gefängnis geschleppt. Die ganze Nacht habe ich auf meinen Mann gewartet.

Dann läutete es unten und mit einem fürchterlichen Radau vor der Haustür. Die Polizei!14 Mit Gepolter kam man die Treppe hinauf. Dann gingen sie ins Zimmer. Ich war erstaunt, auch einen jungen Mann dabei zu sehen, der unten im Hause bei einem Rechtsanwalt arbeitete. „Frau Gröschler, wo haben Sie Ihr Silber?“ Ich zog mein Buffet auf, in dem ich mein Silber eingebaut hatte. Dann nahmen sie alles heraus. Ich musste Koffer holen, in die sie alles packten. Da sie zu voll wurden, baten sie um Bindfaden zum Zubinden. Bronzen, silberne Schalen, Wäsche, Geld, Anzüge, Steppdecken. Wegen des Hauptanteils der Wäsche kam abends noch eine ganze Horde junger Menschen, um die Wäsche zu räubern.15


8 | Die Kuppel der ausgebrannten Synagoge von Jever am 10. November 1938.

Ich lag schon im Bett und sehe noch vor mir, wie sie meine Wäsche hinaustrugen. Ich hatte sie mit lila Seidenband wunderbar geordnet im Schrank liegen und rohe Fäuste trugen sie mir aus dem Hause. Sie sagten zu mir: „Sie haben noch genug“. Ein junger Mann steckte sich im Zimmer noch eine Zigarre von meinem Mann an: „Ach, Frau Gröschler, das erlauben Sie wohl.“ Um eine Zigarre fragte er und Kostbarkeiten räubern sie aus dem Hause. Mir lag auch nichts mehr an Wertgegenständen. Geld, das ich mir zurückgelegt hatte, stahlen sie auch. Ich fragte den Polizisten: „Warum haben Sie meinen Mann verhaftet?“ Darauf die Antwort: „Frau Gröschler, ziehen Sie sich an, Sie sind auch verhaftet.“ Ich sagte: „Warum verhaften Sie mich? Ich habe nichts Unrechtes getan“. Die Antwort: „Es wird überall in Deutschland so gehen“. Ich wusste nun genug, wusste vor allen Dingen, dass wir armen Juden vogelfrei den Verbrechern ausgeliefert waren. Ich zog meinen Mantel über. Der Polizist ließ mich keine Minute allein. Als ich noch auf die Toilette ging, stand draußen ein Soldat als Wache. Ich musste nun mitgehen. Die Wohnung wurde abgeschlossen.

Zum ersten Mal im Leben kam ich ins Gefängnis. In mir trug ich einen Stolz, den mir meine Begleiter nicht nehmen konnten. Als ich angelangt war, nahm man mir meine Tasche ab. Dann wurde eine Türe aufgeschlossen und ich ging in den Gefängnisraum. Und dort sah ich all die anderen Frauen in halb angezogenem, verzweifeltem Zustand. Ich höre sie noch in ihrem Elend wimmern. Einer armen Jüdin, die im Augenblick keine Wohnung besaß und nachts im Schulraum, der in der Synagoge lag, zufällig geschlafen hatte, hatten die Nazis ungefähr die Gurgel zugedreht. Sie war noch ganz erschöpft. Beim Anzünden der Synagoge hatten sie nicht erwartet, dass im Schulraum ein Mensch schlafen würde.16 Eine andere Frau war bis auf den Boden geflüchtet, die Deutschen ihr nach und so konnte sie ihrem Schicksal nicht entgehen und wurde mitgeführt. Eine Frau weinte, sie hinterließ zuhause eine gelähmte Mutter, die ohne sie ganz verlassen war.17 Ein Teil der Frauen war in einer anderen Zelle untergebracht. Hatte man ein Bedürfnis, wurde an die Tür geklopft. Die Gefängniswärterin öffnete die Tür mit dem Schlüssel. Draußen wurde ein Eimer benutzt, den man selbst entleeren musste. Dann kehrte man zurück und die Tür wurde wieder hinter uns zugeschlossen. Wir bekamen auch Kaffee und Brot. Die meisten konnten vor Erregung nichts essen.

Wie lange wir in der Zelle saßen, habe ich vergessen. Ich wurde herausgeholt und unter Wache in meine Wohnung gebracht. Aber das weiß ich, dass ich sehr selbstbewusst über die Straße gegangen bin. Nach und nach kamen dann auch die anderen Frauen in ihre Wohnung zurück, die sie teilweise in trostlosem Zustande fanden. Nun hoffte ich mit jeder Stunde, dass auch die Männer erlöst würden. Ich wusste, sie waren schuldlos. Ich wusste, die Deutschen hatten selbst die Synagoge, unser Heiligtum, angezündet. Die Synagoge war vor einigen Jahren neu erbaut worden und der Stolz der jüdischen Gemeinde.18 Sie hatten sie angezündet und mussten Schuldige finden. Dafür waren eben die Juden da. Dafür mussten die Juden leiden und in die Gefängnisse geschleppt werden. Aber ich hatte mich getäuscht: Mein Mann kam nicht.

 

9 | Schloss Jever, das Wahrzeichen der Region, mit Hakenkreuzfahnen, um 1935

[11. bis 23. November 1938]

Am anderen Morgen ließ der Gefängnisaufseher uns wissen, dass unsere Männer weitergeschickt würden. Mein Mann schickte mir ein Zettelchen, er benötige noch einige Sachen. Ich packte in meiner Verzweiflung noch Sachen meines Mannes zusammen, lief wie eine Wahnsinnige durch die Straßen ins Gefängnis. Ein trostloses Schauspiel. Alle Männer sahen so unglücklich aus. Sie wussten: Wir sind dem Untergang geweiht. Draußen standen die Gefängniswagen und dann wurden alle darin abtransportiert. Vordem habe ich zu meinem Mann gesagt: „Du musst mir versprechen, stark zu bleiben, musst dich für deine Familie, besonders für deine Kinder, gesund erhalten. Auch ich verspreche dir, stark zu bleiben.“ Er hat es mir versprochen. Ich sehe noch das höhnische, gehässige Lachen eines halbwüchsigen Mädchens, wie sich der traurige Wagen in Bewegung setzte. Den Anblick, wehrlose Menschen, unsere liebsten Männer, wie Schwerverbrecher abzuführen, nur weil wir Juden waren, kann ich nie, nie vergessen. Einer der Herren hatte nachts einen Selbstmordversuch gemacht, ist ihm aber missglückt.

Ohnmächtig blieben wir Frauen allein zurück, doch versuchte ich, alles zu erfahren, was mit unseren Männern geschehen würde. Nach tagelangen Erkundigungen kam uns zu Ohren, dass sie ins Konzentrationslager19 verschleppt seien. Ein Konzentrationslager ist ein Gefangenen-Camp. Die SS, Hitlers Soldaten, wurde ausgebildet, die Menschen, die in das Lager kamen, auf jegliche Art zu martern. Sie sind dort geschlagen worden, z.T. sind sie verhungert. Ich erinnere mich einer mir bekannten Familie, die in der Nähe eines Camps wohnte. Sie erzählten, man höre draußen die Leute schreien. So wurden sie misshandelt, unmenschlich. Viele konnten diese Strapazen nicht aushalten und sind gestorben. Das Wort „Konzentrationslager“ war nur ein Begriff gleich „Tod“. Hauptsächlich waren die Lager mit Juden angefüllt oder anderen politisch Verdächtigen. Jegliche Erzählung aus dem Lager von Menschen, die es lebend verlassen haben, wurde strengstens bestraft. Waren es denn noch Menschen, die z.T. entlassen wurden, nicht eher Skelette? Wer einmal im Lager war, hütete seine Zunge. Ich weiß, dass ein Vorgesetzter zu den Männern gesagt hat: „Ich warne euch, etwas von hier zu berichten, unser Arm reicht weit.“

Wir lebten noch und mussten essen, obgleich der Kummer uns sehr am Herzen nagte. Ich hatte kein Geld, keine Lebensmittel. Wie schon erwähnt, hatte man mir alle Wertgegenstände aus der Wohnung entführt, auch mein eigen erspartes Geld. Unser Bankguthaben war beschlagnahmt. Ich ging zu der Frau des Bankdirektors20, mit der wir früher im selben Haus gewohnt hatten und die uns gut kannte, um Rat zu haben. Sie war sehr reserviert und gab mir keine Auskunft. 20 Jahre hatten wir das Sparkassengebäude bewohnt, das 1914 neu erbaut worden war. Nach dem Regierungswechsel wurde uns dann die Wohnung gekündigt. Ich erinnere mich noch an das Püttbierfest, ein Pumpenfest, wo den Wasserpumpen gehuldigt wurde. Jedes Jahr vereinigten sich alle Nachbarn zu diesem Fest. In einer befreundeten Wirtschaft gab es zu essen, Getränke usw. Nachts Punkt 12 Uhr standen alle zusammen um die Pumpe, die wunderbar bekränzt war. Einer der Herren hielt eine Rede, zuletzt war noch mein Mann der Redner. Dann wurde gesungen und man kehrte in die Wirtschaft zurück. Man hielt hübsche Vorträge. Der beste Freund meines Mannes verfasste Gedichte dazu.21 Mein Mann sang Reutter-Couplets22, die er etwas geändert hatte. Es war eine Harmonie zwischen Jude und Christ. Bis zuletzt hatte ich Bilder, auf denen die lustigsten Momente festgehalten wurden. Sie waren zusammen fotografiert: der Bürgermeister, Handwerker, Kaufmann, der Jude, Evangelische, der Katholik.23 Ich bemühte mich, bei anderen etwas Geld zu leihen, vergebens. Mit einem Mal waren wir Juden, wir unschuldigen, braven Juden, aus dem Buch der Menschheit ausgestrichen. Banditen regierten das Land. Nach vielem Hin und Her hat mir zuerst die Ärmste unserer Gemeinde geholfen, die zufällig noch etwas Geld hatte. Eine kurze Zeit hat sie noch bei mir im Hause gelebt.

Wer war dieser Hitler? Er hat erlaubt, dass jeder Betrug gegen die Juden gelten sollte. Er hat in seinem Wahn die Deutschen zu Hass und Trug erzogen und die schlechten Instinkte, die in dem vermeintlich guten Deutschen schlummerten, wachgerufen. Das Schlechte war erlaubt. Zum Teil haben die Menschen seine verbrecherischen Ideen ausgeführt. Das ist es, was ich bis heute nicht begreifen kann. Dieser eine Mann hat die Seelen vergiftet und die Deutschen sind seinem Wahn verfallen. Dieser eine Mann hat sich selbst zum Gott gemacht, hat das Volk geführt und verführt. Er hat seine Person als Gruß personifiziert: „Heil Hitler“. Hat es das schon jemals in der Geschichte gegeben? Das Volk hat eine Mystik um ihn gewoben, durch seine Reden waren die Menschen fasziniert. Es waren ursprünglich nur Reden gewesen, aber Worte blutrünstiger Art. Das ist das Eigenartige dieses Mannes. Die Menschen sind von ihm bekehrt worden. Die schlechtesten Instinkte – Grausamkeit, Raub und Mord – sind von ihm bei den Menschen wachgerufen worden. Wie ist das deutsche Volk von den Demokraten vor diesem Regime gewarnt worden! Ich höre noch, wie die Schwiegermutter meiner Tochter mir erzählte, wie Dr. Ehlermann24 in Oldenburg eine Rede gehalten hat: „Ich warne euch vor diesem Regime, ihr wisst nicht, was ihr tut, in Jahrtausenden ist es nicht wieder gutzumachen.“

Ich sann und grübelte, morgens, mittags, nachts hatte ich keinen anderen Gedanken, als die Männer zu befreien. Ich telefonierte mit Varel, wo ein hoher Vorgesetzter der Nazis25 wohnte. Keine Antwort: „Mit Juden wird nicht gesprochen.“ Ich rief bei der Polizei an, beim Bürgermeister, beim Amtshauptmann. Keiner wusste etwas zu sagen.26 Ich rief in Wilhelmshaven bei einem ihn behandelnden Arzt an, ob er etwas für meinen Mann tun könne. Der Herr ließ sich sprechen, war aber zu ängstlich. Ich traf mit den jüdischen Frauen zusammen, die in gleicher Not waren wie ich. Jede versuchte, für ihren Mann etwas zu erreichen. Zwei von Geburt christliche Damen – die eine hatte einen jüdischen Kriegsverletzten geheiratet, der 1915 im Kriege ein Bein verloren hatte, die andere war 10 Jahre Hausdame bei einem jüdischen Herrn – teilten unser trauriges Los. Sie schämten sich vor uns, dass sie Christen waren.27 Wir trösteten uns gegenseitig.

Wir alle sahen aus wie Gespenster, da wir kaum Mahlzeiten zu uns nahmen. Doch halfen wir uns, wo es zu helfen gab. Wirre Gedanken durchkreuzten unseren Kopf. Eine uns befreundete Dame erhielt von ihrer Schwägerin Besuch aus Holland. Wir liefen alle zu ihr, um Gutes zu erfahren. Sie tröstete uns. Es wird noch alles gut werden, doch wie sich später herausstellte, wusste auch sie nichts. Heute weiß ich, dass diese Dame schon lange in Polen ist. Eine Schwester unserer Freundin, die auch mit uns zusammen war, hat sich später das Leben genommen.

Endlich gelang es mir, mich mit meinen verheirateten Kindern in Holland in Verbindung zu setzen. Die Schwiegermutter meiner Tochter sowie unsere Kinder28 selbst waren sehr aktiv, und so versuchten sie gemeinsam, eine Niederlassungsgenehmigung für uns in Holland zu erreichen. Auch ein Geschäftsfreund meines Mannes, der zufällig mit uns telefonierte, erhoffte durch seinen Einsatz für meinen Schwager und meinen Mann ihre Entlassung. Eines Tages schickte mir mein Schwiegersohn einen mit ihm befreundeten jüdischen Patienten29 mit dem Beweis der Niederlassungsgenehmigung für uns beide für Holland. Gemeinsam fuhr ich mit dem jüdisch-holländischen Herrn zu der hohen Gestapo nach Wilhelmshaven. In Wilhelmshaven angekommen, gingen wir direkt zum Gestapogebäude.30 Unten war ein großes, verschlossenes Gitter. Wir wurden gemeldet und erhielten Einlass, große Treppen gingen nach oben. Man führte uns in ein Büro. Nachdem wir unser Anliegen einem Deutschen vorgebracht hatten, wurden wir in ein daneben liegendes Bürozimmer gebracht. Dort saß ein hoher Offizier mit seiner Sekretärin. Ich fasste Mut und erzählte dem Herrn sämtliche Geschehnisse unserer Gemeinde, vom Synagogenbrand, von der Verhaftung meines Mannes, vom Silber- und Gelddiebstahl in unserem Hause, von dem verwilderten Zustand, wie die Deutschen das Geschäftskontor hinterlassen hatten. Ich hatte keine Angst. Ich sagte mir: „Was kann dir noch passieren?“ Der Offizier hörte sich alles an, äußerte sich nicht weiter. Dann fragte er den holländischen Herren: „Warum kommen Sie hierher, in welchem Verhältnis stehen Sie zu Frau Gröschler?“ Seine Antwort: „Ich bin ein Verwandter ihres Schwiegersohnes und wollte ihr persönlich die Aufenthaltsbewilligung für Holland für sie und ihren Mann bringen.“ Mich fragte der Offizier nach dem Namen des Geschäftsfreundes meines Mannes, der sich für unseren Herrn eingesetzt hatte. Der Name stimmte. Darauf der Offizier: „Ihr Mann und Ihr Schwager werden entlassen.“ Erleichtert ging ich fort. Wie es in meinem Innern vor Freude aussah, kann ich nicht sagen. Unser edler Freund ging mit mir fort, ich wusste ihm nicht genug zu danken. Ich bat ihn, zurück mit mir nach Jever zu fahren, doch er nahm den nächsten Zug nach Holland. Ich bin überzeugt, er war überfroh, als sein Zug wieder über holländischen Boden fuhr. Ich fuhr zurück nach Jever.

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